Todtstelzers Krieg Simon R. Green Owen Todtsteltzer #3 Owen Todtsteltzer wurde aufgrund falscher Anschuldigungen von der Kaiserin Löwenstein XIV geächtet. Doch die rücksichtslose Regentin hat einen Fehler begangen, als sie sich Todtsteltzer zum Feind machte. Owen setzt sich an die Spitze der Rebellion gegen den Eisernen Thron. Scharmützel auf der Nebelwelt, Haceldama und Virimonde machen deutlich, mit welch brutaler Gewalt die Kaiserin gegen die Rebellen vorgeht. Doch Owen und seine Kameraden stärkt dies nur in ihrem Ent-schluß, für die Gerechtigkeit zu kämpfen. Und diesmal lautet die Parole Krieg: keine Rückzieher, keine Gefangenen, keine Kompromisse… SIMON R. GREEN Über das abenteuerliche Leben des OWEN TODTSTELTZER Der Legende dritter Theil TODTSTELTZERS KRIEG KAPITEL EINS DER KAMPF UM DIE NEBELWELT Jedes Imperium braucht eine Müllkippe. Einen Ort irgendwo weitab in einer finsteren Ecke, wohin es die Tunichtgute und Querulanten abschieben kann. Imperatorin Löwenstein XIV hatte die Nebelwelt, einen kalten, unwirtlichen Felsen weit außerhalb der üblichen Verkehrswege und so gut wie ausschließlich von Verrätern, Kriminellen und Spitzbuben bevölkert, die von ihrem Glück verlassen worden waren – und von geflohenen imperialen Espern. Löwenstein tolerierte die Existenz der Nebelwelt in ihrem mit harter Hand geführten Reich nur aus einem Grund: Sie wußte stets, wo ihre faulen Äpfel zu finden waren. Natürlich hätte es Löwenstein vorgezogen, sie alle umzubringen; doch ihre Ratgeber waren weiser. Sie wußten, daß Verbannte insgesamt betrachtet weit weniger Schwierigkeiten bereiten als Märtyrer. Mit den Jahren jedoch wurde die Nebelwelt zu einem Zufluchtshafen für alle Arten von Rebellen und Gesetzlosen, und was einst als nützliche Müllkippe angefangen hatte, entpuppte sich zusehends als ein aufsässiger, giftiger Dorn in der Seite von Löwensteins Reich. Löwenstein gab Befehl, diesen Dorn zu entfernen – wenn es sein mußte, mit Gewalt –, nur um festzustellen, daß der Planet in der Zwischenzeit durch einen psionischen Schild geschützt wurde, erzeugt durch die Kräfte zahlreicher Esper – einen Schild, der mehr als ausreichte, um alles abzuwenden, was Löwensteins Imperiale Flotte auf ihn schleudern konnte. So kam es, daß die Nebelwelt – trotz aller finsteren Ränkeschmiede Ihrer Kaiserlichen Majestät – zum einzigen überlebenden Rebellenplaneten im gesamten Imperium wurde, zum einzigen Planeten, der sicher war vor Löwensteins Wut. Jedenfalls dachten seine Bewohner das. Die Sonnenschreiter II kam aus dem Hyperraum und fiel in einen Orbit um die Nebelwelt. Die lange schlanke Yacht glitzerte nur so vor Ortungsantennen, doch es gab nirgendwo in der Umgebung Imperiale Sternenkreuzer. Das Imperium hatte gelernt, einen Sicherheitsabstand einzuhalten. Es gab nur das einzelne, golden glänzende Schiff, das lautlos über einer kalten, eintönigen Kugel hing. Owen Todtsteltzer hatte es sich in der Lounge der Sonnenschreiter II auf einem Sessel bequem gemacht und war dankbar für die Ruhe. Und für die Tatsache, daß wenigstens im Augenblick – niemand auf ihn zu schießen versuchte . Owen hatte gelernt, die stillen Momente im Leben zu genießen – und wenn auch nur aus dem einen einzigen Grund, daß es so wenige davon gab . Er hatte die erste Sonnenschreiter bei einer Bruchlandung auf dem Planeten Shandrakor verloren, doch die Hadenmänner hatten das Schiff nach Owens Instruktionen rekonstruiert – um den Hyperraumantrieb herum, den sie aus dem Wrack der ursprünglichen Sonnenschreiter geborgen hatten. Es war ein ganz besonderer Hyperraumantrieb: Einer der Prototypen des neuen Motors, den das Imperium gegenwärtig in Massenproduktion zu fertigen versuchte, und der – für den Augenblick zumindest – ein ganzes Stück schneller war als alles, was das Imperium aufzubieten hatte. Theoretisch zumindest. Die Yacht selbst sah fast genauso aus, wie Owen sein altes Schiff in Erinnerung hatte, und sie war mit dem gleichen ursprünglichen Luxus und Überfluß ausgestattet – auch wenn die Hadenmänner der Versuchung nicht hatten widerstehen können, einige Dinge im Verlauf der Konstruktion zu verbessern. Und manchmal verdeutlichten ihre Vorstellungen von Verbes-serung nur, wie sehr sich die aufgerüsteten Männer von Haden bereits von der Menschheit entfernt hatten. Owen konnte mit Türen umgehen, die in soliden Wänden erschienen, sobald er sich näherte. Er mochte auch die Beleuchtung, die sich automatisch ein- und ausschaltete, ohne daß man es befehlen mußte; aber Kontrollen, die nur durch Gedankenbefehl funktionierten, führten wirklich zu weit. Nach ein paar Beinahe-Katastrophen, weil seine Gedanken im entscheidenden Augenblick abge-schweift waren, hatte sich Owen fest vorgenommen, die Steuerung des Schiffs in Zukunft den Schiffslektronen zu überlassen. Die Hadenmänner hatten auch einige Details der Innenaus-stattung falsch interpretiert – Kleinigkeiten, die Owen trotz allem beunruhigten: Böden, die aus keinem erkennbaren Grund schief waren oder sich wölbten, Sitze, die sich einer nicht ganz korrekten Körperform anpaßten, Lichter und Farben, die das menschliche Auge als unterschwellig unangenehm empfand. Owen hob seine neue linke Hand und betrachtete sie nachdenklich. Das goldene Metall der künstlichen Hand, das andere Geschenk, das die Hadenmänner ihm gemacht hatten, leuchtete warm im Licht der Schiffslounge. Owen hatte die Vorstellung zunächst nicht gefallen, in derart intimem Kontakt mit Hadenmann-Technologie zu stehen, doch nachdem er seine echte Hand in den riesigen Kavernen unter der Wolflingswelt im Kampf mit dem Grendel verloren hatte, war ihm keine andere Wahl geblieben, als das Geschenk dankbar anzunehmen. Es war eine gute Hand; stark und reaktionsschnell und praktisch unverwundbar, und wenn sie sich auch die ganze Zeit ein wenig kalt und nicht ganz wie seine eigene Hand anfühlte, so konnte er doch sehr gut damit leben. Owen streckte langsam die goldenen Finger und bewunderte ihre flüssige Eleganz. Er vertraute der Hand, weil er mußte; bei seinem neuen Schiff war das allerdings anders. Die Hadenmänner mochten für den Augenblick seine Verbündeten sein, doch ein Volk, das einst offiziell den Titel Feinde der Menschheit getragen hatte – und das mit gutem Grund –, mußte trotz aller Geschenke mit Mißtrauen betrachtet werden. Es bestand immer die Möglichkeit, daß die Hadenmänner ihre eigenen, dunklen Pläne verfolgten und die Mittel zu ihrer Umsetzung in Owens Schiff, in den Verbesse-rungen und vielleicht sogar in seiner künstlichen Hand verborgen hatten. Owen seufzte. Das Leben war nicht immer so kompliziert gewesen. Er betrachtete das Bild, das der Spiegel in der Wand hinter ihm zeigte: Ein Mann Mitte Zwanzig erwiderte brütend seinen Blick. Er war groß und langgliedrig mit dunklem Haar und noch dunkleren Augen. Ein Mann, der harte Zeiten hinter sich hatte – und wahrscheinlich noch härtere vor sich. Vor noch gar nicht so langer Zeit war Owen Todtsteltzer ein einfacher Gelehrter gewesen , ein unbedeutender Historiker, der nur für sich selbst von Bedeutung gewesen war. Dann hatte Löwenstein ihn ausgestoßen und ihn als Verbrecher gebrand-markt, und Owen war keine andere Wahl geblieben, als zum Rebell und Kämpfer zu werden. Die Hadenmänner hatten ihn Erlöser genannt, und die Untergrundbewegung nannte ihn die Letzte Hoffnung der Menschheit. Owen glaubte nicht ein Wort von alledem. Das Klimpern von Glas riß ihn aus seinen Gedanken, und Owen blickte liebevoll zu Hazel d’Ark hinüber, die auf der Suche nach etwas halbwegs Trinkbarem die Flaschen des Barschranks durchwühlte. Owen wußte, wie Hazel sich fühlen mußte. Die Hadenmänner hatten sich die größte Mühe mit den Nahrungssynthetisierern gegeben , doch die verschiedenen al-koholischen Getränke , die sie zustande gebracht hatten, schmeckten allesamt gleich abscheulich. Was Hazel allerdings nicht davon abhielt, sie zu trinken… wenngleich sie beharrlich versuchte, eine Mischung zu finden, die in ihr nicht den Drang erweckte, das Zeug auf der Stelle wieder auszuspeien. Owen bewunderte sie für ihre Geduld und wünschte ihr im stillen viel Glück. Was ihn jedoch persönlich betraf – er hätte die Flaschen noch nicht einmal angerührt, wenn ihm jemand eine geladene Pistole an den Kopf gehalten hätte. Owen betrachtete Hazel. Er bewunderte ihr schmales, spitzes Gesicht und die lange Mähne aus aufreizend rotem Haar. Nach konventionellen Maßstäben konnte man sie zwar nicht als schön bezeichnen, aber Hazel war in nichts konventionell, wenn sie etwas daran ändern konnte. Bevor sie zu den Rebellen stieß, war sie Piratin gewesen, Söldnerin, Klonpascherin – und das waren nur die Dinge, die sie zugegeben hatte. Sie war gut mit dem Schwert, doch sie zog Pistolen vor, und zwar so viele wie möglich. Und seitdem sie und Owen das gewaltige Lager voller Projektilwaffen im Arse-nal der Todtsteltzer-Fluchtburg entdeckt hatten, hatte Hazel es sich angewöhnt, sich so viele Pistolen und Gewehre samt Munition umzuhängen oder in die Taschen zu stopfen, wie sie nur tragen konnte. Owen glaubte, daß sie das schiere Gewicht als beruhigend empfand. Owen hingegen beunruhigte es eher – vor allem Hazels Neigung, recht leichtfertig mit den Sicherungshebeln umzugehen. Er seufzte leise und trommelte mit den Fingern auf die Lehnen seines Sessels, während er darauf wartete, daß die das Schiff steuernden Lektronen der Hadenmänner mit ihren Sicherheitsüberprüfungen fertig wurden. Rein technisch gesehen, vertraute er sein Leben dem störungsfreien Funktionieren der KIs an, welche die Hadenmänner eingebaut hatten – was absolut überhaupt nichts mit seinem Drang nach Sicherheit und Unversehrtheit zu tun hatte. Andererseits hatten Owen natürlich auch keine große Wahl. Irgend jemand mußte das Schiff steuern, und das war ganz bestimmt nicht Owen Todtsteltzer. Die zahlreichen verschiedenen Systeme eines Raumschiffs im Griff zu haben war harte Arbeit, die viel Geschick erforder-te, und wenn Owen sich nach Arbeit gesehnt hätte, wäre er nicht als Aristokrat zur Welt gekommen. Die ursprüngliche Sonnenschreiter war von der Familien-KI Ozymandius gesteuert worden, doch Ozymandius hatte sich als Verräter in den Diensten des Imperiums entpuppt. Er hatte geheime Kontrollworte benutzt, um Owen gegen seine Freunde kämpfen zu lassen, und Owen war keine andere Wahl geblieben, als Ozymandius zu zerstören obwohl die KI schon viel länger als alle anderen sein Freund gewesen war. Owen hatte auch seine Konkubine töten müssen, als sie auf Befehl des Imperiums versucht hatte, ihn zu ermorden. Man konnte einfach niemandem mehr trauen in diesen Tagen. Wahrscheinlich nicht einmal der Frau, die man liebte… Owen riß seinen Blick von Hazel los und konzentrierte sich in einer bewußten Anstrengung auf etwas anderes. Wenigstens hatten die Hadenmänner diesmal die Toiletten richtig konstruiert. Ihre früheren diesbezüglichen Experimente waren ein wenig… kläglich gewesen. Offensichtlich hatten Hadenmänner keinen Bedarf für derartige Unwichtigkeiten – was Owen ein gutes Stück mehr über die Natur seiner unsicheren Verbündeten verriet, als er eigentlich wissen wollte. Hazel schlenderte herbei, einen Drink in der Hand. Die Flüssigkeit war von einem blassen Blau, und sie sah aus, als wollte sie aus dem Glas klettern. Mit einem wenig damenhaften Grunzen ließ sich Hazel in den Sessel Owen gegenüber fallen und machte es sich bequem. Sie liebte Luxus, kleinen wie großen, und hauptsächlich deswegen, weil sie in ihrem Leben bisher so wenig davon gekannt hatte. Sie nahm einen großen Schluck von ihrem Drink, verzog das Gesicht – und schluckte trotzdem. Hazel ließ niemals ein volles Glas stehen. Es war eine Frage des Prinzips. Owen hatte ein Grinsen unterdrücken müssen, als Hazel es ihm erklärt hatte. Er hatte nicht gedacht, daß Hazel überhaupt wußte, was ein Prinzip war. Selbstverständlich hatte Owen genügend Verstand besessen, ihr das nicht laut zu sagen. »Und wie schmeckt das Zeug diesmal?« erkundigte er sich wohlgesonnen. »Glaub mir, du willst es gar nicht wissen«, entgegnete Hazel. »Die Tatsache, daß ich es überhaupt trinke, ist ein Zeichen, wie unendlich ich mich langweile. Wie lange denn noch, bis wir endlich landen können?« »Nicht mehr lange, Hazel. Freut Ihr Euch darauf, wieder in Eurem angestammten Revier zu sein?« »Nicht wirklich, Todtsteltzer. Nebelhafen ist gefährlich, heimtückisch und verflucht kalt, und das nur an den besseren Tagen. Ich kenne tollwütige Ratten mit blutenden Hämorrhoi-den, die freundlicher sind als ein durchschnittlicher Nebelweltler. Ich kann einfach nicht glauben, daß ich mich vom Untergrund dazu habe überreden lassen, in dieses Höllenloch zu-rückzukehren.« Owen zuckte die Schultern. »Wer sonst, wenn nicht wir, Hazel? Irgend jemand muß schließlich den Untergrund beim Rat von Nebelwelt repräsentieren, und Ihr und ich kennen die Lage vor Ort besser als jeder andere, den sie hätten schicken können. Laßt den Kopf nicht hängen, Hazel. Diesmal wird es bestimmt nicht so schlimm werden wie bei unserem letzten Besuch – glaube ich. Wir alle sind ein gutes Stück stärker und gerissener als beim letzten Mal.« Hazel runzelte die Stirn. »Jepp. Deswegen wollte ich sowieso mal mit dir reden. Als dieses Hologramm von einem Blutläufer mich in seinem Labor auseinandernehmen wollte, hast du ihn über Lichtjahre hinweg gepackt und in Stücke gerissen. Einfach durch die Kraft deiner Gedanken. Ich wußte nicht, daß du diese Art von Macht besitzt, Todtsteltzer. Ich jedenfalls hab’ sie nicht.« »Ich wußte ebenfalls nichts davon, Hazel, bis ich sie benötigte . Unser Aufenthalt im Labyrinth des Wahnsinns hat uns weit mehr verändert, als wir zuerst dachten. Wir sind anders geworden.« »Der Klang deiner Worte gefällt mir nicht, Todtsteltzer. Wo hören die Veränderungen auf? Sind wir noch Menschen? Oder enden wir am Schluß wie die Hadenmänner, so verschieden von dem, was wir einmal waren, daß wir genausogut Fremdwesen sein könnten?« Owen zuckte erneut die Schultern. »Ich weiß nicht mehr als Ihr. Ich denke, wir sind so menschlich, wie wir sein wollen. Unser Menschsein liegt schließlich nicht in dem begründet, was wir tun, sondern wie wir es tun. Außerdem bin ich noch gar nicht sicher, ob unsere Fähigkeiten von Dauer sind. Sie scheinen zu kommen und zu gehen. Wir hatten eine Verbindung untereinander, eine Art mentaler Kopplung zwischen all denjenigen, die das Labyrinth des Wahnsinns durchschritten haben, doch diese Verbindung ist gerissen, als wir uns getrennt haben und unserer eigenen Wege gegangen sind. Und jetzt kann ich nicht einmal mehr Euch spüren, Hazel. Spürt Ihr mich noch in Eurem Verstand?« »Nein«, antwortete Hazel. »Schon seit einiger Zeit nicht mehr.« »Das könnte mein Fehler sein«, sagte Ozymandius in Owens Ohr. »Vielleicht stört meine Anwesenheit die Schwingungen zwischen euch.« »Halt den Mund, Ozymandius«, murmelte Owen lautlos. »Du bist tot. Ich habe dich zerstört.« »Das hättest du wohl gerne. Nein, ich bin noch immer bei dir, um dich zu beraten und um dich durch die kleinen Widrigkei-ten des Lebens zu leiten, Owen.« »Die einzige kleine Widrigkeit, die mir gegenwärtig zu schaffen macht, ist diese maulende KI in meinem Ohr«, entgegnete Owen. »Würde ich einen guten Kyberdruiden kennen, hätte ich dich längst exorziert. Wer oder was auch immer du bist, ich brauche deine Hilfe nicht. Ich kann ganz hervorragend allein auf mich aufpassen.« »Also bitte, du undankbarer kleiner Rotz! Wären nicht meine Berechnungen gewesen, wärst du niemals lebendig von Virimonde entkommen, als deine eigenen Sicherheitsleute wegen des auf dich ausgesetzten Kopfgelds hinter dir her waren! Weißt du, was dein Problem ist? Du bist undankbar. Sieh doch zu, wie du allein zurechtkommst! Ich ziehe mich zum Schmollen zurück.« Hazel beobachtete Owen unauffällig. Der Todtsteltzer war wieder einmal unvermittelt still geworden. Seine Augen blickten in eine unbestimmte Ferne. Das machte er in letzter Zeit häufiger, und er schaffte es jedesmal, sie damit zu ärgern – und das, obwohl sie vom Beginn ihrer zögerlichen Partnerschaft an gewußt hatte, daß er ein zerstreuter, nachdenklicher Bursche war. Hazel hatte stets an die Tugend des schnellen Handelns geglaubt, vorzugsweise mit einem Schwert oder einer Pistole in der Hand. Mach zuerst sicherheitshalber alle nieder, und denk er s t später über die Konsequenzen nach – wenn überhaupt. Sie fragte sich, was Owen von ihr denken würde, sollte er herausfinden, daß sie wieder Blut nahm. Blut. Die gefährlichste der Menschheit bekannte Droge. Extrem suchterzeugend. Seelenzerstörend. Sie kam von den anderen aufgerüsteten Männern, den Wampyren, einer der weniger erfolgreichen Versuche des Imperiums, Terrortruppen zu erschaffen. In den Adern der Wampyre floß synthetisches Blut, das sie stärker, schneller und fast unbesiegbar machte. Schon ein paar Tropfen dieses Blutes konnten einen gewöhnlichen Menschen dazu bringen, sich – zumindest für eine Weile – genauso zu fühlen: gerissen und voller unerschütterlichem Selbstvertrauen. Und genau das brauchte Hazel in letzter Zeit mehr und mehr. Sie war schon einmal von dieser Droge abhängig gewesen, in ihren frühen Tagen auf Nebelwelt. Sie hatte die Sucht besiegt, obwohl der Entzug sie fast das Leben gekostet hätte. Seither hatte sie sich in beinahe jeder Hinsicht verändert, und nur wenige dieser Veränderungen gefielen ihr. Hazel hatte nie daran gedacht, Rebell zu werden. Sie hatte sich immer nur nach einem behaglichen Leben gesehnt, weiter nichts – nach einem Leben, frei von Hunger und von Gefahr. Ihre beste Zeit hatte sie als Trickbetrügerin gehabt. Damals hatte sie reiche Blutsauger um ihre unrechtmäßigen Gewinne erleichtert und war in der Nacht verschwunden, bevor ihre Opfer realisieren konnten, daß sie hinters Licht geführt worden waren. Hazel hatte noch nie in ihrem Leben für etwas anderes gekämpft als für Geld. Bar auf die Hand. Sie hatte noch nie jemand anderem als sich selbst vertraut. Und jetzt war sie eine der wichtigsten Figuren der neuen Rebellion. Sie war Zielscheibe für jeden verdammten Kopfgeldjäger und Meuchelmörder des Imperiums, und ständig wurde sie um ihre Meinung oder Vorschläge in Angelegenheiten gefragt, von denen sie nicht die geringste Ahnung hatte. Zum ersten Mal in ihrem Leben hingen Leben und Zukunft zahlloser Menschen von Hazels Aktionen und Entscheidungen ab – und das bedeutete jede Menge Streß und neue Unsicherheit. Alles , was sie tat oder unterließ, zog Konsequenzen nach sich. Es war unerträglich. Der Druck lastete schwer auf Hazel und verdrängte jeden klaren Gedanken. Bisweilen wurde er sogar derart stark, daß sie weder essen noch schlafen konnte . Und deshalb hatte sie auch Blut genommen. Zunächst nur einen Tropfen, und nur hin und wieder, wenn es gar nicht anders ging. Die Hadenmänner hatten ihr nur allzu bereitwillig so viel davon gegeben, wie sie wollte. Hazel hatte nicht gefragt, woher es stammte. Und jetzt stand sie im Begriff, auf Nebelwelt zu landen, wo Blut weit verbreitet war. Hazel wollte nicht wieder süchtig werden. Sie wollte nicht wieder zu einem Plasmakind werden, mit dem einen, alles be-herrschenden Gedanken an das Blut und der verzehrenden Sucht danach und dem Bewußtsein, daß es sie langsam zerstör-te. Hazel widersetzte sich allem, das Macht über sie auszuüben versuchte. Sie hatte die Sucht schon einmal besiegt , und sie würde es wieder tun. Schließlich benötigte sie nur hin und wieder einen Tropfen , weiter nichts. Nur eine klitzekleine Kleinigkeit , damit sie besser mit dem Streß fertig wurde. Sie blickte Owen an , und preßte die Lippen zusammen. Sie wußte , warum die mentale Verbindung zu Owen abgerissen war. Das Blut störte. Es trennte sie voneinander. Hazel konnte es ihm nicht sagen. Owen würde es nicht verstehen. Plötzlich wurde die Tür der Lounge geöffnet, und Hazels und Owens Mitrebellen auf dieser Mission spazierten herein. Sie redeten demonstrativ kein Wort miteinander, wie immer. Der neue Jakob Ohnesorg – Jung Jakob, wie Owen ihn bei sich nannte – war groß, muskulös und teuflisch hübsch anzusehen mit schulterlangem, dunklem Haar, das stets so aussah, als sei es eben erst dauergewellt worden. Owen mußte ihn nur ansehen, um sich klein und schwächlich zu fühlen. Ohnesorg steckte in einer silber-goldenen Kampfrüstung, als sei er darin geboren worden. Er erweckte den Eindruck von Kraft, Weisheit, Selbstvertrauen und Güte. Ein geborener Führer, ein charisma-tischer Kämpfer, ein Held aus den Legenden und insgesamt ein gutes Stück zu jung für das alles. Er war aus dem Nichts gekommen, genau in dem Augenblick, in dem die Rebellion jemanden wie ihn am dringendsten gebraucht hatte, und Owen traute ihm nicht über den Weg. Zusammen mit Hazel hatte Owen vor einiger Zeit in der Stadt Nebelhafen nach dem legendären Berufsrebellen Jakob Ohnesorg gesucht. Sie hatten einen gebrochenen alten Mann gefunden, der sich vor seiner Vergangenheit versteckt hatte, und sie hatten ihn aus seinem Loch gezerrt, weil die Rebellion den Namen brauchte, wenn schon nicht den Mann. Ohnesorg hatte neben ihnen gekämpft, war mit ihnen durch das Labyrinth des Wahnsinns gegangen, hatte sich zusammen mit ihnen einer gewaltigen Übermacht Imperialer Truppen gestellt und hatte gemeinsam mit Owen, Hazel und den anderen gesiegt. Owen hatte an ihn geglaubt, und er war stolz darauf gewesen, ihn einen Freund nennen zu dürfen. Der alte Mann hatte gerade angefangen, wieder zu der Legende von einst zu werden, als plötzlich dieser junge Riese auf der Bildfläche erschienen war und behauptet hatte, der echte Jakob Ohnesorg zu sein – mit dem Ergebnis, daß Owen nun nicht mehr wußte, wem von beiden er Glauben schenken sollte. Jung Jakobs letzte Schlacht hatte zwei Jahre zuvor auf der Winterwelt Vodyanoi IV stattgefunden. Wie üblich hatte er eine Menge Lärm veranstaltet und eine Armee aus Anhängern ausgehoben – allerdings nur, um einmal mehr in den Hintern getreten zu werden, als er sich plötzlich gut ausgebildeten Imperialen Stoßtruppen gegenübergesehen hatte. Seine Freunde hatten ihn im letzten Augenblick herausgeschmuggelt, und so war er nicht zugegen gewesen, als seine Anhänger niedergemetzelt oder gefangengenommen worden waren. Seine Rebellion hatte wieder einmal verloren, doch die Legende hatte überlebt. Hätte nur der alte Jakob Ohnesorg nicht dagegengehalten, daß alles gelogen gewesen sei. Nach seiner Version hatte er seine letzte Schlacht auf Eisfels geschlagen, und zwar schon mehrere Jahre zuvor, und seine Streitkräfte hatten eine schändliche Niederlage erlitten. Er selbst war von Imperialen Truppen gefangengenommen worden. Er hatte lange Zeit in Verhörzellen zugebracht, war gefoltert worden, und die Imperialen Hirntechs hatten ihn einer gründlichen Gehirnwäsche unterzogen, bis es seinen Freunden eines Tages gelungen war, in sein Ge-fängnis einzudringen und ihn zu befreien. Sie hatten ihn in die Sicherheit der Nebelwelt geschmuggelt, wo Jakob Ohnesorg seinen Namen und seine Legende aufgegeben hatte, um fortan als graues Gesicht in der Menge zu leben, versteckt und sicher vor Bittstellern oder Verantwortung. Allerdings… Jakob Ohnesorg, der Berufsrebell, war während dieser Zeit auf verschiedenen Welten aktiv in Erscheinung getreten. Also: Wer erzählte die Wahrheit, und wer log? Wer war der Echte Jakob Ohnesorg? Der ältere Jakob gab zu, daß die Imperialen Hirntechs während der Monate seiner Gefangenschaft ganze Arbeit an ihm geleistet und seine Gedanken und Erinnerungen manipuliert hatten, während sie seinen Willen Tag für Tag ein weiteres Stück brachen. Vielleicht hatten sie ihm auch nur eingeimpft, er sei der berühmte Berufsrebell gewesen; während er in Wirklichkeit nur ein Niemand war, den das Imperium geformt hatte, um als gebrochener Mann für Propagandazwecke herzuhalten. Wie bei so vielen anderen Dingen auch, so wußte Owen auch in diesem Fall nicht mehr, was er glauben sollte und was nicht. Wenigstens besaß der Alte Jakob mehr oder weniger das richtige Alter, während Jung Jakob aussah, als wäre er höchstens Ende Zwanzig. Er war in Höchstform. Zweifellos hätten die vielen Jahre der Rebellion einige Spuren bei ihm hinterlassen müssen, und zwar trotz seines – wie er behauptete – ausgiebigen Gebrauchs von Regenerationsmaschinen. Der Untergrund hatte sich außerstande gesehen, sich für den einen oder anderen zu entscheiden. Der Alte Jakob nahm für sich in Anspruch, der Mann mit der Erfahrung zu sein. Jung Jakob hingegen sah um einiges überzeugender aus. Also war der Untergrund darin übereingekommen, für den Augenblick beide Jakobs zu akzeptieren, und hatte sie auf getrennte Missionen geschickt, damit sie sich in Aktion beweisen konnten. Der Alte Jakob war beauftragt worden, den Bergbauplaneten Technos III aufzuwiegeln, und Hazel und Owen mußten wohl oder übel Jung Jakob in ihrem Team aufnehmen, trotz aller lautstarken Proteste. Jung Jakob hatte alles mit einem gotterge-benen Lächeln über sich ergehen lassen – was ihn in Owens Augen noch weniger vertrauenswürdig erscheinen ließ. Traue niemals einem Mann, der zuviel lächelt, hatte sein Vater stets gesagt. Das ist nicht normal. Nicht in diesen Tagen. Hazel war – wenn das überhaupt ging – noch weniger von dem Neuzugang beeindruckt als Owen, und sie hatte dem Mann auch ins Gesicht gesagt, daß sie ihn für einen Lügner und Hochstapler hielt. Jung Jakob hatte weiter gelächelt und geantwortet, daß er auf eine Gelegenheit hoffe, um ihr seinen Wert beweisen zu können. Hazel hatte daraufhin erwidert, daß sie ihm seinen Finger zu fressen geben würde, sollte er es wagen, sie auch nur anzurühren. Jung Jakob hatte wohlgelaunt gekichert und er-klärt, daß sie sehr hübsch sei, wenn sie wütend wäre. Owen hatte Hazel festhalten müssen, bis der rote Nebel vor ihren Augen wieder verschwunden war. Der andere Neuzugang war der Esper, der unter dem Namen Johana Wahn bekannt war. Sie hatte sich der Gruppe aufge-drängt, die zur Nebelwelt gehen sollte, mit der Begründung, daß ein Planet, der größtenteils von abtrünnigen Espern bewohnt wurde, sicherlich die letzte Manifestation des ÜberEspers Mater Mundi, die Heilige Mutter Aller Seelen, kennenlernen wollte, die eigenhändig die Große Flucht der Esper aus der Hölle des Wurmwächters ermöglicht hatte. Auf den ersten Blick war Johana durchaus unscheinbar. Sie war klein und blond und besaß ein blasses geisterhaftes Gesicht, das von riesigen blauen Augen beherrscht wurde. Sie hatte einen breiten Mund und ein merkwürdig beunruhigendes Lächeln, das mehr Zähne als Humor zeigte. Ihre Stimme klang rauh und wenig anziehend, denn ihre Kehle hatte unter dem fortwährenden Schreien in den finsteren Zellen von Silo Neun gelitten. Bevor der Untergrund Johana Wahn als Verdeckte Agentin in die Hölle des Wurmwächters gesandt hatte, war sie nichts weiter als ein ganz gewöhnlicher Esper gewesen. Nachdem Mater Mundi in sie gefahren war, hatte sie sich jedoch über Nacht zu einem Esper mit ganz außergewöhnlichen Kräften entwickelt. Ihre bloße Gegenwart brachte die Luft ringsum zum Knistern, ein Phänomen, das jeder in ihrer Nähe spürte. Einst war sie nichts weiter als eine schwache Telepathin gewesen, doch nun war sie im Besitz jeder nur denkbaren Esperfähigkeit – eine Begabung, die bisher als unmöglich gegolten hatte. Obwohl natürlich niemand so dumm war, etwas Derartiges in Gegenwart von Johana Wahn zu sagen. Die meisten Leute besaßen genug Verstand, ihr nicht einmal nahe genug dafür zu kommen. Johana Wahn respektierte Owen und Hazel wegen der Kraft, die sie der Rebellion gegeben hatten. Da ihre Persönlichkeit sich allerdings mitten im Satz von der relativ unauffälligen Johana in den wirklich beunruhigenden Wahn verwandeln konnte, fanden die beiden es andererseits äußerst schwierig, nähere Bekanntschaft mit ihr zu schließen. Immerhin bemühten sich Owen und Hazel um Nachsicht. Schließlich hatte Johana Wahn sich freiwillig gemeldet und in Silo Neun einsperren lassen. Die Hölle des Wurmwächters hätte jedermann zerbrechen können. Was half, war die Tatsache, daß Johana Wahn dem jungen Jakob Ohnesorg ebenfalls nicht traute. Vielleicht nur, weil sie den unablässigen Wettstreit im Heischen um Aufmerksamkeit mißbilligte. Sie verharrte kurz im Eingang und wartete, bis alle Augen auf sie gerichtet waren, dann stolzierte sie quer durch die Lounge zum letzten freien Sessel und ließ sich darauf nieder wie auf einem Thron. Jung Jakob blieb an der Tür stehen und verfiel in seine natürliche Heldenpose. Johana ignorierte ihn mit großartiger Nonchalance. »Wie lange noch, bis wir landen?« erkundigte sie sich eisig. »Jetzt fangt nicht auch noch so an«, beschwerte sich Owen. »Selbst mit dem neuen Antrieb dauert es noch eine gewisse Zeit, um von einer Seite des Imperiums zur anderen zu gelangen.« »Tatsächlich befinden wir uns schon seit gut zwanzig Minuten im Orbit um Nebelwelt«, raunte Ozymandius in seinem Ohr. »Was?« brauste Owen unhörbar auf. »Warum hat mir die KI des Schiffs nichts davon gesagt?« »Du hast sie nicht dazu aufgefordert. Schließlich ist sie nicht annähernd so komplex wie meine Wenigkeit.« »Und warum hast du mir nicht gesagt, daß wir angekommen sind?« »Wer, ich? Ich bin tot, oder hast du das vergessen? Es liegt mir fern, mich aufzudrängen, wenn meine Gegenwart nicht erwünscht ist.« Owen unterdrückte einen resignierten Seufzer und blickte zu seinen Kameraden. »Wie es scheint, befinden wir uns zur Zeit in einem Orbit um unser Ziel. Bisher wurden wir nicht beschossen. Hazel, Ihr kennt diese Leute am besten von uns. Öffnet einen Kommunikationskanal, und findet heraus, welchen exorbitanten Preis sie diesmal für unsere Landung verlangen.« Hazel grunzte wenig begeistert und stemmte sich aus ihrem Sessel . Sie ließ sich Zeit, und wegen des Gewichts der vielen Projektilwaffen, die sie ständig mit sich herumschleppte, kostete es sie einiges an Mühe. Ohne ersichtliche Eile schlenderte sie zu den Kommunikationsinstrumenten und setzte einen Ruf an die Raumüberwachung von Nebelhafen ab. Es gab nur eine einzige Stadt und einen einzigen Raumhafen auf der Nebelwelt, und das war Nebelhafen. Ein wilder und verwirrender Ort, den man nicht ohne Einladung besuchte – wie das Imperium bereits mehrmals schmerzhaft herausgefunden hatte. Während Hazel mehr oder weniger geduldig darauf wartete, daß ihr jemand antwortete, blickte sich Owen unter seinen Kameraden um. Er rutschte unruhig in seinem Sessel hin und her, als er bemerkte, daß Johana Wahn ihn schon wieder beobachtete. Ihr ESP ließ sie ahnen, welch gewaltigen Veränderungen in Owen und Hazel vorgegangen waren; doch es reichte nicht aus, um ihr zu verraten, was für Veränderungen das waren. Johana Wahn spürte, daß Hazel und Owen auf eine eigene Weise genauso mächtig waren wie sie selbst. Sie schien sich nicht schlüssig darüber zu sein, ob sie sich fürchten oder ob sie beeindruckt oder eifersüchtig sein sollte. Owen hatte ihre Unsicherheit ausgenutzt und sie dazu überredet, unauffällig den Geist Jung Jakobs zu sondieren und herauszufinden, was sich darin verbarg. Zu ihrer beider Überraschung hatte sich herausgestellt – jedenfalls soweit es Johanas ESP betraf –, daß es keinen Geist gab. Das bedeutete entweder, daß Jung Jakob eine erstaunlich mächtige mentale Abschirmung besaß, oder… Bisher waren sie nicht auf ein entweder oder gestoßen, das ihnen auch nur halbwegs gefiel. Owen wich Johanas brennendem Blick aus. Als gäbe es nicht schon genug Dinge, die ihm Sorgen bereiteten. »Hallo, Sonnenschreiter II«, erklang eine müde Stimme aus dem Lautsprecher des Kommunikationspaneels . »Hier spricht John Silver, Leiter der Raumüberwachung von Nebelhafen. Hört auf, Eure Ausrüstung zu justieren. Ich habe das visuelle Signal schon wieder verloren. Wenn ich den Piraten in die Finger kriege, der uns diese Schrottsysteme verkauft hat! Ich werde ihm einen doppelten Palstek in die Beine knoten! Willkommen zu Hause, Hazel! Stiehl keine wertvollen Sachen und versuch, diesmal niemand Wichtigen umzubringen, ja? Du kannst dein Schiff landen, wo immer du willst; der Raumhafen ist so gut wie leer. Heutzutage gibt es nicht gerade viel Verkehr in unsere Richtung.« »Verstanden«, antwortete Hazel. »Laß den Kopf nicht hängen, John. Wir haben den Frachtraum gerammelt voll mit wirklich netten Überraschungen für dich, als da wären: mehr Projektilwaffen und Munition und Sprengstoff, als du dir mit Gewalt sonst wo hinstecken kannst. Genau das, was du brauchst, um Imperialen Spionen und Störenfrieden dein Mißvergnügen deutlich zu machen .« »Du hast schon immer die hübschesten Geschenke mitgebracht, Hazel«, erklang die Antwort. »Und jetzt entschuldige mich, wenn ich dich alleine lassen muß. Ich bin völlig erledigt. Ich habe alle Hände voll zu tun. Die Präkos spielen seit einigen Tagen verrückt. Sie bestehen darauf, daß irgend etwas wirklich Übles in der Luft liegt. Wir können keine Einzelheiten aus ihnen herausholen, die auch nur halbwegs Sinn ergeben… Wie auch immer, ich habe einfach nicht die Zeit, um mich mit einem einzelnen Schiff abzugeben, ganz gleich, ob verbündet oder nicht.« »Für den Fall, daß er es vergessen hat, Hazel«, sagte Owen. »Erinnert ihn doch bitte daran, daß wir diesmal nicht als flüchtige Vogelfreie zu ihm kommen. Wir repräsentieren den Untergrund von Golgatha.« »Schon gut, ich hab’s gehört«, sagte Silvers Stimme. »Ich hätte mir gleich denken können, daß du an Bord bist, Todtsteltzer. Wir haben den Ärger nicht vergessen, den du bei deinem letzten Besuch verursacht hast. Irgend jemand wird dich empfangen, sobald du unten bist, aber erwarte bitte keine Kapelle oder den Goldenen Schlüssel der Stadt. Wir mußten die Instrumente verpfänden, und der Schlüssel hat sowieso nie ge-paßt. Ich wünsche einen angenehmen Aufenthalt. Fangt keinen Ärger an. Und jetzt geht aus der Leitung, damit ich mich wieder auf meine Arbeit konzentrieren kann.« »Ist das eine typische Begrüßung auf der Nebelwelt?« erkundigte sich Johana Wahn nach einem Augenblick des Schweigens. »Ja«, erwiderte Hazel. »Unten in Nebelhafen haben sie Paranoia zu einer Kunstform erhoben. Mit gutem Grund übrigens. Es gibt eine lange Geschichte von schmutzigen Tricks und At-tentaten. Das Imperium versucht seit Ewigkeiten, Nebelhafen zu unterminieren oder den Raumhafen zu zerstören. Vor noch gar nicht allzu langer Zeit haben sie eine Esperseuche in Gang gesetzt, indem sie einen getarnten Überträger namens Typhus-Marie einschleusten. Eine Menge Leute mußten sterben, bevor die Sicherheit Typhus-Marie endlich entdeckte und festnageln konnte. Nebelhafen hat sich immer noch nicht ganz davon erholt.« »Sie haben eine Menge durchgemacht«, stimmte Jung Jakob zu. »Wir müssen sie trotzdem von der Wichtigkeit unserer verschiedenen Missionen hier überzeugen. Wir brauchen die Nebelwelt auf unserer Seite, wenn wir die Rebellion gewinnen wollen. Ihre Esper werden eine unbezahlbare Unterstützung sein.« »Ich bin wirklich froh, daß jemand die Zusammenhänge im Auge behält«, sagte Owen. »Allerdings würde ich an Eurer Stelle nicht so hochtrabend daherreden, sobald Ihr unten seid. Die Nebelweltler mögen keine langen Reden.« »Das mußt du ja am besten wissen«, bemerkte Hazel von der Seite. Die Landeplätze waren praktisch verlassen. Nur eine Handvoll Schmugglerschiffe drängten sich an einem Ende zusammen, als suchten sie gegenseitig Schutz. Die Sonnenschreiter II schwebte gemütlich auf einen freien Platz, der mit flackernden Kero-sinlampen markiert worden war. Der große Kontrollturm aus Stahlglas war das einzige Zeichen hochentwickelter Technologie auf dem gesamten Raumhafen. Seine hellen elektrischen Lichter schimmerten durch den dichten, wabernden Nebel. Owen ließ die Schiffslektronen alles mit Ausnahme der Sicherheitssysteme abschalten, dann führte er die Gruppe aus dem Schiff und auf das Landefeld. Die Kälte schnitt ins Fleisch wie ein Messer, als die Rebellen durch die Luftschleuse ins Freie traten. Sie brannte auf den Gesichtern und in den Lungen, während sie sich in ihre dicken Felle kuschelten. Owen schlug seine behandschuhten Hände gegeneinander und schaute sich um. Er hatte ganz vergessen, wie sehr er diese Welt haßte, und nicht allein wegen der Kälte. Der Nebel war so früh am Morgen am dichtesten, kurz vor dem Aufgang der blassen Nebelweltsonne. Hinter dem Kontrollturm schimmerten schwach die Lichter der Stadt durch sich ständig bewegende graue Wände aus Dunst. Jung Jakob blickte sich gelassen um. Er besaß nicht einmal den Anstand, zusammen mit den anderen vor Kälte zu zittern. »Hier hat sich kein Stück verändert«, erklärte er. »Kälter als die Brust einer Hexe und noch ein ganzes Stück weniger einladend.« »Und wann warst du das letzte Mal hier?« erkundigte sich Hazel, ohne sich die Mühe zu machen, ihr Mißtrauen zu verbergen. »Ich war im Laufe der Jahre mehrere Male hier«, erwiderte Ohnesorg leichthin. »Genaugenommen hat hier alles angefangen. Vor gut zwanzig Jahren versuchte ich, hier eine Armee für die Rebellion auf Lyonesse auszuheben. Ein paar tapfere Seelen schlossen sich unsrer Sache an, doch das war auch schon alles. Ich war damals eben noch nicht so bekannt. Ich hoffe nur, daß ich diesmal mehr Erfolg habe.« »Aufgepaßt«, sagte Johana Wahn. »Irgend jemand nähert sich. Insgesamt drei Leute. Einer davon ist ein Esper. Ich kann seinen Verstand nicht sondieren.« »Versuch’s lieber erst gar nicht!« ermahnte Hazel. »Wir sind auf einer Esperwelt. Mentale Privatsphäre wird hier sehr ernst genommen. Ärgere die Mächte, die hier am Werk sind, und wir scharfen deine Überreste in einer Zwangsjacke nach Hause. Von jetzt an benutzt du dein ESP nur noch, wenn man dich dazu einlädt. Hast du verstanden?« Johana Wahn zuckte die Schultern. »Ich kann nichts dafür, wenn ihre Bewußtseine die ganze Zeit über geradezu nach mir schreien. Und die Mächte, die hier am Werk sind, täten besser daran, mir nicht in den Weg zu kommen. Ich wurde durch die Mater Mundi transformiert, und es gibt nicht ein einziges Be-wußtsein in dieser Stadt, das mir ebenbürtig wäre .« »Damit wäre ja alles klar«, sagte Hazel eisig. »Von jetzt an hältst du dich von uns anderen ein gutes Stück entfernt. Auf diese Weise sind wir wenigstens halbwegs in Sicherheit, wenn dir irgend etwas Schreckliches zustößt was auch immer es sein mag.« Eine beißende Erwiderung Johana Wahns blieb ihnen erspart, weil plötzlich drei Gestalten aus dem wabernden Dunst traten. Es gab keine Vorwarnung. Im einen Augenblick sahen sie nichts als Nebel, dann stapften zwei Männer und eine Frau auf sie zu. Owen empfand diese Tatsache als milde beunruhigend. Normalerweise warnten ihn seine Kräfte rechtzeitig vor Ereignissen wie diesen. Warum, verdammt noch mal, funktioniert es einmal, und dann wieder nicht? Er bemerkte, daß sich seine Hand automatisch auf das Schwert an der Seite gesenkt hatte, und er beeilte sich, sie wieder von dort wegzunehmen. Zwei der Neuankömmlinge kannte er aus den Dateien, die man ihm beim letzten Briefing gezeigt hatte. Der Raumhafendirektor Gideon Stahl war ein kleiner dicker Mann mit ruhigen, beson-nenen Augen und einem beunruhigend zynischen Lächeln. Er war gut gekleidet, wenn auch ein wenig schlampig – einige seiner Felle sahen aus, als hätten sie die Räude. Er war angeblich Mitte Vierzig, doch er sah mindestens zehn Jahre älter aus –, so wie man halt aussah, wenn man für einen Raumhafen wie Nebelhafen verantwortlich war. Die Frau neben Stahl hinterließ einen weitaus tieferen Eindruck bei den Wartenden. Sie wirkte ausgesprochen einschüchternd. Trotz der bitteren Kälte war sie nicht in Felle gehüllt, sondern trug lediglich die offizielle Uniform eines Imperialen Investigators. Owen spürte, wie sich Hazel neben ihm versteifte. Er betete, daß sie genug Vernunft besaß, um keinen Streit vom Zaun zu brechen. Investigator Topas war mittelgroß, schlank, attraktiv – und sie besaß kältere Augen, als es der Nebel jemals sein würde. Ihr kurzgeschorenes dunkles Haar verlieh ihren klassischen Gesichtszügen eine ruhige, ästhetische Aura, doch ihre blauen Augen waren die Augen eines Killers. Allein ihr Anblick reichte, um Owen langsam und ganz, ganz vorsichtig zurückweichen zu lassen. Er wollte sie auf gar keinen Fall provozieren. Owen hatte von Investigator Topas ge-hört. Jeder hatte schon von ihr gehört. Topas war eine Sirene und der einzige Esper, der je zum Investigator ausgebildet worden war. Als sie beschlossen hatte, das Imperium hinter sich zu lassen und zur Nebelwelt aufzubrechen, hatten sie ihr eine ganze Kompanie Wachen hinterhergeschickt, insgesamt fünfhundert Mann. Topas hatte sie mit einem einzigen Lied getötet, als sich ihr ESP und ihre Stimme zu einer tödlichen Macht vereint hatten, die weder aufgehalten noch abgelenkt werden konnte. In Nebelhafen war sie offiziell nur Sergeant bei den Stadtwachen, doch sie hatte auch ihren alten Titel behalten. Hauptsächlich deswegen, weil sich kein Dummer gefunden hatte, der deswegen mit ihr Streit anfangen wollte. In einer Stadt voller gefährlicher und verzweifelter Individuen gab es niemanden, der sich mit Topas anlegte. Nachdem Owen sie jetzt mit eigenen Augen sah, konnte er auch verstehen warum. Ohne sich umzusehen spürte er, wie Hazel neben ihm sich unruhig rührte wie ein Hofhund, der einen Rivalen roch, und so beschloß er, die Dinge ins Rollen zu bringen, bevor sie eine Gelegenheit hatten, ihm aus der Hand zu gleiten. »Direktor Stahl und Investigator Topas«, begann er freundlich. »Sehr liebenswürdig von Euch, zu so früher Stunde persönlich herzukommen und uns in Empfang zu nehmen. Darf ich Euch meine Begleiter vorstellen…?« »Wir wissen, wer Ihr seid«, unterbrach ihn Stahl. »Und wärt Ihr nicht die offiziellen Repräsentanten der Untergrundbewegung Golgathas, hätte ich Euch niemals eine Landeerlaubnis erteilt. Ihr macht immer nur Scherereien, und noch mehr Ärger ist wirklich das letzte, was Nebelhafen im Augenblick gebrauchen kann. Nur zu Eurer Information: Wir sind nicht früh auf-gestanden – wir waren noch gar nicht im Bett. Seit dem Erscheinen der Typhus-Marie und dem Ausbruch der Esperseu-chearbeiten die Überlebenden unter uns in Doppelschichten, um die Dinge irgendwie wieder ans Laufen zu bringen. Außerdem habe ich das Chaos nicht vergessen, das Ihr bei Eurem letzten Besuch hinterlassen habt, Todtsteltzer. Ich sollte Euch die Schäden in Rechnung stellen.« »Wenn ich die Höhe der Landegebühren bedenke, dachte ich eigentlich, sie seien schon enthalten«, erwiderte Owen mit unerschütterliche Ruhe. »Und bevor du fragst«, mischte sich Hazel ein, »nein, du kriegst diesmal nicht deine inoffiziellen zehn Prozent Anteil an der Fracht, die wir mit uns gebracht haben. Meinetwegen kannst du jetzt lamentieren . Aber wundere dich nicht, wenn ich dir deswegen an die Kehle springe.« »Gebt nichts um ihre Worte«, beschwichtigte Owen. »Sie ist nun mal, wie sie ist. Aber was, wenn ich fragen dürfte, verschafft uns die Ehre, von Eurem Komitee in Empfang genommen zu werden, wo wir doch allesamt persona non grata sind? Höflichkeit gegenüber dem Untergrund?« »Nein«, entgegnete Topas. Ihre Stimme war so kalt wie ein Grab. »Wir wollten einen Blick auf den legendären Rebellen Jakob Ohnesorg werfen, weiter nichts.« Ohnesorg bedachte sie mit seinem gewinnendsten Lächeln und verbeugte sich formell. »Erfreut, Eure werten Bekanntschaften zu machen, Investigator und Direktor. Seid versichert, daß ich alles in meiner bescheidenen Macht Stehende unternehmen werde, um dafür zu sorgen, daß unsere geschäftlichen Angelegenheiten leise und unauffällig über die Bühne gehen. Wir werden alle Beteiligten nicht mehr als unbedingt erforderlich stören. Allerdings mache ich keinen Hehl aus meiner Absicht, die Nebelwelt in den Untergrund und auf die Seite der Rebellion zu bringen. Man hat Euch viel zu lange allein in der Kälte gelassen . Es ist wirklich an der Zeit, daß wir alle zusam-menstehen und den Kampf zum Imperium tragen.« »Großartig«, sagte Stahl ungerührt. »Noch ein verdammter Held . Hier kommen eine Menge Helden durch, wißt Ihr? Sie kommen und gehen, und niemals ändert sich irgend etwas wirklich.« »Ah«, entgegnete Jung Jakob und grinste breit. »Aber sie sind nicht Jakob Ohnesorg.« Zu Owens Überraschung erwiderte Direktor Stahl das Grinsen. Unvermittelt trat Johana Wahn vor. »Für den Fall, daß irgend jemand es vergessen haben sollte: Ich bin auch noch da«, sagte sie laut. »Ich repräsentiere die Weltenmutter, Unsere Mutter Aller Seelen.« »Na, herzlichen Glückwunsch«, sagte Topas. »Ihr seid schon die zehnte diesen Monat. Es scheint der beliebteste Trickbetrug von ganz Nebelhafen zu sein. Vielleicht deswegen, weil so viele Leute verzweifelt daran glauben möchten. Wärt Ihr nicht bei Jakob Ohnesorg, hätte ich Euch schon aus Prinzip ins Ge-fängnis geworfen. Also haltet Euch besser bedeckt und macht keinen Ärger, ja? Habt Ihr mich verstanden?« Plötzlich erstrahlten Johanas Augen mit einem inneren Licht wie die Fernscheinwerfer eines Wagens. Freie Energie knisterte und funkte in der Luft ringsum, als sich die Macht in ihr regte. Ihre Gegenwart erfüllte die Luft wie die Flügel eines riesigen Vogels und drängte alle Umstehenden zurück. Irgend etwas lebte tief in Johana Wahn, mächtig und gewaltig und vielleicht nicht ganz menschlich, und es stand im Begriff zu erwachen. Gideon Stahl zog eine Pistole. Investigator Topas öffnete den Mund, um zu singen. Owen und Hazel warfen sich auf Johana Wahn und drückten sie zu Boden. Die Macht in ihr schlug nach den beiden – und wurde von einer noch größeren Macht zur Seite gelenkt und besiegt einer Macht, die noch nicht fokussiert und trainiert war, die aber trotzdem mehr als ausreichte, um einen einfachen Esper zum Verstummen zu bringen, der nur im Vorübergehen von etwas Gewaltigem be-rührt worden war. Die Gegenwart zerbrach wie ein Spiegel und war verschwunden. Owen und Hazel rollten Johana Wahn aufs Gesicht und drückten es in den Dreck des Landeplatzes. Owen setzte sich auf sie – nur für den Fall – und grinste Stahl und Topas an. »Achtet nicht auf Johana«, erklärte er. »Das Reisen bekommt ihr nicht. Wenn Ihr sie erst näher kennengelernt habt, ist sie nur noch unausstehlich.« Stahl schnaufte und steckte die Pistole wieder ein. Topas runzelte die Stirn. »Irgend etwas ist geschehen«, sagte sie. »Ich habe kaum etwas bemerkt, aber Ihr beide habt irgend etwas mit ihr angestellt. Hinter Euch steckt mehr, als auf den ersten Blick zu erkennen ist, Owen Todtsteltzer.« »Das wird schon so sein«, gab Stahl ihr recht. »Willkommen auf Nebelwelt, Leute. Haltet diese Esperfrau an der kurzen Leine, oder ich werde ihr einen Maulkorb anlegen lassen. Der Mann, der hinter uns im Nebel lauert, nennt sich John Silver. Er ist gegenwärtig der Leiter der Raumhafensicherheit. Er wird während Eures Aufenthalts ein Auge auf Euch werfen und sich die größte Mühe geben, Euch Ärger zu ersparen, wenn er jemals eine Pension sehen möchte. Ich wünsche Euch alles erdenkliche Glück bei der Erledigung Eurer Aufträge und falls etwas schiefgeht, dann will ich nichts darüber hören. Macht Euch nicht die Mühe, vorbeizukommen und Auf Wiedersehen zu sagen, bevor Ihr wieder verschwindet. Und jetzt, wenn Ihr uns bitte entschuldigen würdet? Topas und ich haben noch andere Dinge zu erledigen.« Und mit diesen Worten machten die beiden auf dem Absatz kehrt und verschwanden im alles verhüllenden Nebel. John Silver starrte ihnen wütend hinterher, stieß einen unflätigen Fluch aus und vollführte eine noch unflätigere Geste, bevor er zu den Neuankömmlingen trat und sich mit knappem Lächeln vorstellte. »Nehmt es nicht persönlich«, sagte er. »Das machen sie mit jedem so. Meist aus gutem Grund, aber so ist die Nebelwelt nun einmal. Hallo Hazel! Schön, dich wiederzusehen.« »Auch schön, dich zu sehen, du alter Pirat!« entgegnete Hazel grinsend. Sie trat vor und umarmte Silver . Owen war fast schockiert. Hazel gehörte normalerweise nicht zu der Sorte Mensch, die sich mit anderen verbrüderte . Er nutzte die Gelegenheit, um den Kopf des Leiters der Raumhafensicherheit genauer zu betrachten. Silver war groß und breitschultrig, mit scharfen, jugendlichen Gesichtszügen, und er steckte in einem dicken, exquisit geschneiderten Pelzmantel, über dem der purpurne Umhang der Esper wehte. An der Hüfte baumelte ein einfaches Kurzschwert in einer abgenutzten Lederscheide, doch Owen zweifelte nicht eine Sekunde daran, daß der Mann unter seinen Fellen auch noch ein oder zwei Pistolen versteckt hatte. Er sah jedenfalls genau nach der Sorte aus. Außerdem schien er Hazels Umarmung über die Maßen zu genießen. Schließlich lösten sich die beiden wieder voneinander und traten zurück, wobei sie sich noch immer an den Händen hielten. »Du siehst gut aus, Hazel! Hast du in letzter Zeit jemand Interessanten ausgeraubt?« »Du wärst überrascht. Wie zur Hölle kommt ein Gauner wie du in die Position des Sicherheitschefs? Das ist ja genauso, als würde man einen ausgehungerten Wolf dazu abkommandieren, auf eine Herde Schafe aufzupassen.« Silver zuckte liebenswürdig die Schultern. Hazels Worte schienen ihn in keinster Weise beleidigt zu haben. »Selbst der wildeste Wolf muß sich irgendwann einmal niederlassen und ruhiger werden, Hazel. Wir haben eine Menge guter Leute während der Esperseuche verloren, einschließlich der meisten meiner Vorgesetzten. Die Typhus-Marie hat sie innerhalb weniger Tage alle getötet oder ihnen die Gehirne ausgebrannt, und als es uns schließlich gelungen ist, sie zu überwältigen, war ich der einzige, der noch auf den Beinen stand. Zu jedermanns Überraschung – einschließlich meiner eigenen – gehe ich seit dieser Zeit einer guten und größtenteils ehrlichen Arbeit nach. Hauptsächlich wahrscheinlich deswegen, weil so viel zu tun ist, daß ich weder die Zeit noch die Energie übrig habe, um auf krumme Gedanken zu kommen.« »Ich hätte nie gedacht, derartige Worte aus deinem Mund zu hören«, lachte Hazel. Sie blickte zurück und bemerkte, daß Owen sie und Silver nachdenklich musterte. »Owen, steig von Johana runter und komm her. Ich möchte dir einen alten Freund vorstellen.« Owen erhob sich vorsichtig. Johana blieb, wo sie war. Ihr Atem ging rasselnd. Hazel grinste. »Owen, darf ich dir einen alten Freund und Vertrauten vorstellen? Ex-Pirat, Ex-Trickbetrüger, Ex-Rechtsanwalt und Ex-Gelegenheitstransvestit, wenn das Geld knapp wurde. Im allgemeinen ein guter Kamerad, auf den man sich verlassen kann, und zwar auf beiden Seiten des Gesetzes. Ganz besonders dann, wenn man einen Schwindel plant. Der beste Lügner mit dem unschuldigsten Gesicht, das ich je gesehen habe.« »Deswegen bin ich in meinem gegenwärtigen Job auch so gut«, erklärte Silver gelassen. »Man braucht einen Lügner, um einen anderen zu entdecken. Und ich kenne sämtliche Tricks, weil ich die meisten davon zu meiner Zeit selbst benutzt habe.« »Das ist ja alles sehr charmant und schelmisch«, warf Jung Jakob ein, »aber wir haben Geschäfte zu erledigen.« »Oh, selbstverständlich«, entgegnete Silver. »Wartet nur ein wenig ab. Ich besorge Euch eine Karte und ein paar Wachen.« »Nicht nötig. Ich finde mich auf Nebelwelt ganz gut alleine zurecht. Und ich habe noch nie Leibwächter benötigt.« Jakob Ohnesorg verbeugte sich höflich in Richtung der anderen – sogar in Richtung Johana Wahns –, dann stapfte er selbstbewußt in den Nebel davon. Sein gerader Rücken strahlte nur so vor Kraft und Energie. »Beeindruckend«, sagte Silver. »Ich hoffe nur, er wird nicht überfallen und ausgeraubt. Wir würden nie das Ende der Geschichte erfahren.« »Auch ich habe einen Auftrag zu erledigen«, sagte Johana Wahn eisig. Als den anderen bewußt wurde, daß sie aufgestan-den war, ohne daß es jemand bemerkt hatte ruckten ihre Köpfe überrascht herum Sie sah noch gefährlicher aus als zuvor, wenn das überhaupt möglich war. »Und ich brauche ebenfalls keine Karte und keine Leibwächter. Bleibt mir einfach nur aus dem Weg.« Sie stolzierte davon, und der Nebel teilte sich vor ihr, als könne er ihr gar nicht schnell genug aus den Füßen kommen. Hinter ihr schloß sich der Dunst wieder, und rasch war sie verschwunden . Hazel blickte ihr hinterher und schüttelte langsam den Kopf . »Wißt ihr, ich hätte schwören können, daß wir als Team arbeiten sollten.« »Macht Euch keine Gedanken deswegen«, sagte Owen. »Ich persönlich fühle mich viel sicherer, nachdem die beiden weg sind. Was ihre geistige Gesundheit angeht, würde ich für keinen von beiden meine Hand ins Feuer legen.« »Du kapierst wieder mal gar nichts, wie üblich«, entgegnete Hazel. »Gott allein weiß, wieviel Schaden Johana Wahn anrichtet, wenn niemand auf sie aufpaßt. Außerdem wollte ich in Jung Jakobs Nähe bleiben in der Hoffnung, daß sich jemand findet, der weiß, ob es der echte Jakob ist oder nicht.« »Ich dachte, Ihr wärt Euch sicher, daß er ein Betrüger ist?« »Bin ich auch. Aber ein Beweis wäre trotzdem schön, oder?« »Wir können ihm jederzeit hinterher.« »Nein, können wir nicht, Todtsteltzer. Dann würde er nämlich mit Sicherheit wissen, daß wir ihm nicht über den Weg trauen.« »Ich hasse derartige Diskussionen«, maulte Owen. »Wir können den lieben langen Tag argumentieren und drehen uns am Ende immer noch im Kreis. Wir könnten uns schließlich auch in ihm irren, oder?« »Halt, einen Augenblick mal!« unterbrach John Silver die beiden. »Wollt Ihr damit etwa sagen, daß Jakob Ohnesorg möglicherweise nicht Jakob Ohnesorg ist?« »Wir sind nicht sicher«, antwortete Hazel. »Sagen wir einfach, wir haben unsere Zweifel.« »Aber er sieht echt aus!« widersprach Silver. »Jeder Zoll ein Krieger und ein Held!« »Ganz genau«, pflichtete Owen ihm bei. »Er ist zu perfekt. Zu gut, um echt zu sein.« »Paranoia«, erklärte Hazel und grinste . »Ein Spiel für die gesamte Familie und jeden, der vielleicht zusieht. Laßt uns machen, daß wir aus der Kälte kommen und ein warmes Plätzchen finden, bevor mir die Zehen abfallen.« Owen warf einen anerkennenden Blick in die Runde, während er in einen tiefen bequemen Sessel neben einem offenen Kaminfeuer sank. Sie befanden sich in John Silvers Privatquartier. Der Ex-Pirat und Chef der Sicherheit lebte nach Nebelwelt-Maßstäben in ziemlichem Luxus. Es gab eine ganze Reihe von Hightech-Einrichtungen, einschließlich elektrischer Beleuchtung (selten auf einer Welt, die jede Form von Hightech an der Imperialen Blockade vorbeischmuggeln mußte, was sowohl mit gewaltigen Kosten für den Käufer als auch für den Liefe-ranten verbunden war). Entweder war Silvers Posten extrem gut bezahlt, oder Silver hatte seine frühere Piratentätigkeit doch noch nicht völlig aufgegeben. Hazel nahm Owen gegenüber Platz und starrte verdrießlich in die flackernden Flammen. Sie wirkte müde und erschöpft und älter, als sie in Wirklichkeit war. Irgend etwas bereitete ihr Kopfzerbrechen, doch Owen hütete sich davor, sie nach dem Grund dafür zu fragen. Sie würde ihm nur den Kopf abbeißen. Sie würde mit ihm reden, wenn sie soweit war, oder niemals. Silver gab sich Mühe in seiner Rolle als Gastgeber. Er sorgte sich um das Wohl seiner Gäste, plapperte fröhlich über belanglose Dinge und drückte Owen und Hazel große Becher mit Glühwein in die Hände. Hazel hielt ihren Becher einfach nur fest und machte keinerlei Anstalten zu trinken; also nahm Owen schon aus Höflichkeit einen tiefen Schluck. Normalerweise haßte er Glühwein, doch dieser hier schmeckte nicht schlecht. Er war scharf gewürzt und hinterließ eine angenehme Wärme, während er durch die Kehle hinabrann und sich im Magen ausbreitete . Owen nickte Silver dankbar zu, der seinen Gästen gegenüber Platz genommen hatte und sie nun erwartungsvoll anblickte. »Erzählt uns doch, was sich in letzter Zeit zugetragen hat«, bat Owen, nachdem eine lange Pause deutlich gemacht hatte, daß Hazel nicht daran dachte, ein Gespräch anzufangen. »Bei unserem letzten Besuch waren wir nicht lange genug hier, um Fragen zu stellen. Was hat es mit diesem Gerede von einer Typhus-Marie und der Esperseuche auf sich?« »Das Imperium schleuste sie ein«, erzählte Silver . »Sie hatte eine extrem starke Esperbegabung und war darauftrainiert und konditioniert, andere Esper zu töten. Überall in der Stadt starben unsere Leute mit ausgebrannten Gehirnen . Wo sie vorüberkam, erwachten Kinder weinend aus dem Schlaf und wollten sich nicht wieder beruhigen lassen. Sie tötete eine Menge gute Leute, bevor wir sie endlich besiegten. Das Imperium hatte geplant, mit ihrer Hilfe so viele Esper zu töten, daß der psionische Schirm zusammenbrechen würde, der die Nebelwelt schützt, um auf diese Weise die Imperiale Flotte heranzubringen. Doch glücklicherweise ist es nicht so weit gekommen. Obwohl wir verdammt nah dran waren…« »Was geschah nach ihrer Gefangennahme?« erkundigte sich Hazel, ohne vom Feuer aufzublicken. »Wir konditionierten die Typhus-Marie neu«, berichtete Silver. »Es war schließlich nicht ihre Schuld. Sie war von Imperialen Hirntechs programmiert worden. Jetzt arbeitet sie für unsere Seite.« »Und Ihr vertraut ihr?« fragte Owen. »Das Imperium könnte ihr jede Menge Kontrollworte ins Unterbewußtsein eingepflanzt haben. Sie würde nichts von ihrer Existenz ahnen, bis jemand sie aktiviert.« »Es gab tatsächlich eine ganze Menge. Wir fanden sie alle. Das hier ist eine Esperwelt, Todtsteltzer. Die Tiefen des menschlichen Geistes können keine Geheimnisse vor uns verbergen.« »Wie groß ist der Schaden, den sie angerichtet hat?« fragte Owen. »Sehr groß. Wir sind immer noch mit den Aufräumarbeiten beschäftigt. Viele Leute in wichtigen Positionen sind hirnver-brannt oder ums Leben gekommen, und lange Zeit herrschte Chaos in der Stadt, weil die verschiedensten Gruppierungen um die Kontrolle kämpften. Das Schlimmste ist vorüber, dem Herrn sei Dank, aber es gibt nach wie vor Machtkämpfe und Rangeleien. Achtet auf das, was hinter Eurem Rücken vorgeht, solange Ihr Euch hier aufhaltet. Es gibt eine ganze Reihe von Leuten, die Euch beide allein schon deswegen umbringen würden, damit nicht jemand anderes zu Euch Kontakt aufnehmen kann.« »So«, sagte Hazel und richtete den Blick schließlich doch noch auf John Silver. »Und du, John? Wie geht es dir sonst so?« »Ich kann nicht klagen, Hazel«, antwortete Silver und blinzelte überrascht, weil sie so unvermittelt das Thema gewechselt hatte. »Mir scheint, du kannst wirklich nicht klagen. Diese Bude hier ist verdammt noch mal besser als das Rattenloch unten an den Docks, in dem du dich früher immer verkrochen hast. Nein, warte, wenn ich’s genau bedenke: Ratten hätten sich niemals dort versteckt, aus Angst, sich eine Infektion zu holen.« »Leiter der Raumhafensicherheit ist ein echter Traumjob, Hazel«, erklärte Silver leichthin. »Solange ich die Dinge im Griff habe und alles friedlich ist, blickt mir niemand allzu genau auf die Finger. Also springe ich auf der einen Seite ziemlich hart mit der Sorte Leute um, zu der ich früher auch gehört habe, und auf der anderen schaffe ich hier und da eine klitzekleine Kleinigkeit auf die Seite, um meine Pension aufzubes-sern. Es ist ein hartes Leben, aber irgend jemand muß es tun.« »Habt Ihr denn keine Angst, Direktor Stahl könnte es herausfinden?« erkundigte sich Owen. Er war nicht sicher, ob er schockiert sein sollte oder nicht. Schließlich befand er sich in Nebelhafen. »Ausgerechnet Direktor Stahl? Er ist noch ein größerer Gauner als ich! Nein, die einzige, auf die ich aufpassen muß, ist Investigator Topas. Wenn sie jemals irgend etwas gegen mich in die Finger bekommt, werde ich nicht lange genug überleben, um vor ein Gericht gestellt zu werden. Tatsächlich werde ich auf dem ersten Gravschlitten in die Berge fliehen, den ich mir ausleihen oder stehlen kann, sobald ich auch nur den Verdacht hege, sie könnte eine Spur haben. Wie eine derart ehrliche Haut jemals auf der Nebelwelt landen konnte, ist mir ein ausgesprochenes Rätsel.« »Also gehört sie zur gesetzestreuen Sorte?« erkundigte sich Hazel unschuldig. Silver erschauerte, und das sicher nicht wegen der Kälte. »Diese Frau ist so aufrichtig, daß sie sogar ihrem eigenen Schatten mißtraut. Zum Glück ist sie in der Regel hinter dicke-ren Fischen als mir her. Ich will Euch mal eine Vorstellung von der Sorte Mensch geben, zu der Investigator Topas gehört. Hat einer von Euch das Loch in der Rückseite ihres Umhangs bemerkt?« »Jepp«, antwortete Owen. »Ein Disruptorstrahl. Ich nehme an, Investigator Topas hat den Umhang nicht getragen, als es entstand?« »Richtig angenommen. Ihr Ehemann trug ihn. Irgend jemand schoß ihm aus unmittelbarer Nähe in den Rücken. Topas fand den Killer und jagte ihn. Sie tötete ihn langsam, doch sie trägt den Umhang noch immer, und sie hat das Loch niemals reparieren lassen. Welche Art von Mensch muß man sein, um so zu reagieren?« »Kalt, besessen und unbeirrbar«, antwortete Hazel. »Mit anderen Worten: ein Investigator.« »Laßt uns über etwas anderes reden«, sagte Silver, »bevor ich anfange, ständig über die Schulter nach hinten zu sehen und bei unerwarteten Geräuschen vor Schreck zusammenzuzucken. Jakob Ohnesorg und diese Johana Wahn sind auf eigene Faust aufgebrochen. Aus welchem Grund seid Ihr hier? Oder ist es Euch nicht gestattet, mit mir darüber zu reden?« »Es ist kein großes Geheimnis«, erklärte Hazel. »Ich bin hier, um im Namen des Untergrunds von Golgatha mit dem Rat in Verbindung zu treten. Eigentlich hätte jemand anderes kommen sollen, doch die Pläne wurden in letzter Minute geändert, und ich war die einzige, die nicht schnell genug in Deckung ging. Also wurde ich als Freiwillige ausgespäht. Owen ist hier, um ein altes Netzwerk von Informanten zu reaktivieren, das sein Vater vor einigen Jahren in Nebelhafen aufgezogen hat. Du kannst verschwinden, sobald du soweit bist, Todtsteltzer. Ich werde eine Zeitlang bei John Silver verbringen, bevor ich aufbreche.« Owen runzelte die Stirn. »Ich dachte, wir wollten zusammenbleiben? Ihr kennt Nebelhafen ein gutes Stück besser als ich, Hazel.« »Und was soll ich für dich tun, Aristo? Soll ich dir vielleicht die Hand halten?« »Ihr habt selbst gehört, was John Silver gesagt hat«, beharrte Owen stur. »Wir haben keine Freunde dort draußen, und… unsere Verbindung ist unzuverlässig.« »Ich kann selbst auf mich aufpassen«, entgegnete Hazel. »Und das kannst du auch.« Owen verzog das Gesicht. Er war nicht überzeugt. Es machte wenig Sinn, sich aufzuteilen, wo sie beide so viele alte und neue Feinde hatten, die man ständig im Auge behalten mußte. Einen Augenblick lang überlegte er, ob Silver vielleicht in der Vergangenheit mehr als nur ein Freund für Hazel gewesen war, und ob das vielleicht der Grund war, warum Hazel ihn offensichtlich loswerden wollte; doch das schien unwahrscheinlich. Die Körpersprache der beiden war zu verschieden. Andererseits würde Hazel allerdings auch nicht mit sich reden lassen, solange sie in dieser Stimmung war, und ebensowenig machte es Sinn, sich darüber zu ärgern. Hazel war schon immer besser in Wutanfällen gewesen als Owen. Das war alles so würdelos. Außerdem sah Hazel gar nicht gut aus. Sie schwitzte von der Nähe des Feuers, und sie hatte die Lippen zu einem dünnen, häßlichen Strich zusammengepreßt. Owen schob seinen Sessel zurück und erhob sich. »Schön, ganz wie Ihr meint. Wenn Ihr lieber Eure Zeit verschwendet, indem Ihr mit einem alten Freund ein Schwätzchen haltet, anstatt mit unserem Auftrag voranzukommen, dann bitte sehr. Ich kann Euch nicht daran hindern.« »Verdammt richtig, Todtsteltzer, das kannst du nicht. Und sprich gefälligst nicht in diesem Ton mit mir, ja? Ich kenne meine Pflicht, aber ich werde mich auf meine Weise darum kümmern, und wann und wie ich Lust dazu habe.« »Wir haben nur wenig Zeit, Hazel. Oder habt Ihr vielleicht vergessen, wie dicht uns das Imperium auf den Fersen sitzt?« »Nichts habe ich vergessen! Kümmere du dich um deinen eigenen Kram, Todtsteltzer, und ich kümmere mich um meinen! Verschwinde endlich, Aristo! Dein Anblick macht mich ganz krank. Ich brauche dich nicht!« »Nein«, erwiderte Owen. »Ihr habt noch nie jemanden gebraucht, Hazel.« Er verbeugte sich knapp in John Silvers Richtung und stapfte aus dem Raum. Er verzichtete darauf, die Tür hinter sich zuzu-schlagen. Das Schweigen dauerte noch einige Zeit an, während Hazel feindselig auf die geschlossene Tür starrte, und Silver sie nachdenklich musterte . Er hatte Hazel schon in zahlreichen Stimmungen erlebt, doch diese hier war eindeutig neu . Wie es schien, bedeutete dieser Todtsteltzer ihr etwas – oder wenigstens seine Meinung über sie . Silver hoffte, daß sie sich nicht in den vogelfreien Aristokraten verliebt hatte . Hazel hatte noch nie Glück in Herzensangelegenheiten gehabt. Am Ende war stets sie es gewesen, die draufgezahlt hatte. Er zuckte zusammen, als sich Hazel unvermittelt nach ihm umwandte. Ihre Augen funkelten wütend. »Wir waren immer gute Freunde, oder nicht, John?« »Selbstverständlich waren wir das, Hazel. Wir sind ein gutes Stück Wegs zusammen gegangen.« »Ich brauche deine Hilfe, John.« »Ich bin für dich da. Alles, was du willst, Hazel. Sag es nur.« »Ich brauche Blut, John. Nur ein oder zwei Tropfen. Weißt du, wo ich es kriegen kann? Kennst du eine… diskrete Quelle?« »Wenn das alles ist?« »Ja, John. Das ist alles.« Silver schürzte die Lippen. »Der Todtsteltzer weiß nichts davon, oder?« »Nein, er weiß es nicht, und du wirst es ihm auch nicht verraten, John. Er würde es nicht verstehen.« »Ich bin nicht sic her, ob ich es verstehe, Hazel. Ich dachte, du hättest diesen Mist hinter dir? Ich habe dir die Hände gehalten, den Schweiß von der Stirn gewischt und den Hintern ab-geputzt, als du diesen Dreck das letzte Mal aus deinem Kreislauf geschwitzt hast. Ich will das nie wieder tun müssen. Es hätte dich um ein Haar umgebracht, Hazel.« »Ich rede nicht davon, wieder ein Plasmakind zu werden, John! Diesmal habe ich es unter Kontrolle. Ich brauche nur hin und wieder einen Tropfen, weiter nichts. Du hast ja keine Ahnung, was ich mitgemacht habe, John. Du weißt nicht, unter welchem Druck ich stehe.« »Ich habe gesagt, daß ich dir helfen würde, Hazel. Wenn du Blut brauchst – ich kann es besorgen. Jeder von uns hat das Recht, auf seine Weise vor die Hunde zu gehen. Als Sicherheitschef habe ich Zugang zu sämtlichen beschlagnahmten Drogen von gelandeten Schiffen. Niemand wird ein paar Tropfen vermissen.« Er schwieg einen Augenblick. Dann: »Bist du ganz sicher, Hazel?« »O ja. Ich brauche etwas in meinem Leben, an das ich mich klammern kann.« Jung Jakob Ohnesorg schlenderte ohne Eile durch die Straßen von Nebelhafen. Niemand belästigte ihn. Irgend etwas an seiner unbeirrbaren Haltung und seiner kalten Zuversicht schien die Leute davon zu überzeugen, daß es besser sei, auf Distanz zu bleiben. Das – und die Energiepistole, die er offen in einem Holster an der Hüfte trug. Nur die wirklich Mächtigen und Einflußreichen in Nebelhafen hatten Zugang zu Energiewaffen. Ohnesorg schlenderte ins Händlerviertel. Er suchte nach einem alten Freund. Ratsmitglied Donald Royal war in jüngeren Tagen einer der größten Helden der Nebelwelt gewesen , und auch heute noch, im Herbst seines Lebens, war er ein einflußreicher Mann. Nach einer Weile blieb Ohnesorg vor einem rußgeschwärzten alten Gebäude in einem Teil des Viertels stehen, der entschieden bessere Zeiten gesehen hatte. Donald Royal konnte es sich leisten, praktisch überall in der Stadt zu leben, doch er hatte schon immer hier gelebt, und er dachte gar nicht daran umzu-ziehen. Ein sturer alter Mann. Ohnesorg klopfte höflich an die Tür. Lange Zeit geschah gar nichts; dann bemerkte er, daß er durch einen Spion gemustert wurde. Er grinste charmant in Richtung Tür und achtete darauf, die Hände möglichst weit entfernt von den Waffen zu halten. Die Tür schwang auf, und eine atemberaubende junge Frau empfing ihn. Soweit es Ohnesorg betraf, hatte er sie noch nie im Leben gesehen; aber er lächelte – für alle Fälle. Sein Gegenüber war groß gewachsen für eine Frau und besaß einen Lockenkopf von kastanienbraunem, schulterlangem Haar. Ihr Gesicht war ein wenig zu breit, um wirklich schön zu sein, doch die vorspringenden Wangenknochen verliehen ihr eine rauhe Sinnlichkeit. Sie bewegte sich wie eine Kämpferin. Ihr Blick war fest, und ihre Mimik verriet keinerlei Emotion. Ihre Kleidung war funktionell, aber gut geschnitten, und an der Hüfte trug sie eine Energiewaffe. Ohnesorg bemerkte, daß ihr rechter Daumen unmittelbar hinter der Waffe in den Gürtel gehakt war. Er räusperte sich höflich. »Guten Abend. Ich suche nach Donald Royal. Ich dachte, er würde noch immer hier wohnen.« »Das tut er auch, aber ich weiß nicht, ob er jetzt gestört werden will. Ich bin seine Partnerin. Ich lasse niemanden ohne triftigen Grund zu ihm.« »Und ich bin Jakob Ohnesorg. Ich bin gekommen, um mit Donald über unsere Pläne und die neue Rebellion gegen das Imperium zu reden.« Plötzlich lächelte die Frau, und ihr Blick wurde warm. »Das ist… ein triftiger Grund. Mein Name ist Madeleine Skye. Kommt doch herein. Verzeiht meine Vorsicht, aber hier kommen nicht viele Legenden vorbei.« Sie trat zurück, und Ohnesorg verbeugte sich höflich, bevor er an ihr vorbei in einen schummrigen, engen Flur trat. Er hängte seinen Mantel und den Schwertgurt an einen Haken, ohne daß sie ihn darum gebeten hätte, und erlaubte Skye, ihn durch den Flur in ein gemütliches Wohnzimmer zu führen. Flackernde Öllampen bildeten die einzige Lichtquelle und tauchten den Raum in einen gelblichen weichen Schein. Dicke, ledergebundene Buchrücken reihten sich an drei Wänden. Die vierte war mit antiken, abgenutzten Klingen dekoriert: von schlanken Dolchen bis hin zu einer gewaltigen zweihändigen Axt. Unter den Waffen knisterte ein kleines Feuer zufrieden in einem Kamin, der von einer Fassung aus schwarzem Holz mit massiv geschnitzten gotischen Figuren umgeben war. Auf dem Kaminsims stand eine Uhr; das Zifferblatt war in den Bauch eines aus Holz geschnitzten Hundes mit bösem Gesicht einge-lassen. Die Augen und die dicke rote Zunge der Kreatur rollten im Takt der Sekunden hin und her. Neben dem Feuer saß ein alter Mann mit geistesabwesendem Blick in einem großen gepolsterten Ohrensessel. Früher einmal mußte er groß und kräftig gewesen sein, doch die gewaltigen Muskeln aus der Jugend waren im Alter dahingeschmolzen, und jetzt hingen seine Kleider lose an ihm herab. Lange Strähnen von dünnem, weißem Haar umrahmten ein hageres, knochiges Gesicht. Madeleine Skye stellte sich beschützend dicht neben dem Sessel. »Wir haben einen Besucher, Donald«, sagte sie. »Das sehe ich selbst, Frau. Ich bin schließlich weder blind noch senil. Ich nehme an, es handelt sich um eine wichtige Persönlichkeit, sonst hättest du ihn ja wohl abblitzen lassen, oder?« Er blickte Ohnesorg nachdenklich an und runzelte die Stirn . »Ich kenne Euch von irgendwoher. Ich vergesse niemals ein Gesicht.« Dann hellte sich sein Antlitz auf, und er sprang aus seinem Sessel. »Gütiger Gott, das ist doch völlig unmöglich! Jakob? Bist du das, Jakob Ohnesorg? Ich will verdammt sein, er ist es!« Der Alte grinste breit und ergriff Jung Jakobs ausgestreckte Hand. Sie verschwand in den faltigen Händen des Alten. »Jakob Ohnesorg, wie er leibt und lebt! Was zur Hölle machst du hier?« »Alte Freunde besuchen«, erwiderte Ohnesorg und lächelte. »Es ist lange her, Donald.« »Das kannst du laut sagen, verdammt lange. Setz dich, Jakob! Setz dich, und laß dich ansehen.« Ohnesorg zog den Ohrensessel auf der anderen Seite des Kamins zu sich heran und nahm darin Platz. Höflich gab er vor, nicht zu bemerken, wie Donald mit ein wenig Hilfe von Madeleine Skye vorsichtig wieder in seinen Sessel sank. Royal musterte Ohnesorg mit wachen, abwägenden Augen. Nichts an ihm wirkte jetzt noch geistesabwesend, als hätte ihm die Erinnerung an seine eigene Vergangenheit neue Kraft verliehen. Madeleine trat zurück, um den beiden ein wenig Privatsphäre zu gewähren. Sie blieb an der Tür stehen und lehnte sich lässig gegen den Rahmen. Es war Ohnesorg nicht entgangen, daß ihre Hand noch immer in der Nähe der Waffe schwebte. Er lächelte Donald herzlich an. »Ein schönes Zuhause hast du hier«, sagte er. »Gemütlich. Die Uhr gefällt mir.« »Tatsächlich?«, erkundigte sich Donald. »Ich kann das verdammte Ding nicht ausstehen. Es war das Lieblingsstück meiner verstorbenen Frau, und ich kann mich einfach nicht dazu durchringen, es wegzuwerfen. Du siehst gut aus, Jakob. Es ist bestimmt zwanzig Jahre her, seit wir uns zum letzten Mal gesehen haben. Es war hier in diesem Raum, in den gleichen verdammten Sesseln. Du warst damals ein Unruhestifter, wie er im Buche steht. So jung und so lebendig und voller Hoffnung und Wut, daß ich dir nicht widerstehen konnte. Ich gab dir alles Gold, das ich besaß, und die Namen von jedem, von dem ich glaubte, er würde dir zuhören. Ich wäre selbst mitgekommen, aber ich war schon damals ein wenig zu alt und gebrechlich für derartige Abenteuer. Du warst ein begnadeter Redner, Jakob, und ich konnte noch nie einem überzeugenden Spitzbuben widerstehen.« »Du warst einer der ersten, die wirklich an mich geglaubt haben«, sagte Ohnesorg. »Ich werde das nie vergessen. Aber es war gut, daß du nicht mit mir nach Lyonesse gegangen bist. Die Dinge liefen von Anfang an gründlich schief. Ich war jung und unerfahren. Ich hatte noch viel zu lernen. Wir feierten ein paar kleine Siege, doch in der entscheidenden Schlacht wurden wir zurückgeschlagen und überrollt. Ich rannte um mein Leben, während ringsherum gute Männer und Frauen starben, um mir Zeit zu verschaffen. Trotzdem haben wir der Eisernen Hexe das Fürchten gelehrt, wenn auch nur für einen Augenblick.« »Ich habe von Lyonesse gehört«, mischte sich Madeleine vom Eingang her ein. »Eure Armee wurde aufgerieben. Jeder zehnte Einwohner wurde wegen Unterstützung von Hochverrat gehängt, und die Überlebenden mußten für die nächsten zehn Jahre doppelte Steuern entrichten. Man könnte sagen, daß Lyonesse vor Eurer Rebellion besser dran war.« »Achte nicht auf das, was Madeleine sagt«, entschuldigte sich Donald. »Sie glaubt, daß Optimismus und Tugend Luxus sind. Madeleine ist erst glücklich, wenn sie die dunkle Seite der Medaille sehen kann. Sie hat mich überredet, meinen Ruhestand aufzugeben und mit ihr eine Detektei zu eröffnen. Ich steuere meinen Verstand bei, und Madeleine kümmert sich um die bösen Buben. Ich muß sagen, ich fühle mich seither so lebendig wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Ich bin kein Typ für den Ruhestand. Madeleine besteht noch immer darauf, meinen Leibwächter zu spielen, obwohl ich immer noch mit einem Schwert umgehen kann.« »Ich bin sicher, sie versteht ihr Geschäft«, sagte Ohnesorg. »Donald, ich muß mit dir reden.« »Natürlich mußt du das, Jakob. Wir haben eine ganze Menge zu erzählen. Es ist zweiundzwanzig Jahre her, daß wir uns das letzte Mal gesehen haben. Ich habe deine Fortschritte verfolgt – jedenfalls so gut das von hier aus ging. Neuigkeiten brauchen ihre Zeit, um bis nach Nebelwelt vorzudringen. Du hast dich kein Stück verändert, Jakob. Im Gegensatz zu mir. Wie bist du so jung geblieben? Du warst Ende Zwanzig, als wir uns ken-nenlernten, und du siehst aus, als seist du in all den Jahren keinen einzigen Tag älter geworden.« »Das verdanke ich einer ganzen Reihe längerer Aufenthalte in den Regenerationsmaschinen«, antwortete Ohnesorg. »Und ein wenig kosmetischer Chirurgie. Die Menschen wollen keinem alternden Rebellen folgen. Es ist wohl kein Geheimnis, daß ich zu mehreren Gelegenheiten ziemlich viel abbekommen habe. Nach außen hin mag ich ja vielleicht jung wirken, doch meine Knochen kennen die Wahrheit. Und ich bin immer noch ich. Immer noch der berufsmäßige Rebell, bereit, beim kleinsten Anlaß für Wahrheit und Gerechtigkeit zu kämpfen. Meine Ziele sind immer noch die gleichen wie vor zwanzig Jahren, Donald. Und genau wie vor zwanzig Jahren brauche ich auch heute wieder deine Hilfe.« Donald seufzte und lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Ich furchte, meine Möglichkeiten sind in diesen Tagen mehr als eingeschränkt, Jakob. Ich bin zwar noch immer im Stadtrat, aber Politik interessiert mich eigentlich nicht mehr, und das heißt: Mein Einfluß ist so gut wie nicht existent. Hin und wieder mische ich mich noch in die Geschäfte ein; aber nur um die anderen zu erinnern, daß ich noch am Leben bin, und ich versuche, in meinem Beruf als Privatdetektiv meinen eigenen kleinen Beitrag für Wahrheit und Gerechtigkeit zu leisten, doch um ehrlich zu sein: Das wirkliche Wichtige in der Stadt geht einfach an mir vorbei. Ich kann dir Namen und Adressen von einigen Leuten geben, die dir vielleicht zuhören werden, doch mein eigener Name ist nicht mehr die Empfehlung wie noch bei deinem ersten Besuch vor zwanzig Jahren. Die Zeiten haben sich geändert, Jakob, und nicht zum Besseren . Nebelhafen ist ein kälterer und weitaus zynischerer Ort geworden als der, den du und ich in Erinnerung haben.« »Du kannst noch immer vor dem Rat der Stadt für mich bürgen«, entgegnete Jung Jakob. »Es scheint einige Unsicherhei-ten zu geben, ob ich wirklich derjenige bin, für den ich mich ausgebe. Wenn du öffentlich meine Identität bestätigen könntest, würde mir das sehr helfen.« »Kein Problem«, erwiderte Donald. »Ich mag vielleicht nicht mehr so jung sein wie einst, aber weder meine Augen, noch mein Gedächtnis haben darunter gelitten. Du bist Jakob Ohnesorg, daran besteht nicht der geringste Zweifel. Ich würde mein Leben darauf verwetten.« »Nicht so voreilig«, mischte sich Madeleine von der Tür her ein. »Aussehen ist nicht alles. Du hast selbst gesagt, daß er viel zu jung scheint. Woher sollen wir wissen, daß er kein Klon ist?« »Ein Gentest wird diese Frage beantworten«, antwortete Jakob Ohnesorg. »Unglücklicherweise haben wir hier in Nebelhafen keinen Zugang zu derartigen Technologien«, entgegnete Madeleine. »Angenehm, nicht wahr?« »Still, Madeleine!« ermahnte sie Donald. »Es ist ganz einfach, den Mann zu überprüfen. Es gibt ein paar Dinge, die nur Jakob Ohnesorg und ich wissen können . Dinge, über die wir gesprochen haben und Leute, die wir damals kannten. Stimmt’s, Jakob?« »Selbstverständlich. Laß mich einen Augenblick nachdenken. Es ist schon so lange her.« Ohnesorg schürzte die Lippen und stützte das Kinn auf die Faust. »Ich erinnere mich an einige der Leute, zu denen du mich geschickt hast. Da gab es einen Lord Durandal, den Abenteurer. Oder Graf Eisenhand von den Marschen. Ist einer der beiden noch in der Gegend?« »Nein«, antwortete Donald. »Sie leben beide nicht mehr. Eisenhand ist ertrunken, als er versuchte, ein Kind zu retten, das in den Autumnusfluß gefallen war. Für einen alten Mann war er ein verdammt guter Schwimmer. Er hat das Kind gerettet, doch der Schock des eiskalten Wassers war zuviel für ihn. Er wußte, daß es ihn das Leben kosten würde, und er ist trotzdem hineingesprungen. Das war ein Mann! Durandal verschwand in der Dunkelzone, auf irgendeiner verdammten Suche nach der verlorenen Welt der Wolflinge. Ich habe keine Ahnung, ob er sie jemals gefunden hat. Er ist nie wieder zurückgekehrt .« »Eine Schande«, sagte Ohnesorg. »Ich habe beide bewundert . Ich hatte gehofft, daß sie ebenfalls für mich bürgen könnten. Wir brauchen schließlich immer noch einen Beweis, oder? Was hältst du davon: Du hast mir all dein Gold gegeben, das du vor zweiundzwanzig Jahren hattest. Und das waren genau siebzehn Kronen. Habe ich recht?« »Ganz genau!« Donald Royal schlug sich auf den Schenkel. »Ich erinnere mich wieder! Siebzehn Kronen! Niemand anderes hätte das wissen können, Madeleine.« Sie schüttelte unbeeindruckt den Kopf. »Ein Esper hätte es aus Jakobs Schädel holen können. Oder sogar aus deinem, Donald.« »Ach, mach dir nichts aus ihr«, wandte sich Royal entschul-digend an Jakob Ohnesorg. »Sie wurde schon mißtrauisch geboren. Ließ die Milch ihrer Mutter auf Steroide untersuchen. Du bist der echte Jakob Ohnesorg. Ich werde für dich bürgen. Und vielleicht nimmst du dir diesmal die Zeit, auf mich zu hören, bevor du wieder Hals über Kopf aufbrichst, um mit zu wenig Truppen und ohne vernünftigen Nachschub für Wahrheit und Gerechtigkeit im Imperium zu kämpfen.« »Diesmal werde ich dir zuhören«, erwiderte Ohnesorg. »Ich habe aus meinen Fehlern gelernt.« »Dazu hattet Ihr schließlich auch oft genug Gelegenheit«, sagte Madeleine. Sowohl Donald Royal, als auch Jakob Ohnesorg ignorierten ihren Einwand. »Diesmal haben wir eine echte Chance, Donald«, erklärte Ohnesorg und beugte sich vor. »Eine ganze Armee von Klonen und Espern und Verbündete mit mehr Macht als alles, wovon wir je zu träumen gewagt hätten. Ich würde sogar meinen Stolz vergessen, um das nicht aufs Spiel zu setzen .« »Du bist ein guter Mann, Jakob«, sagte Royal. »Versammle deine Leute und ruf den Rat zusammen. Madeleine und ich werden dort sein.« »Ich danke dir, Donald. Es bedeutet mir sehr viel.« Ohnesorg erhob sich geschmeidig und wartete höflich, bis Donald Royal sich aus seinem Sessel gekämpft hatte. Sie schüttelten sich erneut die Hände, und Ohnesorg ging hinaus. Madeleine folgte ihm zur Tür, um sicher zugehen , daß er nichts mitgehen ließ , dann kehrte sie wieder zurück. Im Eingang zum Wohnzimmer blieb sie stehen und funkelte Donald Royal wütend an. »Du glaubst also, er ist nicht echt?« erkundigte sich Donald ruhig und ließ sich wieder in seinen Sessel sinken. »Verdammt richtig, das tue ich«, fauchte sie. »Er ist zu gut. Zu vollkommen. Er sieht großartig aus, hat jede Menge Muskeln und benutzt die richtigen Worte und Phrasen. Wie ein Volksheld, der von einem Komitee geschaffen wurde. Und ich kaufe ihm diese Geschichte mit den Regenerationsmaschinen einfach nicht ab. Ich meine, technisch gesehen ist es wohl möglich, aber woher soll ein flüchtiger Rebell Zutritt zu dieser Art von Technologie haben? Nach allem, was ich weiß, sind Regenerationsmaschinen ausschließlich für den Adel bestimmt. Nein, Donald. Du glaubst ihm nur deswegen, weil du dir wünschst, er sei echt. Weil er zu deinen wenigen guten Erinnerungen an die Vergangenheit gehört, die noch unter den Lebenden wandeln.« »Vielleicht hast du recht«, gab Donald zu. »Ich glaube nicht, daß er uns alles verraten hat, oder daß alles, was er gesagt hat, der Wahrheit entspricht. Aber jeder Instinkt in mir sagt, daß er der echte Jakob Ohnesorg ist. Er ist ganz genau so, wie ich ihn in Erinnerung habe. Ein überlebensgroßer Held und ein überzeugender Gauner, beides in einem. Er hat den einzigen Test bestanden, der mir eingefallen ist. Was muß er sonst noch tun, um dich zu überzeugen, Madeleine? Soll er vielleicht übers Wasser gehen?« »Falls er es täte, würde ich hinterher seine Stiefel kontrollieren«, konterte Madeleine. Johana Wahn wanderte durch die Straßen von Nebelhafen. Harter Schnee knirschte unter ihren Füßen, und ihr Atem kondensierte in raschen Stößen in der kalten Luft vor ihrem Gesicht; doch in den Fellen war es angenehm warm. Hitze und Kälte und andere Launen der Nebelwelt hatten sämtliche Macht über Johana verloren. Laut ihren Unterlagen besaß die Vereinigung der Esper ein eigenes Büro im Gildehaus . Aber Johana spürte es auch so, ohne sich in die Papiere zu vertiefen. Sie spürte die anderen Esper in ihrem Kopf, so deutlich wie ein helles Licht, das in der Stadtmitte erstrahlte. Wo auch immer sie hinkam, überall liefen Menschen geschäftig hin und her – doch alle wichen ihr in weitem Bogen aus, selbst wenn sie überhaupt keinen einsichtigen Grund dafür hatten. Die Gildenhalle selbst war ein unscheinbares Gebäude mittlerer Größe. Johana war ein wenig erstaunt, ein großes Hin-weisschild vor dem völlig ungeschützten Haus zu sehen. Überall sonst im Imperium wurde eine derartige Ansammlung von Espern mit dem Tode oder Gehirnlöschung bestraft, je nachdem, wie wichtig die einzelnen Delinquenten waren. Die einfache Freizügigkeit der hiesigen Espervereinigung ermunterte Johana ganz außerordentlich, und sie stapfte fröhlich über den Kiesweg zur Eingangstür. Nirgendwo waren Wachen zu sehen, aber Johana hatte auch keine erwartet – nicht einmal in einer Jauchegrube wie Nebelhafen. Esper hatten ihre eigenen, subtileren Wege, alles im Auge zu behalten und ungebetene Gäste am Eintreten zu hindern. Die große Eingangstür wirkte imposant und stabil. Johana suchte nach einem Klopfer oder einer Glocke, doch es gab weder das eine noch das andere. Sie hob die Hand, um anzuklop-fen, und die Tür schwang vor ihr zurück. Ein großer schlanker Mann in formeller Abendgarderobe füllte den Durchgang und starrte hochmütig auf sie herab. Sein Kopf war kahlrasiert und zeigte hier und dort kleine chirurgische Narben. Die Augen standen ein wenig zu weit auseinander, und das Lächeln war höflich und absolut nichtssagend. »Kommt herein, Johana Wahn«, sagte er. »Wir haben Euch schon erwartet.« »Das hatte ich gehofft«, erwiderte sie. »Wolltet Ihr mich nicht hereinlassen? Oder soll ich mich vielleicht an Euch vorbeiteleportieren?« Der Türsteher – oder was zur Hölle auch immer er war – trat würdevoll zur Seite, und Johana ging mit hoch erhobener Nase an ihm vorbei. Was ihr könnt, kann ich schon lange. Die Halle war offen und weitläufig , und die Luft roch süß von Vasen voller Blumen, die in jeder Nische und auf jedem Sims standen. Johana hätte nur allzu gerne gefragt, wo zur Hölle auf einer eisigen, unwirtlichen Welt wie dieser solche Blumen ge-diehen, doch sie behielt den Gedanken für sich. Fragen könnten ihr durchaus als Schwäche ausgelegt werden, und es war lebenswichtig, daß sie einen starken Eindruck hinterließ. Der Butler nahm ihre Felle und hängte sie an einen Haken. Er blickte indigniert auf Johanas Stiefel und den schmelzenden nassen Schnee auf den Teppichen, doch sie ignorierte ihn. Nackte Füße könnten als zu ungezwungen aufgefaßt werden. »Ich nehme an, Eure Präkos haben von meinem Kommen berichtet?« erkundigte sie sich beiläufig. »Man erzählt sich, sie seien die besten im gesamten Imperium. Haben sie Euch auch verraten, aus welchem Grund ich zu Euch gekommen bin?« »Bisher noch nicht.« Der Butler schloß sorgfältig die Tür und wandte sich lächelnd wieder Johana zu. Es war ein Lächeln, das ihr ganz und gar nicht gefiel. Es wirkte bei weitem zu vertraulich. Der Lakai ging durch die Halle davon, ohne darauf zu warten, daß Johana ihm folgte. Über die Schulter sagte er: »Wir alle wissen, wer Ihr seid. Wir hätten herausfinden können, aus welchem Grund Ihr gekommen seid, wenn wir das gewollt hätten, aber wir würden es lieber aus Eurem eigenen Mund hören. Hier entlang. Man wird sich gleich um Euch kümmern .« Zur Hölle damit!, dachte Johana Wahn . Die Dinge glitten ihr aus der Hand . Diese Leute hier mußten wahrscheinlich daran erinnert werden, wer oder was sie war. Sie griff mit ihrem ESP nach draußen und durchtränkte die Blumen in der Halle damit. Die Pflanzen sprangen aus ihren Vasen und fingen mit beachtlicher Geschwindigkeit an zu wachsen. Blüten wurden innerhalb von Sekundenbruchteilen bestäubt und bildeten Samen, Reben und Ausläufer. Sie rankten sich über sämtliche Wände vom Boden bis zur Decke und bekämpften sich gegenseitig um einen Platz am Licht. Der Duft der Blüten wurde immer intensiver. Der Lakai blickte auf Johana. Sein Gesicht blieb unbeeindruckt, aber nur beinahe. »Ich wußte nicht, daß Ihr dazu imstande seid.« »Offenbar wißt Ihr nur sehr wenig über mich«, entgegnete Johana. »Und jetzt bringt mir einen der Verantwortlichen her, mit dem ich reden kann, oder ich verwandle diese Halle in einen Dschungel.« »Sie haben uns gewarnt, daß Ihr Schwierigkeiten machen würdet«, entgegnete der Butler oder was zur Hölle er war. »Wenn es Euch nichts ausmacht, kurz im Lesezimmer zu warten? Man wird sich Eurer annehmen, so schnell es geht.« »Und zwar sehr schnell«, entgegnete Johana. »Das würde mich nicht weiter überraschen. Und zu Eurer Information, ich bin der Kanzler dieser Loge, und kein verdammter Butler. Hier ist das Lesezimmer. Bitte bemüht Euch, kein Mobiliar zu zerbrechen und kein Feuer anzuzünden. Einige dieser Bücher hier sind sehr alt und für uns sehr viel mehr wert als Eure geschätzte Person.« »Das glaubt auch nur Ihr«, sagte Johana. »Und jetzt setzt Euch bitte in Bewegung, Kanzler. Laßt mich nicht zu lange warten, sonst komme ich womöglich noch auf komische Gedanken.« »Daran zweifele ich keine Sekunde«, sagte der Kanzler und geleitete Johana ins Lesezimmer. Es war ein großer, hell erleuchteter Raum mit breiten, bequemen Sesseln, glänzenden getäfelten, Wänden und einem einladenden, gemütlich prasselnden Feuer im Kamin. Der gesamte Raum verbreitete eine ruhige, entspannte Atmosphäre, der Johana auch nicht einen Augenblick lang traute. Wahrscheinlich wollte man damit lediglich ihre Wachsamkeit ablenken. Unauffällig sondierte sie die umliegenden Räume und stellte zu ihrer nicht gelinden Überraschung fest, daß ihr mächtiges ESP harmlos von massiven psionischen Schilden abprallte. »Bitte unterlaßt das«, ermahnte sie der Kanzler. »Es gibt viele private Plätze in unserer Loge, und alle sind mental abge-schirmt, um die sensibleren unserer Leute vor dem Lärm der Welt draußen zu schützen. Hin und wieder dienen sie aber auch dem umgekehrten Zweck: nämlich die Welt draußen vor dem einen oder anderen von uns zu schützen. Ich rate Euch mit aller gebotenen Dringlichkeit: Respektiert ihre Privatsphäre. Um Eurer selbst willen, wenn schon nicht um der anderen.« Der Kanzler wußte, wann es angebracht war, den Vortrag zu beenden, und so verbeugte er sich knapp und ließ Johana allein im Lesezimmer zurück. Er zog die Tür hinter sich ins Schloß, und Johana wartete auf das Geräusch eines sich drehenden Schlüssels… doch es kam nicht. Vermutlich glaubte die Espervereinigung, daß ihr andere Wege zur Verfügung stünden, um Johana aufzuhalten, falls sie irgend etwas unternehmen sollte. Diese Dummköpfe. Johana schnaufte wütend und warf sich in den Sessel, der am gemütlichsten aussah. Sie hatte die Hölle des Wurmwächters überlebt, und nun gab es nicht mehr viel, wovor sie sich fürchtete. Sie starrte finster um sich. Bei näherer Betrachtung entpuppte sich das Lesezimmer als ein ausgesprochen trister Ort. Es besaß weder Stil, noch wirkte es anheimelnd. Wahrscheinlich war es für die Esper eine Art ›neutraler Boden‹, wo sie sich mit den Menschen aus der Welt draußen treffen konnten. Johana versank mürrisch in der Behaglichkeit ihres Sessels und versuchte, sich zu entspannen . Mut und Leidenschaft und ein Gefühl der Vorsehung hatten sie hierhergeführt; doch nicht zum ersten Mal im Verlauf der Reise wußte sie nicht genau, wie es weitergehen sollte. Alles hing davon ab, wie ernst sie von der Espervereinigung von Nebelwelt genommen werden würde. Sie war nicht mehr daran gewöhnt, mit Menschen umzugehen, die nicht durch ihre bloße Gegenwart in Ehrfurcht versanken, oder die zumindest von ihr beeindruckt waren oder zumindest von dem, was aus Johana Wahn geworden war. Andererseits befanden sich in diesem Haus die stärksten Esper auf einem Planeten, wo es vor Begabten nur so wimmelte. Sie würden nicht leicht zu beeindrucken sein, und Johana durfte sie auch nicht so einfach bedrohen. Der Untergrund brauchte die volle Unterstützung und Anerkennung durch die Nebelwelt. Vielleicht würde es auch gar nicht funktionieren. Mißgelaunt verzog Johana das Gesicht. Wenn du Zweifel hast, halte dich an den Plan. Der Untergrund hatte einige Zeit damit verbracht, ihr die richtigen Worte und Phrasen einzubleuen . Inzwischen konnte Johana sie im Schlaf rezitieren, und außerdem glaubte sie auch leidenschaftlich an die Argumente. Aber trotzdem: Diese Leute hier sollten besser lernen, ihr ein wenig mehr Respekt entgegenzubringen. Sie war von der Weltenmutter berührt worden, und sie war nicht mehr die einfache Johana Wahn. Sie war viel mehr. Johana konzentrierte sich. Ihr Bewußtsein verteilte sich und durchdrang mit Leichtigkeit die mentalen Schilde, die sie um-gaben. Augenblicklich erfüllte Stimmengewirr ihren Verstand, rauh und ohrenbetäubend, und Visionen rasten an ihrem geistigen Auge vorüber, zu schnell, um ihnen zu folgen. Johana wurde schwindlig. Sie umklammerte die Armlehnen ihres Sessels, um sich aufrechtzuhalten . So viele Geister, und alle arbeiteten sie auf Hochtouren. Vergangene Geschehnisse und zu-künftige Möglichkeiten vermischten sich, bis Johana sie kaum noch voneinander unterscheiden konnte. Sie brandeten von allen Seiten heran wie die Wogen der Flut an einen einsamen Felsen vor der Küste, doch Johana blieb unbeweglich und ließ sich weder davonspülen, noch untergraben. Sie konzentrierte sich weiterhin und lauschte in dem ohrenbetäubenden Lärm auf die Informationen, die sie suchte – und langsam erfaßte sie Einzelheiten, wie Schiffe, die geisterhaft aus dem Nebel auftauchen und wieder verschwinden. Irgend jemand betete und schluchzte dabei so heftig, daß Johana die Worte kaum verstand. Visionen von brennenden Ge-bäuden und Menschen, die schreiend durch die nächtlichen Straßen rannten. Etwas Dunkles und Schreckliches hing über der Nebelwelt, wie eine gigantische Spinne, die genüßlich ihre Beute betrachtete . Johana hörte Schüsse, und das Blut eines Kindes spritzte auf eine Wand . Die Straßen waren überfüllt von Menschen, die wild durcheinanderrannten, während ringsherum die Rammen loderten und der Tod sich von allen Seiten näherte. In einer Zelle gar nicht weit von Johanas augenblicklichem Standort entfernt hämmerte jemand mit aufgesprungenen blutigen Händen auf gepolsterte Wände ein, und obwohl er stumm war, schrie sein Verstand unablässig schieres Entsetzen hinaus. Und über allem war ein Name: ein Name, der immer und immer wieder auftauchte, ein Name, der in einem Chor von Stimmen an die Oberfläche drang wie ein Herzschlag, eine Prophezeiung des Untergangs, die unabwendbar näherrückte. Legion. Die Legion kommt. Legion. Johana zitterte am ganzen Leib und brach den Kontakt ab. Sie atmete schwer und kämpfte darum, ihre Sinne wieder unter Kontrolle zu bekommen. Ohne Zweifel hatte sie soeben einen Blick in die Zukunft geworfen. Sie hatte gesehen, wie sich die Straßen Nebelhafens in eine Hölle verwandelten, und sie hatte gesehen, wie Imperiale Truppen das fliehende Volk niedermet-zelten. Sie hatte gesehen, wie die Stadtmauern einstürzten und Gebäude explodierten, und über alledem hatte sie einen nicht enden wollenden Schrei gehört – einen nichtmenschlichen Schrei. Es konnte in einem Jahr passieren oder vielleicht in einer Woche. Vielleicht hatte es sogar schon angefangen. Johana wußte es nicht. Wie auch? Präkognitive Visionen ließen nie einen Rückschluß auf die Zeit zu. Johana hob ihre mentalen Schilde, bis sie wieder allein in ihrem Kopf war und sich endlich wieder in Sicherheit fühlte. Sie stöhnte lautlos und rieb sich die schmerzenden Schläfen. »Geschieht Euch recht«, sagte eine rauhe Stimme von der Tür her. »Warum müßt Ihr auch lauschen?« Johanas Kopf ruckte herum, und sie sprang erschrocken auf. Sie hatte nicht gehört, wie die Tür geöffnet worden war. Im Eingang stand Investigator Topas. Sie sah genauso hart und kompromißlos aus wie bei ihrer ersten Begegnung. Neben Topas stand eine große, entsetzlich magere Frau in blassen, pastellfarbenen Kleidern. Die Frau war genauso bleich und farblos wie ihre Kleidung. Strähniges blondes Haar umrahmte ungekämmt ein hageres, scharf geschnittenes Gesicht mit blitzenden blauen Augen. Auf den Wangen waren große vernarbte Flecken zu sehen, und ein Teil ihrer Nase fehlte, als hätte ein Tier ihn weg-gefressen. Die Frau wirkte spröde und schien in einem fast übernatürlichen Licht zu strahlen. Wäre sie nicht so unglaublich mager gewesen, hätte sie vielleicht sogar gefährlich ge-wirkt. Sie sah aus, als würde ein starker Windhauch ausreichen, um sie davonzuwehen. »Es ist unhöflich, so zu starren«, sagte Topas. »Falls Ihr Euch fragen solltet: Es sind Erfrierungen. Auf der Nebelwelt wird es hin und wieder ziemlich kalt. Wenn Ihr freundlich fragt, zeigt sie Euch vielleicht auch die Stummel, wo sie einst ein paar Finger hatte. Ihr Name lautet Marie.« Johana verstand sofort, und sie betrachtete die geisterhaften Gestalt mit neuem Respekt. »Typhus-Marie? Die Seuchenüberträgerin?« »Diesen Namen trage ich nicht mehr«, erwiderte Marie. Ihre Stimme klang dünn und leise – es war kaum mehr als ein Murmeln –, doch Johana hatte keinerlei Schwierigkeiten, ihre Worte zu verstehen . In Maries Tonfall und in ihrem Blick lag eine überwältigende Macht. »Die Typhus-Marie war eine andere Person. Jemand, den das Imperium erschaffen hat, um die Dreckarbeit zu erledigen. Das bin ich nicht mehr. Ich bin einfach nur Marie.« Johana nickte. »Ich weiß, wozu die Imperialen Hirntechs imstande sind. Sie haben ihre Drecksfinger auch in mein Gehirn gesteckt. Trotzdem, wenn man bedenkt, welchen Schaden Ihr der Nebelwelt zugefügt habt… Ich bin überrascht, daß man Euch frei herumlaufen läßt. Zur Hölle, ich bin tatsächlich überrascht, daß Ihr überhaupt noch am Leben seid, Marie!« »Fräulein Taktlos«, entgegnete Investigator Topas, »wir auf der Nebelwelt geben den Menschen keine Schuld an dem, was das Imperium ihnen angetan hat. Die meisten der Menschen hier haben irgendwann mal etwas für das Imperium getan, wo-für sie sich schämen. Der Rat hat Marie in meine Obhut gegeben. Wir arbeiten jetzt als Team zusammen. Marie und ich, wir haben eine Menge gemeinsam. Meistens Dinge, die wir dank der Eisernen Hexe und ihrer verdammten Intrigen verloren haben. Aber genug der leeren Worte. Ihr wolltet mit der Vereinigung der Esper sprechen, doch unsere führenden Kräfte sind zur Zeit sehr beschäftigt. Ihr könnt mit uns reden. Wir werden Eure Botschaft weiterleiten, falls erforderlich. Bis dahin werdet Ihr sicherlich einen guten Eindruck hinterlassen wollen, oder? Laßt die Blumen in Frieden und respektiert die mentalen Abschirmungen in diesem Haus, ja? Sie dienen genauso Eurem Schutz wie dem anderer. Viele Leute haben bei uns Schutz und Hilfe gesucht wegen der schrecklichen Dinge, die das Imperium mit ihnen angestellt hat. Einige von ihnen sind noch immer konditioniert, und viele trauern nach wie vor um die geliebten Wesen, die sie während der Esperseuche verloren haben. Respektiert ihre Privatsphäre.« Johana zuckte die Schultern. Sie hatte eine Mission zu erfüllen. »Sie werden mich alle hören wollen, sobald sie wissen, wer und was ich bin. Ich repräsentiere Unsere Mutter Aller Seelen, und in mir ruhen die Kräfte der Weltenmutter. Ich werde ihre Dunkelheit mit Licht erfüllen und ihren Leiden ein En-de bereiten. Und mit ihrer Hilfe werde ich schließlich das Imperium selbst zu Fall bringen, und…« »Spart Euch die großen Worte«, unterbrach sie Topas. »Das alles haben wir schon mehr als einmal gehört . Legenden sind hier in Nebelhafen nicht einen Penny wert . Hauptsächlich deswegen, weil es hier so viele Menschen gibt, die sich verzweifelt wünschen, daran zu glauben . Es ist an Euch, uns zu beweisen , daß Ihr nicht einfach nur ein weiterer Esper seid, der an Wahnvorstellungen leidet.« Johana ließ sich den rüden Ton gefallen – jedenfalls für den Augenblick. »Erzählt mir mehr über die Vereinigung der Esper. Wie fing es an?« Falls Investigator Topas wegen des unvermittelten Thema-wechsels überrascht war, dann zeigte sie es zumindest nicht. »Wie alles anfing? Am Anfang bestand die Aufgabe der Vereinigung darin, alle Esper zusammenzurufen, wenn wir rasch den psionischen Schild um die Nebelwelt herum errichten mußten. Aus diesen Anfängen erwuchs schließlich eine Art Selbsthilfe-gruppe, bevor wir dann zu einer politischen Macht, die ihre eigenen Interessen durchzusetzen vermochte, wurden. Nebelhafen ist kein Ort für die Schwachen. Auf den Straßen laufen Typen herum, die einen bei lebendigem Leib fressen, sobald sie Furcht riechen. Und manchmal locken Versuchungen, denen nur die wenigsten von uns alleine widerstehen könnten. Heutzutage ist die Espervereinigung zu einer politischen und wirtschaftlichen Macht geworden, deren Einfluß sich über die gesamte Stadt erstreckt. Und diejenigen unter uns, die die Verantwortung tragen, sind keinesfalls begierig darauf, ihre be-trächtliche Macht von einem halb verrückten ehemaligen Insassen der Wurmwächterhölle unterminieren zu lassen, der von sich behauptet, Avatar der Weltenmutter zu sein. Einige von uns glauben nicht einmal daran, daß eine Weltenmutter überhaupt existiert oder jemals existiert hat. Und andere haben einfach nur ein persönliches Interesse daran, ihre Existenz zu verleugnen. Das sind die Gründe, weswegen Ihr mit uns sprecht und nicht mit den Anführern unserer Vereinigung . Und zudem erweckt Euer Name auch nicht gerade Vertrauen in Eure Fähigkeiten. So, und jetzt könnt Ihr meinetwegen mit Eurer Vorstellung anfangen. Ich muß wohl nicht erst erwähnen, daß Ihr gut daran tätet, überzeugend zu wirken.« Johana grinste Topas und Marie unvermittelt an, und die beiden erschauerten unwillkürlich . Plötzlich war etwas in diesem Zimmer: eine Präsenz und eine Macht, wie sie noch vor wenigen Augenblicken nicht zu spüren gewesen war. Johana Wahn ergab sich in ihre Bestimmung, ließ all ihre Abschirmungen fallen und erstrahlte so hell wie Sonnenfeuer in einem Kristall-glas. Ihre Präsenz wurde überwältigend, erfüllte den Raum und dröhnte in der Luft wie der Herzschlag eines Riesen. Topas und Marie wichen zurück, und die Hand des Investigators fiel automatisch auf den Griff der Klinge an ihrer Hüfte. Johanas ESP peitschte in die Bewußtseine von Topas und Marie und riß ihre Abwehr mit beiläufiger Leichtigkeit ein. Nackt standen die beiden vor ihr, ohne jeden Schutz. Johana hätte alles mit ihnen machen können; sie hätten ihr alles geglaubt und alles gesagt, was sie wollte, und beide wußten sie es. Doch statt dessen öffnete sie ihnen ihr eigenes Bewußtsein, zeigte ihnen ihr eigenes Leid während der Zeit in der Hölle des Wurmwächters, alles innerhalb eines einzigen Augenblicks komprimierter lebendig gewordener Hölle. Sie waren dabei, als der Wurm sich in Johanas Gehirn fraß. Sie waren dabei, als er die Kontrolle über jede ihrer Regungen und jeden Gedanken übernahm. Sie waren dabei, als sie zusammengerollt und nackt auf dem Boden ihrer Zelle lag. Sie erlebten, wie Johana zitterte und bebte, umgeben vom Gestank des eigenen Urins und Kots und Erbrochenen. Ihre Zelle war nur wenig größer als ein Sarg, mit glatten stählernen Wänden und einer Decke, die zu niedrig war, um mehr als nur zu knien oder zu kriechen. Kaum jemals fiel ein Lichtstrahl hinein, und es gab nichts als beinahe endlose Dunkelheit und den Wurm, der sich in Johanas Bewußtsein eingenistet hatte und sie mit den endlosen Alpträumen der projizierten Halluzinationen und Wahnvorstellungen des Wurmwächters überschüttete. Sie verlor ihre Stimme in Silo Neun, während sie um eine Hilfe schrie, die niemals kam, oder während sie einfach nur darum flehte, daß der Schmerz und das Entsetzen und das Leiden endlich aufhören mochten. Und dann geschah das Wunder. Mater Mundi, die Weltenmutter, kam zu ihr. Unsere Mutter Aller Seelen entfaltete sich in Johana Wahns Bewußtsein wie ein strahlend schöner Schmetterling, der einer häßlichen Raupe entschlüpft, und von dort aus breitete sie sich aus und umfing jeden einzelnen Esper in der Hölle des Wurmwächters, verband sie zu einer einzigen unaufhaltsamen Macht, einer Klinge, die mitten durch das Herz des Wurmwächters selbst fuhr. Das Geistwesen konnte nicht lange existieren, ohne die Seelen aller beteiligten Esper zu verbrennen, doch für einen einzigen flüchtigen Augenblick war jeder von ihnen großartiger, als es die gesamte Menschheit jemals gewesen war – und mächtiger. Und all diese Macht fokussierte sich in der Gestalt Johana Wahns. Nur, daß Johana Wahn nicht ihr wirklicher Name war. Sie war einst jemand anderes gewesen, eine Agentin des Untergrunds, die sich freiwillig gemeldet hatte und unter falscher Identität in die Hölle des Wurmwächters in Silo Neun geschickt worden war, um Informationen über mögliche Fluchtwege aus dem Gefängnis zu sammeln. Ihr ursprüngliches Selbst und ihre frühere Identität waren verschwunden, erloschen und vernichtet durch Johana Wahn, die von Großartigkeit berührt worden war und deren ESP eine Macht erreicht hatte, die schier unglaublich schien. Johana Wahn, die Repräsentantin Mater Mundis, die einst jemand anderes gewesen war. Die Projektion fiel in sich zusammen, als die verschiedenen Seelen in ihr gegeneinander kämpften und kreischten und Johanas Bewußtsein umflatterten wie Motten das Licht, wider alle Vernunft von etwas angezogen, das sie am Ende doch nur zerstören konnte. Johana Wahn, die so viel mehr und doch zugleich soviel weniger war wie einst. Johana fiel in sich selbst zurück und fiel und fiel und fiel und schlang die Arme um den Leib aus Angst, sich aufzulösen. Tränen brannten in ihren Augen, und nur schiere Willenskraft hielt sie zurück. Tränen der Erinnerung an etwas Großartiges und Wunderbares, etwas, das die unscheinbare Johana Wahn berührt und verändert und dann wieder verlassen hatte. Marie trat vor und legte den Arm um Johanas zitternde Schulter. »Alles wird gut. Wir haben verstanden. Wir werden mit unseren Führern sprechen. Sie müssen dich anhören, auch wenn sie das zum jetzigen Zeitpunkt vielleicht noch nicht wissen. Bleib hier. Wir werden die Dinge in Bewegung bringen.« Sie drückte Johana ein letztes Mal tröstend an die Brust und bedeutete Topas mit einer Kopfbewegung, die Tür zu öffnen. Topas gehorchte mit unbewegter Miene. Anschließend führte Marie Johana zu ihrem Sessel zurück, dann verließ sie zusammen mit Topas das Zimmer. Johana blieb zusammengesunken und allein zurück wie ein erschöpftes hilfloses Kind. Die beiden Esper zogen die Tür des Lesezimmers hinter sich ins Schloß und gingen durch den Korridor davon. »Sie scheint nicht besonders belastbar?« bemerkte Topas. »Wenige von uns sind das heutzutage«, entgegnete Marie. »Allerdings scheint Johana ein extremer Fall zu sein. Wenn wir sie nicht mit Samthandschuhen anfassen, halten wir am Ende eine multiple Persönlichkeit in den Händen – und eine verdammt machtvolle noch dazu. Hast du ihre Energie gespürt? Es war, als blicke man direkt in die Sonne. Ich habe noch nie eine derart mächtige Begabung erlebt. Ich bin nicht einmal sicher, ob sie menschlich ist oder nicht. Kann es sein, daß es tatsächlich die Weltenmutter war?« Topas zuckte unbehaglich die Schultern. »Ich war nie besonders religiös. Trotzdem habe ich das gleiche gesehen wie du. Vielleicht ist sie wahnsinnig, aber irgend etwas hat sich durch sie manifestiert. Die Abdrücke auf ihrem Bewußtsein sind nicht zu übersehen, selbst jetzt nicht. Und Mater Mundi ist als Antwort genauso gut wie alles andere, wer oder was auch immer es sein mag. Aber auf jeden Fall hast du recht: Die Anführer müssen mit ihr reden, und wenn auch nur aus dem einzigen Grund, daß unter Kontrolle gehalten wird. Gott allein weiß, welchen Schaden sie anrichtet, wenn sie durchdreht.« »Genau wie bei mir«, sagte Marie. »Das ist vorbei. Du bist wieder du selbst.« »Vielleicht. Meinst du, ich wüßte nicht, daß du mich im Auftrag des Rates noch immer im Auge behältst? Nicht jeder ist davon überzeugt, daß meine Deprogrammierung erfolgreich verlief.« »Ich bin bei dir, weil ich es wollte, und aus keinem anderen Grund. Vielleicht ist es dir entgangen, aber du hast noch immer eine Menge Feinde hier in Nebelhafen«, erklärte Topas. »So gut wie jeder hier hat im Verlauf der verdammten Seuche den ein oder anderen Angehörigen verloren, weißt du?« »Ich werde niemals wieder töten«, sagte Marie. »Eher bringe ich mich selbst um.« »Das weiß ich.« »Die arme Johana. Sie hat schrecklich viel durchgemacht.« »Haben wir das nicht alle?« Owen Todtsteltzer spazierte allein durch die überfüllten Straßen des Händlerviertels. Er blickte finster um sich, während er innerlich vor Wut schäumte. Die Menschen, an denen er vorüberkam, warfen nur einen Blick in sein Gesicht und ließen ihm dann reichlich Platz. Einige wichen sogar auf die andere Straßenseite aus, nur für den Fall. Überall priesen Straßenhändler ihre Waren mit den blumigsten Worten an, doch Owen schenkte ihnen nicht die geringste Aufmerksamkeit. Mit jedem Schritt wurde er immer wütender, und es war ihm egal, ob andere das bemerkten oder nicht. Daß sein Orientierungssinn nicht besonders gut funktionierte, besserte seine Laune auch nicht gerade. Er hatte sich nicht im buchstäblichen Sinn verirrt; er wußte nur nicht mehr genau, wo er sich gerade befand. Er war erst ein einziges Mal hier gewesen. Damals hatte Hazel ihn geführt, und er hatte nicht auf den Weg geachtet. Glücklicherweise erinnerte sich wenigstens Ozymandius an die Richtung. Owen stapfte immer tiefer in das Viertel, trat dann und wann nach einer Schneewehe und konzentrierte sich auf den Weg, um nicht ständig an Hazel denken zu müssen, die allein bei John Silver geblieben war. Er hatte kein Recht, eifersüchtig zu sein, wie Hazel ihm ganz ohne Zweifel ins Gesicht gesagt hätte, und trotzdem… auf seine Weise liebte er sie, ganz egal, was sie von ihm denken mochte. Falls sie überhaupt jemals über ihn nachgedacht hatte. Owen seufzte und stapfte weiter , und schließlich stand er vor dem schäbigen, heruntergekommenen Gebäude, in dem das Abraxus Informationszentrum untergebracht war. Abraxus wußte alles, was in Nebelhafen vor sich ging – manchmal sogar, bevor die Betroffenen selbst etwas davon wußten. Abraxus fand Antworten auf sämtliche Fragen, konnte einem die Sorgen nehmen oder die schlimmsten Alpträume bestätigen – wenn man den richtigen Preis zu zahlen bereit war. Von außen machte Abraxus nicht viel her. Es hauste in der ersten Etage über einer gewöhnlichen Bäk-kerei. Nirgendwo gab es ein Schild, das auf seine Gegenwart hinwies: Jeder wußte, wo es zu finden war. Bei seinem letzten Besuch des Informationszentrums hatte Owen eine Menge Dinge in Erfahrung gebracht. Einige davon waren nützlich gewesen, andere besorgniserregend. Unter anderem hatte Abraxus ihm verraten, wie er sterben würde. Ich sehe dich, Owen Todtsteltzer. Das Schicksal hält dich in seinen Fängen, sosehr du dich auch dagegen sträubst. Du wirst ein gewaltiges Imperium zu Fall bringen, und du wirst das En-de von allem erleben, an das du je geglaubt hast. Du wirst alles aus Liebe tun, aus einer Liebe, die du nie erfahren wirst. Und wenn es vorüber ist, dann wirst du sterben allein, weit weg von allen Freunden und ohne Beistand oder Hilfe. Owen erschauerte. Seine Nackenhaare richteten sich auf, als er sich an die Worte erinnerte. Selbst die besten Präkos irrten sich mindestens genauso häufig, wie sie recht behielten; andernfalls hätten sie das Imperium schon längst unter ihrer Kontrolle – aber auch so empfand Owen die Prophezeiung als beunruhigend. Keine Hinweise, keine rätselhaften Andeutungen, keine versteckten Botschaften – nichts außer einer unverblümten Schilderung seiner Zukunft und seines Todes. Er wußte, daß er trotzdem weitermachen und genau das tun würde, was er für richtig hielt – zur Hölle mit den Konsequenzen –, doch er mußte noch einmal mit Abraxus sprechen. Seit seinem letzten Besucht der Nebelwelt war eine Menge geschehen, und Owen hatte das Labyrinth des Wahnsinns überwunden. Das mußte die Dinge ändern. Es mußte einfach. In vielerlei Hinsicht war er heute ein ganz anderer Mensch als früher. »Zur Hölle«, knurrte er. »Jeder weiß, daß man Präkos nicht trauen kann.« »Und wem willst du dann trauen?« flüsterte Ozymandius in seinem Ohr. »Ich wünschte, du würdest nicht immer mit mir reden. Du weißt verdammt noch mal sehr genau, daß du tot bist.« »Dann bin ich also nur ein Spuk? Beantworte doch meine Frage, Owen. Wem willst du heutzutage noch vertrauen? Hazel hat dich rausgeworfen, weil sie mit Silver allein sein wollte. Jung Jakob Ohnesorg ist vielleicht nicht der, für den er sich ausgibt, und Johana Wahn lebt in einer anderen Realität als der Rest von uns. Ich frage dich also: Wem willst du vertrauen?« »Jedenfalls nicht dir. Ich vertraue dem echten Jakob Ohnesorg, daß er das tut, was für die Rebellion das beste ist. Ich vertraue Ruby Reise, daß sie ihm bis zum letzten Rückendek-kung gibt, solange am Ende nur reichlich Beute auf sie wartet. Ich vertraue Giles Todtsteltzer, daß er den Namen der Familie hochhält. Und ich vertraue alles in allem auch Hazel, daß sie am Ende das Richtige tut.« »Und Silver?« »Hazel geht ihren eigenen Weg. Das habe ich immer ge-wußt.« »Überzeugend klingt das immer noch nicht«, erwiderte Ozymandius. »Jakob Ohnesorg ist hauptsächlich dafür bekannt, daß ihm auf jedem Planeten, wo er sich sehen läßt, früher oder später in den Hintern getreten wird. Ruby Reise ist eine ehemaligen Kopfgeldjägerin, der man schon aus Prinzip nicht vertrauen kann, und Giles’ Motive und Ansichten sind seit neunhundert Jahren überholt. Du hast noch nie besonderes Talent gezeigt, wenn es um die Wahl deiner Freunde ging, Owen. Hazel hat irgend etwas vor. Das weißt du tief im Innern ganz genau.« »Hazel hat immer irgend etwas vor. Für eine tote KI bist du ganz schön zynisch . Du hast meine Freunde noch nie gutgeheißen, auch nicht, als du noch gelebt hast . Ich vertraue meinen Mitstreitern, weil mir keine andere Wahl bleibt. Meine einzige Hoffnung zu überleben besteht darin, die Löwenstein von ihrem Eisernen Thron zu stoßen. Um das zu verwirklichen, brauche ich eine Rebellion, und für eine Rebellion brauche ich Verbündete.« »Ist das der einzige Grund, warum du um Veränderungen kämpfst?« »Nein. Ich habe zuviel alltägliche Bosheit und zuviel Leid gesehen, und das gesamte Imperium fußt darauf. Ich kann den Blick nicht mehr abwenden. Die Dinge müssen sich ändern, selbst wenn ich mit dem Leben dafür bezahle.« »Du meinst mit dem Tod. Was soll deiner Meinung nach dem Imperium folgen? Was kennst du schon anderes als die Privilegien der Aristokratie und die Herrschaft der Familien?« »Frag mich nicht«, entgegnete Owen. »Zuerst einmal müssen wir den verdammten Krieg gewinnen. Wenn wir erst vor der Löwenstein und ihrer Rache in Sicherheit sind, können wir immer noch über das streiten, was auf das Imperium folgen soll. Und schlimmer als das, was jetzt herrscht, kann es gar nicht werden.« »Berühmte letzte Worte«, spottete Ozymandius. »Du bist Historiker, Owen. Du weißt selbst am besten, was nach Rebellionen geschieht. Die Gewinner wenden sich gegeneinander und kämpfen bis zum Tod, um zu entscheiden, welche der Fraktionen die ehemals regierende ersetzt. Jedenfalls stehen die Chancen gut, daß keiner der Sieger Verwendung für einen durch und durch blaublütigen Aristokraten wie dich hat. Am Ende er-reichst du nichts weiter, als das Imperium in einen Bürgerkrieg zu stürzen, der Jahrhunderte andauert und ganze Planeten brennend in der ewigen Nacht zurückläßt.« »Weißt du eigentlich, daß du einen seit deinem Tod wirklich richtig deprimieren kannst? Außerdem, was kümmert’s dich? Für eine KI wird es immer eine Verwendung geben.« »Es kümmert mich tatsächlich nicht«, gestand Ozymandius freimütig. »Ich wollte mich lediglich ein wenig unterhalten, das ist alles.« »Also schön, dann halt jetzt die Klappe. Ich habe Geschäfte mit Abraxus zu erledigen, und ich kann nicht mit dir reden, während ich dort drin bin. Sie haben wahrscheinlich noch nie im Leben etwas von toten KIs gehört.« Ozymandius kicherte leise und verstummte. Owen blickte sich unauffällig um, um sich zu vergewissern, daß ihn niemand beobachtete, dann kletterte er die altersschwache Außentreppe hinauf zum Eingang im ersten Stock. Das Haus hatte schon bei seinem letzten Besuch wenigstens eines neuen Anstrichs bedurft, und mit der Zeit war es nicht besser geworden. Im Holz zeigten sich deutlich dunkle Flecken aufsteigender Feuchtig-keit, und die einfache Messingplatte auf der Tür mit der schnörkellosen Aufschrift ›Abraxus‹ war eindeutig seit Wochen nicht mehr poliert worden, vielleicht sogar seit Monaten. Es roch eindeutig nach Katzenpisse, wie Owen nicht wenig verblüfft zur Kenntnis nahm, da er seit seiner Ankunft auf der Nebelwelt noch keine einzige Katze zu Gesicht bekommen hatte. Selbstverständlich gab es weder eine Klingel noch einen Türklopfer. Owen hämmerte mit der Faust gegen die Tür und trat zur Sicherheit noch ein paarmal dagegen. Anschließend fühlte er sich schon besser. Nach einer Pause, die lange genug dauerte, um Owen seine Position vor Augen zu führen, schwang die Tür auf, und der Mann namens Chance füllte den Durchgang. Er musterte Owen von oben bis unten, dann winkte er ihn herein. Owen folgte der Aufforderung mit hoch erhobe-nem Kopf. Innen hatte sich nichts verändert. Zwei Reihen wackliger Pritschen standen dicht an dicht nebeneinander in einem langen Raum mit einem schmalen freien Mittelgang. Auf den Pritschen lagen komatöse Kinder zwischen vier und fünf Jahren und früher, magerer Pubertät. Sie wurden künstlich mit Hilfe intravenöser Tropfe ernährt, und Katheter führten die Stoff-wechselprodukte in schmutzige Behälter ab. Einige der Kinder waren in Decken gehüllt; andere hatten sich freigestrampelt. Ein paar waren an ihre Betten gefesselt . Über allem hing der penetrante Gestank von billigem Desinfektionsmittel und me-dizinischem Alkohol. Die Kinder waren Esper, teilweise mit eingeschränkten Hirnfunktionen, teilweise mit gesundem Intellekt, aber allesamt zu schwach, um auf sich allein gestellt in der rauhen Wirklichkeit der Nebelwelt zu überleben. Chance kaufte sie von ihren Eltern und setzte ihre ESP-Begabungen dazu ein, ganz Nebelhafen mit einem telepathischen Netzwerk zu überziehen. Er sah und hörte alles. Und das war Abraxus. Chance hielt die Kinder am Leben, solange er konnte; es lag in seinem eigenen Interesse . Keines von ihnen erreichte jemals das Erwachsenenalter. Es waren die Schwachen und Hilflosen, die Gebrochenen und Mißbrauchten, und zu dem Zeitpunkt, da sie Chance in die Hände fielen, war es bereits zu spät für jede Hilfe – was Abraxus als solches allerdings nicht beeinflußte. Es gab stets Nachschub. Die Kinder waren Chance treu ergeben, im Schlaf wie auch im Wachsein; er war das nächste an einem Freund, das die meisten von ihnen jemals kennengelernt hatten. Owen schüttelte langsam den Kopf, doch er wandte den Blick nicht ab. Bei seinem ersten Besuch hatte der Anblick ihn bis ins Innerste seiner Seele erschüttert. Sein erster Impuls war gewesen, Abraxus einzureißen und Chance zu töten, doch er hatte es nicht getan. Sosehr Owen sich auch sträubte, es zuzugeben: Abraxus war das Beste, was diesen Kindern in ihrem Zustand überhaupt widerfahren konnte – genetisch geschädigten und schwachsinnigen Espern, die allesamt eine schreckliche Vergangenheit hinter sich hatten und keine Zukunft vor sich. Ein weiteres Produkt des verdammten Imperiums. Owen drehte sich um und funkelte Chance an, den Gründer und Manager des Abraxus-Informationszentrums. Chance war ein großer, muskulöser Mann, fast genauso breit wie hoch, und er steckte in schwarzer Lederkleidung mit metallenen Manschetten. Sein halbes Gesicht war von einer äußerst häßlichen und komplizierten Tätowierung überzogen, und sein Grinsen war leer. Seine Augen glänzten zu hell, und er blinzelte zu selten. Owen fragte sich, ob Chance vielleicht schon verrückt gewesen war, bevor er Abraxus gegründet hatte, oder ob das unentwegte Sterben und Leiden der Kinder ihn hatte überschnappen lassen. Gleich wie, Owen hielt einen Sicherheitsabstand zu ihm ein, und seine Hand schwebte ständig in der Nähe der Waffen. Chance nickte ihm unvermittelt zu. »Ich wußte, daß Ihr wiederkommen würdet, Owen Todtsteltzer«, sagte er. »Was kann ich diesmal für Euch tun?« »Das wißt Ihr nicht?« entgegnete Owen. »Ihr scheint nachzu-lassen, Chance. Ich habe Fragen, die nach Antworten verlangen.« »Ist das nicht der Grund, aus dem wir alle hier sind?« fragte Chance. »Ich denke, ich sollte Euch besser darauf hinweisen, daß Ihr, als Ihr uns das letzte Mal mit Eurem Besuch beehrt habt, Euren gesamten Kredit aufgebraucht habt. Und seither sind die Preise dramatisch gestiegen. Ihr wißt ja selbst, wie das ist: Kleine Unternehmen müssen andauernd darum kämpfen, nicht unterzugehen.« »Euer Unternehmen existiert nur dank des Geldes meines Vaters«, entgegnete Owen tonlos. »Rein technisch gesehen gehört Abraxus mir, denn ich bin sein einziger Erbe.« »Ihr wurdet für vogelfrei erklärt«, erwiderte Chance. »Sämtlicher Besitz der Todtsteltzers wurde durch die Imperatorin konfisziert. Außerdem sind wir hier in Nebelhafen, und hier gelten andere Gesetze. Abraxus gehört mir.« Owen grinste freudlos. »Ich schätze, da täuscht Ihr Euch gewaltig. Ich bin hier in Nebelhafen, um das alte Spionagenetz der Todtsteltzers zu revitalisieren. Ich beabsichtige, es im Verlauf der Rebellion einzusetzen. Dieses Spionagenetz, verehrter Chance, schließt Euch und Abraxus definitiv mit ein. Und da ich – trotz all meiner Fehler, zugegeben – einer der Leute bin, die die gegenwärtige Rebellion anführen, wird Abraxus mir Rede und Antwort stehen. Wenn Ihr also Eure höchstwahrscheinlich äußerst gut bezahlte Position als Manager behalten wollt, dann empfehle ich Euch wärmstens, daß Ihr endlich damit aufhört, mir ständig dumm zu kommen. Habt Ihr mich verstanden?« »Ohne mich könnt Ihr Abraxus nicht betreiben« entgegnete Chance. »Die Kinder sind mein Eigentum, mit Körper und Seele.« »Sie werden sicher rasch darüber hinwegkommen. Kinder sind… unendlich anpassungsfähig, wenn Ihr versteht, was ich meine.« Chance dachte darüber nach. »Ihr würdet tatsächlich Abraxus riskieren, nur um wieder die Kontrolle über das Netz zu erlangen?« »Selbstverständlich«, antwortete Owen . »Schließlich bin ich ein Todtsteltzer. Wir Todtsteltzers haben eine lange Tradition, was unsere Sturheit betrifft. Zur Hölle mit den Konsequenzen.« Chance rümpfte die Nase . »Und was wollt Ihr wissen, Todtsteltzer?« »Das ist schon besser. Ich habe eine Frage.« »Vielleicht könntet Ihr etwas genauer werden? Schließlich wollt Ihr ja auch eine genaue Antwort, oder? Meine Kinder sind Esper und keine Orakel.« »Dann fragt sie, wer meinen Vater getötet hat. Ich meine, welche Person genau?« Chance nickte und wanderte durch den Mittelgang zwischen den Bettenreihen entlang, während seine Blicke erwartungsvoll von einem Kind zum anderen glitten. Owen wartete, ohne eine Miene zu verziehen. Er verbarg seine Überraschung über die eigene Frage. Es war nicht die gewesen, mit der er eigentlich hatte anfangen wollen. Er war hier, um Informationen über das Spionagenetz seines Vaters einzuholen. Bis er sich selbst die Frage hatte stellen hören, hatte er nicht gewußt, wie sehr ihn der Name des Mörders seines Vaters interessierte. Sein Vater war auf der Straße von einem Meuchelmörder niedergestochen worden, den die Imperatorin gedungen hatte, und das hatte Owen noch nicht einmal überrascht. Er hatte einfach angenommen, daß die zahlreichen Intrigen und Verschwörungen seinen Vater endlich eingeholt hatten. Owen war hauptsächlich nur wütend über die Störung gewesen, die der Tod seines Vaters für sein zuvor wohlgeordnetes Leben bedeutet hatte. Damals hatte er nicht gefragt, wer ihn ermordet hatte. Es war ihm egal gewesen. Damals. Arthur Hadrian Todtsteltzer, groß gewachsen, attraktiv und unglaublich charmant, hatte die größte Freude an Intrigen und Ränkeschmieden gehabt, und wenigstens ein paar davon waren purer Selbstzweck gewesen. Was wiederum bedeutete, daß er nicht viel Zeit für seinen Sohn Owen gehabt hatte. Wenn Arthur Hadrian Todtsteltzer – wie es hin und wieder geschah – einfiel, daß er einen Sohn und Erben besaß, griff er mit eiserner Hand in dessen Leben ein und tat, was er für das Beste hielt – zur Hölle mit Owens eigenen Wünschen . Owens Erinnerung an den Vater war alles andere als gut, und ihre wenigen Unterhaltungen hatten stets in bitterem Streit geendet. Der Todtsteltzer hatte nie verstehen wollen, daß sein Sohn sich selbst als Gelehrten betrachtete, als einen Mann des Wortes, nicht des Schwertes. Als Owen vom Tod seines Vaters erfahren hatte, war sein erstes Gefühl Erleichterung gewesen. Endlich war er frei! Endlich stand er nicht mehr unter Bevormundung und konnte sein eigenes Leben leben. Erst später – erst vor kurzem, um genau zu sein – hatte Owen angefangen zu verstehen, welche Motive seinen Vater angetrieben und bewegt hatten . Allein die Tatsache, daß er der Todtsteltzer gewesen war, hatte Arthur viele Feinde am Imperialen Hof und auch außerhalb verschafft. Ein Aristokrat auf Golgatha konnte Intrigen genausowenig ausweichen, wie ein Fisch das Wasser verlassen konnte. Vor allem hatte Arthur an Rebellion als Mittel zum Zweck geglaubt – ob um des Imperiums willen oder zu seinem eigenen Vorteil, das wußte Owen noch immer nicht; doch allmählich begann er die Motive seines Vaters zu verstehen. Je mehr er erkannte, mit welch schrecklichen Methoden die Löwenstein ihre Herrschaft aufrechterhiel-ten, desto mehr wurde ihm bewußt, daß er das Imperium mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpfen mußte. Owen brachte es noch immer nicht fertig, seinem Vater zu vergeben oder ihn gar zu lieben – jenen Mann, der den Ausbil-dern und Lehrern seines Sohnes befohlen hatte, den Jungen windelweich zu prügeln, immer und immer wieder, in dem Versuch, das geheime Vermächtnis der Todtsteltzer hervorbre-chen zu lassen und an die Oberfläche zu zwingen: den Zorn. Eine Mischung aus genetisch manipulierten Drüsen und spezieller Ausbildung, die einen Todtsteltzer für einen kurzen Zeitraum stärker , schneller und gerissener werden ließ als jeden normalen Menschen. Schließlich hatte es auch funktioniert, doch Owen erinnerte sich nur an den Schmerz und das Blut – und all das nur, um eine Gabe in ihm zu wecken, die er überhaupt nicht hatte haben wollen. Erst vor kurzem war Owen bewußt geworden, warum der alte Todtsteltzer so verzweifelt versucht hatte, seinen Sohn zu einem Kämpfer zu machen statt zu einem Gelehrten. Der alte Todtsteltzer hatte gewußt, daß ein Gelehrter nicht imstande sein würde, sich den Kräften zu wi-dersetzen, die sich nach seinem Tod auf seinen Sohn stürzen würden. Und er hatte verdammt recht damit gehabt. Genauso, wie Owen zu einem der Führer der neuen Rebellion und damit zu einem Kämpfer für die Gerechtigkeit geworden war, so war er schließlich auch seines Vaters Sohn geworden. Und erst nachdem Owen die Wahrheit erkannt hatte, war ihm bewußt geworden, wieviel er verloren hatte und wie wichtig es für ihn war herauszufinden, wer seinen Vater ermordet hatte. Er blickte auf, als Chance ihn ungeduldig zu sich winkte. Owen ging zu ihm hinüber und blieb vor einer Pritsche stehen, in der ein Mädchen von höchstens zehn Jahren lag. Das Kind trug schäbige Kleidung, die zwei Nummern zu groß war, und es warf sich unruhig auf seiner Liege hin und her, als würde es in seinem Schlaf durch laute Stimmen gestört, die nur es allein hören konnte. Es hatte die Augen geschlossen, doch hin und wieder murmelte es unverständliche Worte und ganze Sätze. Für Owen ergab nichts davon einen Sinn. Chance kniete neben der Pritsche nieder und zog eine halbvolle Papiertüte mit Bonbons hervor . Er nahm ein Bonbon und knetete es in den Fingern, bis es weich und geschmeidig war, dann steckte er es in den schlaffen Mund des Kindes. Das Kind fing langsam an zu kauen. Chance näherte sich mit dem Mund dem rechten Ohr des Mädchens. »Zeit, das Spiel zu spielen, Katie«, sagte er. »Zeit, mir all die Dinge zu erzählen, die du weißt. Hier bei mir ist Owen Todtsteltzer. Er möchte wissen, wer seinen Vater getötet hat. Wes-sen Hand führte die Klinge, die seinem Leben ein Ende setzte? Wer war es, Katie?« Das Mädchen runzelte die Stirn und schürzte unglücklich die Lippen, doch es wachte nicht auf. Nach einer Weile schluckte es den Rest des Bonbons herunter und sprach mit klarer Stimme: »Diese Frage hast du mir vor langer Zeit schon einmal gestellt. Die Antwort ist noch immer die gleiche. Es war der lächelnde Mörder, der Hai in seichten Gewässern, der Mann, der nicht aufgehalten werden kann, es sei denn, durch seine eigene Hand. Sein Name ist Kid Death. Kid Death hat den Todtsteltzer getötet.« Owen nickte langsam. In seinem Gesicht regte sich kein Muskel, doch seine Hände waren zu Fäusten geballt. Er hatte nicht erwartet, diesen Namen zu hören; es überraschte ihn auch nicht. Kid Death war eine Zeitlang der Lieblingsassassine der Imperatorin gewesen. Sein richtiger Name lautete Lord Kit Sommer-Eiland. Inzwischen war er ein Befürworter der Rebellion und ein Freund von Owens entferntem Vetter, der den Titel des Lord Todtsteltzer angenommen hatte, nachdem Owen für vogelfrei erklärt worden war. Zur Zeit waren beide nach Virimonde unterwegs, der ruhigen Hinterwelt, die einst Owen gehört hatte. Es spielte keine Rolle. Und es spielte auch keine Rolle, daß Owen und Kid Death inzwischen auf der gleichen Seite kämpften . Owen würde ihn töten, sobald die Rebellion ihn nicht mehr benötigte, ebenso wie jeden, der ihm dabei in den Weg trat . Ein zögerndes Grinsen erschien auf Owens Gesicht, und er öffnete die Fäuste wieder. Wenigstens etwas, wor-auf er sich freuen konnte. »Du bist nicht hergekommen, um mir diese Frage zu stellen«, sagte das Kind unvermittelt. Seine Augen bewegten sich unruhig unter den geschlossenen Lidern. »Es gibt noch etwas, das du mich fragen möchtest. Etwas, das du wissen mußt. Frag mich. Frag mich.« »In Ordnung«, erwiderte Owen. Seine Brust war mit einemmal wie zugeschnürt, und es kostete ihn Mühe, ein Beben aus seiner Stimme zu halten. »Als ich das letzte Mal hier war, wurde mir erzählt, wie ich sterben würde. Ich muß wissen, ob sich daran etwas geändert hat.« »Nein«, antwortete das Mädchen tonlos. »Du wirst hier in Nebelhafen sterben, allein und verlassen, im Kampf gegen eine Übermacht, die niemand alleine zu schlagen vermag. Und nach deinem Tod werden sie nicht einmal davor zurückschrecken, dir deine Stiefel zu stehlen.« »Wann?« fragte Owen. »Wann wird das geschehen?« »Deine Frage bezieht sich auf einen Zeitpunkt«, entgegnete das Kind und wandte den Kopf ab. »Ich habe die Zeit nie verstanden.« »Versuch es bitte«, verlangte Owen. »Versuch es, verdammt noch mal!« Er streckte die Hände aus, um das Mädchen an den Schultern zu packen, doch Chance kam ihm zuvor und zog ihn von der Pritsche weg. Owen schüttelte den schweren Mann ohne jede Mühe ab; aber der Augenblick war vergangen, und er hatte sich wieder unter Kontrolle. Schwer atmend stand er über dem schlafenden Kind… und wandte sich ab. »Es spielt keine Rolle«, sagte er schließlich mehr zu sich selbst als zu Chance. »Ich weiß seit Virimonde, daß ich für jeden neuen Tag dankbar sein muß. Ich hätte eigentlich schon dort sterben sollen. Nur ein Wunder hat mich gerettet. Niemand darf mehr als ein Wunder in seinem Leben erwarten. Trotzdem ist es hart, sein eigenes Todesurteil zu hören und zu wissen, daß es nichts, aber auch wirklich absolut gar nichts gibt, das man daran ändern könnte.« »Wenn Ihr die Antworten nicht hören wollt, dann dürft Ihr die Fragen nicht stellen«, erklärte Chance. »Außerdem habe ich ja bereits gesagt: Ihr dürft den Vorhersagen der Präkos nicht trauen. Würden sie sich niemals irren, dann wäre ich inzwischen längst ein reicher Mann. Ich gebe Euch ein Beispiel: Seit einer ganzen Weile sagen meine Kinder übereinstimmend, daß etwas wirklich Böses auf dem Weg nach Nebelhafen ist, aber nicht zwei von ihnen stimmen darin überein, um was zur Hölle es sich dabei handelt. Ich habe nichts weiter als einen Namen: Legion. Und bis jetzt seid Ihr das einzig Unangenehme, das hier aufgetaucht ist…« »Es spielt keine Rolle«, unterbrach ihn Owen. »Wenn ich sterben muß, dann sterbe ich aufrecht, wie es sich für einen Todtsteltzer gehört .« »Oh, sehr poetisch!« spottete Chance. »Gott bewahre mich vor Helden. Seht mal, ich habe ein Geschäft, das weiterlaufen muß. Paßt auf, daß Euch die Tür bei Eurem Weg nach draußen nicht in den Rücken schlägt.« »Seid still!« fauchte Owen. »Wir haben noch einiges zu besprechen. Meine ersten Fragen waren rein persönlicher Natur. Jetzt kommen wir zu den wirklich wichtigen Dingen. Ich bin hier als Repräsentant der Untergrundbewegung von Golgatha, und ich rufe in ihrem Namen offiziell das alte Spionagenetz meines Vaters in Nebelhafen wieder ins Leben zurück. Er hat nicht allein Euch und Abraxus finanziell unterstützt; es gibt über die Stadt verteilt Dutzende von Leuten und Geschäften, die er gegründet und unterstützt hat, als Gegenleistung für das Sammeln und Weiterleiten nützlicher Informationen. Einige dieser Geschäfte scheinen tatsächlich äußerst erfolgreich zu laufen. Sie sind zu Macht und Einfluß gelangt, und das in einer Stadt wie dieser. Nach der Ermordung meines Vaters trocknete der Informati-onsfluß nach und nach aus. Wahrscheinlich dachten sie, sein Tod befreie sie von ihren Verpflichtungen . Ich bin gekommen, um ihnen klarzumachen, daß sie sich geirrt haben. Heute bin ich der Todtsteltzer, und jetzt treibe ich die Schulden ein, mitsamt Zinsen. Das alte Netzwerk wird seine Arbeit wieder aufnehmen, und diesmal wird es seine Informationen an die Rebellion weiterleiten, oder ich werde höchstpersönlich jeden einzelnen dieser Hurensöhne in den Ruin treiben. Einschließlich Euch, Chance.« »Scheiße!« entfuhr es dem Manager des Abraxus-Informationszentrums. »Wenn Ihr es so nennen wollt…« Owen grinste fröhlich. »Ihr könnt damit anfangen, mir Namen und Orte zu nennen, die Ihr kennt. Den Rest erfahren wir von Euren Espern. Im Anschluß daran werdet Ihr mir dabei behilflich sein, ein Treffen aller beteiligten Parteien zu arrangieren, und zwar noch im Laufe des heutigen Tages genaugenommen innerhalb der nächsten zwei Stunden, falls ihnen an ihren Geschäften und einigen lebenswichtigen Innereien noch etwas liegt. Fangt an, Chance. Ich habe viel zu tun, und vielleicht bleibt mir nicht soviel Zeit, wie ich ursprünglich dachte, um alles zu erledigen .« Chance nahm durch seine Esper mit den richtigen Leuten Verbindung auf, eine Prozedur, von der Owen ganz definitiv aus-geschlossen war. Er wartete ungeduldig auf den Stufen vor den Geschäftsräumen und überlegte, ob er seine Initialen in die Tür oder lieber in die Mauer schnitzen sollte. Chance tauchte ein paar Minuten später wieder auf und zuckte beim Anblick von Owens Werk zusammen. Wortlos führte er Owen die Außentreppe hinunter und in das verwirrende Labyrinth enger Straßen und Gassen, aus dem das Zentrum von Nebelhafen bestand. Der Nebel war dünner geworden, doch inzwischen hatte ein feiner, störender Nieselregen eingesetzt und den Schnee unter ihren Schritten in rutschigen Matsch verwandelt. Owen hielt sich dicht hinter Chance und versuchte, nicht an das zu denken, was er gerade seinen nicht eben billigen neuen Stiefeln antat. Nach einer Weile verließen sie das Händlerviertel und kamen ins Quartier der Gilden. Die Straßen und Gebäude hier befanden sich in einem sichtlich besseren Zustand. Es gab richtiges Pflaster, und in regelmäßigen Abständen brannten helle Laternen, einige davon sogar mit elektrischem Licht. Die Gebäude waren ebenso dekorativ wie funktional, und die vorüberkom-menden Menschen sahen reicher, wenn schon nicht glücklicher aus als ihre Nachbarn im Händlerviertel. Vor einem der älteren Gildehäuser blieb Chance schließlich stehen. Er wartete einen Augenblick, damit Owen das Haus betrachten und gebührend beeindruckt sein konnte. Es war ein massives, flaches Gebäu-de, drei Stockwerke hoch, gotische Bögen, große Glasfenster. Hunderte hölzerner Rokoko-Kinkerlitzchen bedeckten jeden freien Quadratzoll. Die Dach rinnen endeten in großen, gemeißelten Wasserspeiern aus Stein, aus deren Mäulern sich Wasser ergoß, was den unvorteilhaften Eindruck erweckte, als würden die Skulpturen sich auf die Passanten erbrechen. Vielleicht war das sogar Absicht. Schließlich war das hier ein Gildehaus. Owen wollte Chance nicht vor den Kopf stoßen, indem er ihm sagte, daß er an Löwensteins Hof beeindruckendere Toiletten gesehen habe, also nickte er nur nachdenklich, um zu zeigen, daß er genügend beeindruckt war, und bedeutete Chance mit einer Geste vorauszugehen. Vor dem Eingang standen zwei bewaffnete Wachen. Sie verbeugten sich respektvoll vor Chance, während sie Owen ignorierten. Er verzichtete darauf, sie zu töten. Schließlich wollte er keine Szene machen. Noch nicht. Das Foyer hinter den mächtigen Türen war groß, gemütlich und äußerst repräsentativ. Die Wände waren mit Paneelen aus glänzendem Holz verkleidet, der Holzboden auf Hochglanz gebohnert, und alles strahlte im Licht elektrischer Lampen – Lampen, die nicht so sehr dazu dienten, Licht zu erzeugen, sondern um gebührende Bewunderung hervorzurufen. Die zahlreichen Möbel und anderen Einrichtungsgegenstände waren luxuriös bis hin zur Opulenz. Der Raum stank förmlich nach Geld wie eine alte Familienbank. Owen verspürte einen Hauch von Heimweh. Nachdem sie durch den Eingang getreten waren, ihre Stiefel auf dem Metallrost abgetreten und den Schneematsch von ihren Umhängen gebürstet hatten, trat ihnen ein Butler in den Weg. Der Mann trug einen altmodischen Frack, eine gepuderte Pe-rücke und auf dem Gesicht einen lange geübten Ausdruck höchster Mißbilligung. Chance reichte ihm seine Visitenkarte, und der Mann nickte kaum wahrnehmbar. Dann nahm er Chances und Owens Umhänge mit Daumen und Zeigefinger und reichte sie einem Lakaien, der sich beeilte, sie entgegenzunehmen. Anschließend verlangte er, daß die Besucher ihre Waffen herausgaben, und damit fing der Ärger an. »Ich gebe meine Waffen niemandem«, widersprach Owen energisch. »Macht keinen Wirbel«, riet ihm Chance. Er öffnete seinen Gürtel und reichte dem Butler das Schwert. »Es ist nicht persönlich gemeint. Normale Sicherheitsbestimmungen. Jeder macht das.« »Ich bin aber nicht jeder«, entgegnete Owen . »Und ich behalte meine Waffen. Sie würden sich ohne mich nackt fühlen.« »Ich muß darauf bestehen«, erklärte der Butler in eisigem Ton. »Wir lassen nicht jeden Dahergelaufenen von der Straße herein, wißt Ihr?« Owen versetzte ihm einen Kinnhaken. Der bewußtlose Butler stürzte mit einem befriedigend lauten Poltern in einiger Entfernung auf den gewachsten Holzboden und schlitterte noch einen guten Meter, bevor er reglos liegenblieb. Überall drehten sich Köpfe nach Owen um. Einige der Anwesenden schienen seine Tat durchaus gutzuheißen. Aus bis dahin verborgenen Nischen und Türen stürzten Wachen mit gezogenen Schwertern – und verharrten zu Salzsäulen erstarrt, als Owen demonstrativ die Hand auf den Griff seiner Energiewaffe legte. »Er gehört zu mir«, sagte Chance in die plötzliche Stille hinein. »Obwohl ich wünschte, es wäre nicht so. Er wird erwartet.« Die Sicherheitsleute warfen sich fragende Blicke zu, zuckten die Schultern und steckten die Schwerter wieder weg. Ganz offensichtlich waren sie zu dem Schluß gekommen, daß dieses Problem sie nichts anging. Die übrigen Leute im Foyer dachten offenbar genauso und wandten sich wieder ihren leisen Gesprächen zu. Owen nickte liebenswürdig lächelnd in alle Richtungen, während der bewußtlose Butler weggetragen wurde. »Bitte macht das nicht noch einmal«, sagte Chance. »Der erste Eindruck ist verdammt wichtig.« »Das denke ich auch«, entgegnete Owen. »Und jetzt setzt Euch endlich in Bewegung, oder soll ich erst noch in die Blu-mentöpfe pinkeln?« »Ich wünschte, ich könnte glauben, daß das ein Scherz war«, brummte Chance. »Hier entlang. Versucht wenigstens , niemand Wichtigen umzubringen, ja?« Sie drangen in die Tiefen des Gebäudes vor. Offensichtlich hatte es Chance ziemlich eilig. Die Umgebung blieb ge-schmackvoll luxuriös. Diener und richtige Menschen eilten schweigend hin und her, um irgendwelche wichtigen Dinge zu erledigen. Sprechen war anscheinend verpönt oder gar verboten, denn Owen hörte nichts außer einem gelegentlichen Rüstern. In ihm wuchs das lausbübische Bedürfnis, sich von hinten an eine der schweigenden Ikonen heranzuschleichen und laut »Buh!« zu rufen, nur um zu sehen, was anschließend passieren würde. Leider hatte er keine Zeit dafür. Aber vielleicht auf dem Rückweg? Alle sahen glatt und geschäftsmäßig aus, die Kleidung ein wenig altmodisch – aber das hier war schließlich auch nur die Nebelwelt. Die Menschen schienen Chance zu kennen, und niemand verpaßte die Gelegenheit, ihm naserümpfend hinter-herzublicken, wenn sie glaubten, er würde es nicht sehen. Chance ignorierte sie hochmütig. Schließlich endete der Korridor in einem Vorzimmer vor einer grimmig dreinblickenden Sekretärin, deren einzige Aufgabe es zu sein schien, ihren Vorgesetzten vor unerwünschten Besuchern zu schützen. Sie war schlank, wenn nicht gar dürr, und sie sah aus, als sei sie hart genug, um Glas zu zerbeißen . Wahrscheinlich schärften die Wachen in ihrer Freizeit die Schwerter an ihr . Die Kleidung der Frau verbarg sorgfältig jeden Hinweis auf Weiblichkeit, und ihr Blick war streng genug, um jedes Unkraut welken zu lassen. »Falls Ihr keinen Termin habt, kann ich nichts für Euch tun«, erklärte sie in einem Ton, der so kalt war, daß ein Pinguin er-froren wäre. »Falls Ihr es wünscht, kann ich Euch natürlich einen Termin geben, doch ich weiß jetzt schon, daß Herr Neeson in den nächsten Wochen keinen Platz mehr in seinem Ka-lender hat.« Chance blickte zu Owen. »Weiter kann ich Euch nicht helfen. Es gibt Hindernisse, die sind für mich einfach zu groß. Und bitte, schlagt sie nicht.« »Daran würde ich nicht einmal im Traum denken«, entgegnete Owen. »Ich würde mir wahrscheinlich sowieso nur die Hand brechen.« Er beugte sich über den Schreibtisch und starrte der Sekretärin in die feuersteinharten Augen. »Mein Name ist Owen Todtsteltzer. Meines Vaters Geld hat dieses Geschäft ermöglicht. Ich bin gekommen, um die Schuld einzutreiben. Und zwar sofort.« Die Sekretärin zuckte ob dieser Worte noch nicht einmal zusammen, obwohl bei der Nennung des Namens Todtsteltzer eine Augenbraue leicht nach oben wanderte. »Ich verstehe. Ich bin sicher, daß Herr Neeson unter normalen Umständen nur allzu gerne bereit wäre, mit Euch zu sprechen; doch wie die Dinge im Augenblick stehen… Mein Schreibtisch ist übervoll mit…« Owen trat zurück und zog das Schwert. Er holte schwungvoll aus und ließ es mit all seiner Zorn-verstärkten Kraft auf den Schreibtisch niederkrachen. Die Klinge zerteilte das hölzerne Möbel sauber in der Mitte, und die beiden Hälften fielen polternd rechts und links der Sekretärin um. Chance schüttelte langsam den Kopf. Owen steckte das Schwert wieder ein, als sei nichts geschehen. Die Sekretärin räusperte sich vorsichtig. »Ich denke, Ihr könnt direkt zu Herrn Neeson hinein, Lord Todtsteltzer. Ich bin sicher, Herr Neeson wird ein paar Minuten für Euch erübrigen können. Ich werde dafür sorgen, daß man Euch nicht stört. Mag einer der Herren vielleicht einen Tee oder Kaffee?« »Bringt einen Brandy«, antwortete Owen. »Einen großen, bitte. Herr Neeson wird ihn sicher gebrauchen können.« Grinsend wandte er sich an Chance. »Man muß eben wissen, wie man mit diesen Leuten zu reden hat. Meine Familie hat seit Jahrhunderten Übung in diesen Dingen. Was mich angeht, ich habe schon immer gewußt, daß ich das Zeug zu einem großartigen Diplomaten in mir habe.« »Noch seid Ihr nicht drin«, widersprach Chance. »Das hier ist nur das äußere Büro. Hinter dieser Tür befindet sich ein weiteres Vorzimmer. Dort drinnen erwarten uns die eigentlichen Wachhunde.« »Schön, wenn sie bissig werden, werfe ich ihnen einen Knochen hin. Welchen würdet Ihr am wenigsten vermissen, Chance?« Sie gingen durch die Verbindungstür und fanden sich in einer kleinen, leeren Kammer wieder. Zwischen ihnen und der gegenüberliegenden Tür standen drei große, muskulöse Burschen. Jeder der drei hielt eine mächtige Axt in den Pranken. Die Männer erweckten einen ruhigen und äußerst professionellen Eindruck, und ihre Äxte sahen ganz danach aus, als seien sie häufig im Einsatz gewesen. Chance blickte zu Owen. »Ein interessantes taktisches Problem, nicht wahr? Kein Raum zum Ausweichen, und es ist vollkommen sinnlos, mit ihnen zu reden. Einen könntet Ihr vielleicht mit Eurem Disruptor ausschalten, doch die beiden anderen wären über Euch, bevor Ihr das Schwert auch nur ziehen könntet . Außerdem ist ein Schwert gegen eine Axt sowieso zwecklos. Wie Ihr Euch sicher denken könnt, bin ich außerstande, Euch zu helfen. Ich muß meine strikte Neutralität wahren. Das versteht Ihr sicher.« »Selbstverständlich. Normalerweise wäre ich genauso neutral und unbeteiligt, wenn ich mich drei Neandertalern wie diesen gegenübersähe. Unglücklicherweise jedoch bin ich in ziemlicher Eile – unglücklicherweise für die drei, meine ich –, ganz zu schweigen von meiner sich ständig verschlechternden Laune. Sie kommen mir gerade recht, um mich ein wenig abzureagieren. Also paßt auf, mein guter Chance. Paßt auf und lernt.« Owen trat mit leeren Händen vor, und die drei Wachen kamen ihm mit erhobenen Äxten entgegen. Es dauerte kaum eine Sekunde. Owen schlug den ersten Gegner mit der Faust be-wußtlos, wirbelte auf einem Bein herum und trat dem zweiten in den Unterleib. Und während der dritte noch immer mit der Axt ausholte, machte Owen einen Schritt nach vorn, packte den Mann mit beiden Händen am Kragen und stieß ihm den Kopf ins Gesicht. Chances Kiefer klappte herab. Owen stand ungerührt da und schaute sich mit stiller Befriedigung um. Er atmete nicht einmal schneller. Die drei Wachen saßen oder lagen stöhnend auf dem Boden und sahen insgesamt ausgesprochen schlecht aus. »Ihr hattet recht«, bemerkte Chance. »Ihr würdet tatsächlich einen großartigen Diplomaten abgeben. Niemand würde es wagen, anderer Meinung zu sein. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der sich so unglaublich schnell bewegt hat. Was zur Hölle seid Ihr?« »Ich bin ein Todtsteltzer. Vergeßt das nie wieder.« Owen trat zur gegenüberliegenden Tür und betätigte die Klinke. Die Tür war verschlossen. Owen rief eine laute Warnung und warf sich mit der Schulter gegen das Holz, und die Tür gab mit lautem Krachen nach. Eine Angel war aus dem massiven hölzernen Rahmen gerissen worden. Owen hielt die Tür fest, richtete sie vorsichtig wieder hochkant auf und lächelte dann das halbe Dutzend erschrockener Männer an, das sich an einem langen Tisch versammelt hatte. »Klopf klopf«, sagte er fröhlich. »Mein Name ist Owen Todtsteltzer, und Ihr befindet Euch in ernsten Schwierigkeiten. Gibt es Fragen dazu?« »Kommt herein, Lord Todtsteltzer«, sagte der Mann am Kopf der Tafel. »Wir haben Euch bereits erwartet.« »Ja«, erwiderte Owen. »Jede Wette, daß Ihr das habt.« Er blickte über die Schulter zu Chance. »Sucht Euch einen Stuhl, setzt Euch und haltet den Mund. Ich will nicht, daß Ihr mich ablenkt.« »Das paßt mir ausgezeichnet«, erwiderte Chance. »Ich möch-te diese Schau um nichts in der Welt versäumen. Aber Ihr seid ganz auf Euch allein gestellt, Todtsteltzer, das wißt Ihr.« Die sechs Männer funkelten Chance wütend an, als er sich einen Stuhl heranzog und dann in einer Ecke des Zimmers Platz nahm, wo er alles sehen konnte, ohne in die Schußlinie zu geraten. Owen trat an das Ende des langen Tisches, und aller Augen richteten sich wieder auf ihn. Er ließ sich Zeit, während er ein wütendes Gesicht nach dem anderen in sich aufnahm. Er kannte keinen der Sechs; doch er erkannte Männer mit Macht und Einfluß, wenn er sie sah – nicht an ihren perfekt geschneiderten Garderoben oder an ihrem Übergewicht, sondern an ihrem Verhalten. Sie waren verärgert über seine Ankunft, aber nicht besorgt. Sie empfanden keine Furcht vor ihm. Sie waren schon so lange reich und geborgen, daß sie sich nicht mehr vorstellen konnten, wie das war, sich vor jemandem zu fürchten. Owen grinste kurz. Das zumindest würde er ändern. Vielleicht fühlte er sich durch sie ein klein wenig an sich selbst erinnert, an den Owen Todtsteltzer auf Virimonde, bevor er wachgerüttelt worden war – und falls das zutraf, dann um so schlimmer für sie. »Möchtest du vielleicht, daß ich diese Leute für dich identifiziere?« erkundigte sich Ozymandius in seinem Ohr. »Ich habe in meinen Datenbänken sämtliche Einzelheiten über sie.« »Gern, warum nicht?« flüsterte Owen unhörbar. »Mach dich endlich mal nützlich . Moment mal – Datenbänke? Wo steckt deine Hardware? Du bist schließlich tot!« »Werde bitte nicht persönlich. Und paß auf, was ich zu sagen habe. Ich werde mich nicht wiederholen. Wir fangen links an und gehen im Uhrzeigersinn weiter. Der erste ist Artemis Daley. Ein Händler. Er besorgt alles, vorausgesetzt, der Preis stimmt. Legal oder illegal: Um solche Kleinigkeiten hat er sich nie gekümmert. Wer sich mit der Bezahlung verspätet, kriegt es mit seinen Knochenbrechern zu tun. Neben Daley haben wir Timothy Neeson, Bankier. Ihm ge-hört dieses Gebäude, ebenso wie viele andere hier in Nebelhafen. Er ist die Nummer eins in seinem eng begrenzten Gebiet, und das bedeutet, daß er in Nebelhafen sehr viel Macht besitzt. Kein Geschäft in Nebelhafen, an dem er nicht mitverdient. Der nächste in der Reihe ist Walt Robbins, der größte Grundbesitzer der Stadt. Ihm gehört fast alles, was nicht der Bank gehört. Seine Spezialität sind billige Arbeitskräfte und Slums, weil damit das meiste Geld zu verdienen ist. Auf der anderen Seite des Tisches haben wir Thomas Stacey. Er ist der Rechtsanwalt für die anderen Anwesenden – und für jeden sonst, der über genügend Geld verfügt , um seinen hohen Maßstäben zu entsprechen. Er hat noch nie einen Prozeß verloren; aber das hat nichts mit seinen anwaltlichen Fähigkeiten zu tun. Schließlich sind da noch Matthew Conelly und Padraig McGowan. Conelly ist der Besitzer der Docks , angefangen beim Raumhafen bis hin zu den Landestellen im Autumnusfluß , und McGowan ist der Boß der Dockarbeitergewerkschaft. Sie mau-scheln untereinander , ganz gleich, wer dafür zahlen muß. Zusammen sind sie diejenigen, die in Nebelhafen bestimmen, wo es langgeht. Sieh sie dir gut an, in all ihrer anrüchigen Pracht. Wenn du sie umbringst, würde sich die Luft in Nebelhafen schlagartig beträchtlich verbessern.« »Ich wußte gar nicht, daß du so viele Daten über Nebelhafen besitzt«, murmelte Owen erstaunt. »Du weißt eine ganze Menge nicht, Owen Todtsteltzer. Ich bin verdammt groß, und ich weiß einiges.« »Habt Ihr uns etwas zu sagen, Todtsteltzer?« erkundigte sich Neeson, der Bankier. Er war ein großer fetter Mann mit einer straff über dem Bauch sitzenden Weste. »Oder wollt Ihr einfach nur dastehen und uns den lieben langen Tag anstarren?« »Ich habe nur meine Gedanken gesammelt«, antwortete Owen. »Schließlich haben wir eine gemeinsame Vergangenheit, meine Herren. Dem Geld meines Vaters habt Ihr Eure heutige Stellung zu verdanken. Todtsteltzer-Geld. Ursprünglich dazu gedacht, ein geheimes Informationsnetzwerk hier auf der Nebelwelt zu errichten. Mein Vater hat Euch in Positionen gebracht, wo Ihr Macht und Einfluß hattet, damit Ihr die Dinge für ihn im Auge behalten konntet. Statt dessen habt Ihr sein Geld benutzt, um noch mächtiger zu werden und die Geschicke dieser Stadt in die Hand zu nehmen. Ihr wurdet so reich und mächtig, daß Ihr Eure ursprüngliche Aufgabe vergessen habt. Vielleicht habt Ihr auch einfach nur beschlossen, daß derart reiche und mächtige Gestalten, wie Ihr es seid, sich nicht mehr um irgendwelche Aufträge zu scheren brauchten.« »Ihr habt es erfaßt«, erwiderte Stacey, der Rechtsanwalt. Er war lang und hager, und auf seinen Wangen waren geplatzte Aderchen zu sehen. »Und wir verspüren nicht die geringste Lust, uns wieder vor irgendeinen politischen Karren spannen zu lassen. Wir denken nicht mehr in derart kleinkarierten Bahnen. Wir haben es geschafft, und das Leben gefällt uns so. Wir sind es, die bestimmen, was in Nebelhafen geschieht. Wir sind das ökonomische Lebensblut, das diese Gesellschaft am Leben erhält. Legt Euch mit uns an oder wagt es gar, uns zu drohen, und die Wirtschaft der ganzen Stadt bricht in sich zusammen. Wir sorgen schon dafür. Die Menschen würden ihre Ersparnisse verlieren; das Geld wäre nichts mehr wert, und eine Hun-gersnot bräche aus, während sich auf den Docks die Nahrung stapelt und darauf wartet, verteilt zu werden. Ihr könnt uns nichts anhaben, Todtsteltzer. Sämtliche Bewohner von Nebelhafen würden sich gegen Euch erheben und Euch in Stücke reißen, solltet Ihr auch nur den Versuch wagen.« »Sie würden darüber hinwegkommen«, entgegnete Owen. »Sobald sie sehen, daß das alte korrupte System durch ein ge-rechteres ersetzt wird.« »Gerechtigkeit ist ein relatives Konzept«, entgegnete Robbins, der Grundbesitzer. Er war ein kleines dickes Faß von einem Mann. »Arme und Reiche wird es immer geben. Wir sorgen für Stabilität. Ihr habt nicht die leiseste Ahnung von den wirtschaftlichen Realitäten einer abtrünnigen Welt wie der uns-rigen.« »Ich weiß sehr gut, was Geldgier ist«, erwiderte Owen. »Ich weiß genau, wie Verrat und Eigennutz riechen. Und ich erkenne mit einem einzigen Blick blutsaugenden Abschaum.« »Das ist gut«, sagte Ozymandius. »Zieh sie durch Schmei-cheleien auf deine Seite.« »Wir wissen, aus welchem Grund Ihr hergekommen seid«, meldete sich Daley zu Wort, der Händler und Schieber, ein großer Mann mit eingezogenen Schultern und einem finsteren Gesicht. »Ihr wollt uns unser Hab und Gut nehmen, im Namen der Rebellion und Eurer naiven Politik. Schön, mein Junge, Ihr seid einen weiten Weg gekommen, und zwar umsonst. Unser Einfluß erstreckt sich mittlerweile bis weit über die Nebelwelt hinaus. Wir tätigen Investitionen auf zahlreichen Welten des Imperiums. Sogar auf Golgatha. Elias Gutmann war sehr hilfreich bei der Zusammenstellung unserer Portfolios. Ja, ich dachte mir, daß Ihr diesen Namen kennt. Ein Mann von wirklicher Macht und großem Einfluß. Er hat uns verraten, daß Ihr kommen würdet.« »Gutmann«, sagte Owen. Er spuckte den Namen aus, als sei er eine Obszönität. »Er ist der Rebellion mehr als einmal um den Bart gestrichen. Ich wußte schon immer, daß seine Interessen auf Seiten des Imperiums liegen. Seine Informationen stammen direkt von der Löwenstein. Wenn Ihr seinem Ratschlag gefolgt seid, dann wart Ihr nichts weiter als Marionetten der Imperatorin, und das hier, auf dem Planeten der Rebellen. Wißt Ihr überhaupt, wie man ›Interessenkonflikt‹ buchsta-biert?« »Geld kennt keine Loyalität«, erklärte Neeson. »Genausowenig wie Politik. Gutmann war stets ein guter Freund von uns.« »Jede Wette, daß er das war«, erwiderte Owen. Seine Stimme wurde mit jedem Wort kälter. »Und wenn seine Kredite schließlich fällig werden, preßt Ihr das Geld aus den Leuten von Nebelhafen, die Schulden bei Euch haben. Egal ob sie bezahlen können oder nicht. Die Nebelwelt wird nichts anderes mehr sein als ein ganz gewöhnlicher Planet des Imperiums, der ausblutet, um den Reichtum Golgathas zu mehren.« Er blickte den Männern der Reihe nach in die Gesichter und sah nichts als gleichgültiges Schulterzucken und ausdruckslose Mienen. »So sind Geschäfte eben«, sagte Daley schließlich. »Das sind keine Geschäfte, das ist Ungerechtigkeit«, widersprach Owen. »Und ich habe bei meinem Blut und meiner Ehre einen Eid geschworen, daß ich jeder Form von Ungerechtigkeit ein Ende bereite, und das schließt Euer Tun mit ein. Vielleicht werde ich Euch alle töten und sehen, ob Eure Nachfolger zu einer vernünftigeren Zusammenarbeit fähig sind. Aber egal wie es auch kommen mag: Euer Geld wird die Rebellion unterstützen, genau wie es von Anfang an geplant war. So wie es mein Vater gewollt hat.« »Das glaube ich nicht«, entgegnete Neeson. »Wachen! Packt ihn!« Auf beiden Seiten des Raums flogen Türen auf, und eine kleine Armee von Wachen stürzte herein. Sie waren mit Schwertern und Äxten und zum Teil sogar mit Disruptoren bewaffnet. Owen fiel in seinen Zorn, und eine vertraute Kraft durchflutete seinen Körper. Er fühlte sich beinahe übernatürlich wach und bewußt, als hätte er sein ganzes bisheriges Leben im Halbschlaf verbracht. Er spürte, daß er alles vollbringen konnte, und daß er jedem Risiko gewachsen war, ohne die Folgen fürchten zu müssen. Owen riß sich zusammen. Das war der Zorn, der da sprach, und nicht Owen Todtsteltzer. Owen benutzte ihn in letzten Zeit zu häufig und zu ausgedehnt, trotz der damit verbundenen Gefahren, und er wußte es. Doch er vertraute auf die Veränderungen, die sein Körper im Labyrinth des Wahnsinns erfahren hatte, vertraute darauf, daß sie ihn vor den normalerweise verkrüppelnden Nebenwirkungen schützten. Ihm blieb keine andere Wahl; er hatte so viel zu tun. Das Blut hämmerte in seinem Kopf und in seinem Schwertarm. Es rief ihn zur Schlacht, und er ergab sich mit einem Grinsen in sein Schicksal. Die Wachen schienen sich nur noch in Zeitlupe zu bewegen. Owen warf sich mitten ins dichteste Getümmel, und er wußte, daß die wenigen Disruptoren nicht auf ihn abgefeuert werden würden, solange die Gefahr bestand, die eigenen Leute zu treffen . Sein Schwert blitzte hell auf. Er führte es mit unmenschlicher Kraft und Geschwindigkeit, und bald spritzte Blut durch die Luft. Rufe und Flüche und hysterische Befehle von den sechs Männern am Tisch, und über allem die entsetzlichen Schreie der Verwundeten und Sterbenden, während Owens Klinge wie ein Schlachtermesser in ihren Leibern wütete. Er bewegte sich unter seinen Feinden wie ein tödlicher Geist, viel zu schnell, um aufgehalten oder gar pariert zu werden, und sein Schwert hielt blutige Ernte. Owen war überall zugleich, schlug und stach und schnitt, und vor ihm fielen Männer, die blanke Furcht auf den Gesichtern. Ein abgetrennter Arm zuckte über den Boden, und das Blut der Leichen tränkte die schweren Teppiche. Ein Disruptorstrahl sog eine schwarze Brandspur längs über den massiven Tisch, ohne jemanden zu treffen. Feuer flackerte auf. Owen lachte laut, obwohl in seiner Stimme keine Spur von Humor lag. Die Schlacht raste von einem Ende des Raums zum anderen, und die Wände wurden von Blut bespritzt, bis die ursprüngliche Farbe nicht mehr zu erkennen war. Die sechs mächtigsten Männer von ganz Nebelhafen wichen von der brennenden Tafel zurück und drängten sich ängstlich in einer Ecke des Raums zusammen. Ungläubig mußten sie mit ansehen, wie ein einzelner Mann ihre gesamte Privatarmee nieder-metzelte. Und dann, von einem Augenblick auf den anderen, war es vorbei. Owen Todtsteltzer stand zwischen den Toten und Sterbenden, ein schreckliches Grinsen im Gesicht. Langsam schaute er sich um, während Blut dick und träge von seiner Klinge tropfte. Seine Kleidung war davon durchtränkt, und nicht ein Tropfen gehörte ihm. Er atmete nicht einmal schneller. Dann richtete er sein Grinsen auf die sechs führenden Männer von Nebelhafen, und sie wanden sich unter seinem Blick. Owen ging aus dem Zorn, doch die erwartete Erschöpfung blieb aus. Er fühlte sich noch immer, als könnte er gegen die gesamte Stadt antreten, wenn es sein mußte. Chance kroch unter dem brennenden Tisch hervor, wo er in Deckung gegangen war. Owen streckte die Hand aus, um dem Manager von Abraxus auf die Beine zu helfen. Chance zuckte ängstlich zu-rück. Er rappelte sich auf und blickte Owen aus ungläubigen Augen an. »Sie hatten nicht den Hauch einer Chance! Ihr habt die Wachen abgeschlachtet wie Vieh! Wer in Gottes Namen seid Ihr?« »Ich bin der Todtsteltzer«, entgegnete Owen. »Vergeßt das nie.« Owen drehte sich wieder zu den sechs Männern um, die sich in einer Ecke des Raums drängten. Kaum einer brachte es fertig, seinen Blick zu erwidern. Ohne Eile ging Owen auf sie zu und stieg dabei gelassen über reglose Körper. Seine Stiefel verursachten schmatzende Geräusche auf dem blutdurchtränkten Teppich . Stacey, der Rechtsanwalt, starrte ihm mit einem Ausdruck von Trotz in den Augen an. »Ihr seid ein Monstrum. Ihr könnt uns trotzdem nicht schlagen. Wir haben Geld. Wir können neue Männer anheuern. Wir können eine ganze Armee von Söldnern anheuern, falls es nötig ist, um Euch zu Fall zu bringen.« »Heuert nur Eure Armee an«, sagte Owen. »Laßt sie nur alle kommen. Sie retten Euch nicht.« »Ihr könnt uns nicht umbringen!« rief Neeson. »Wenn wir sterben, landet alles Geld beim Testamentsvollstrecker. Es könnte Jahre dauern. Niemand käme heran.« »Niemand wird mich aufhalten«, entgegnete Owen. »Weder Ihr noch das Gesetz oder das gesamte verdammte Imperium. Euer Tag ist zu Ende, und ich bringe Euch die Nacht.« »Ihr seid vollkommen wahnsinnig!« kreischte Daley. »Genau wie Euer verdammter Vater!« »Mein Vater war mehr wert als hundert von Eurer Sorte!« erwiderte Owen und steckte das Schwert ein. Er war viel zu wütend. Er wollte es mit bloßen Händen tun. Erneut raste Zornverstärkte Kraft durch seine Adern und da war noch etwas anderes. Er packte die lange schwere Tafel, ignorierte die Flammen, hob sie vom Boden hoch und riß sie auseinander. Achtlos warf er die beiden Teile von sich und rückte auf die sechs heimlichen Herren von Nebelhafen vor . Schreiend flüchteten sie zur Tür. Chance folgte ihnen auf dem Fuß. Sie rannten durch das Vorzimmer und kreischten um Hilfe, während Owen sie vor sich her trieb. Er war jetzt mehr als nur ein Mensch; er wütete wie eine unaufhaltsame Naturgewalt. Seine Wut raste durch Korridore und Räume und zerstörte alles, was ihr in den Weg kam. Wände rissen und stürzten ein; Ziegelsteine bröckelten, und Mörtel verwandelte sich zu Staub. Große Löcher erschienen im Boden und in der Decke. Holz fing ohne ersichtlichen Grund an, in einem grellen, unnatürlichen Feuer zu brennen. Menschen flohen schreiend aus dem Gebäude, während überall Decken ein-brachen und herabfallendes Mauerwerk sie zu begraben drohte. Die teppichbedeckten Gänge wogten wie die Wellen eines Ozeans, bevor sich Spalten wie bei einem Erdbeben auftaten. Und hinter allen kam Owen Todtsteltzer, schweigend und unerbittlich, und er brachte die großartige Gildenhalle zum Einsturz, so wie er eines Tages auch das Imperium stürzen würde, das durch sie repräsentiert wurde. Einige wenige tapfere Wachen stellten sich ihm entgegen; doch sie wurden beiseitegefegt wie Blätter im Wind. Türen wurden aus ihren Angeln gerissen oder explodierten in ihren Rahmen. Fenster zerbarsten, und Glassplitter segelten wie Schrapnell umher. Stapel von Akten und Papieren flatterten wie erschreckte Vögel durch die Luft. Rohrleitungen platzten, und überall entstanden Wasserfontänen. Freigelegte elektrische Leitungen knisterten und sprühten Funken. Das gesamte Bauwerk schien im Todeskampf aufzuheulen, während es langsam in sich zusammenfiel. Owen Todtsteltzer stapfte durch das Chaos und den Lärm, und er genoß sein Werk. Eine tapfere Seele feuerte mit einem Disruptor auf ihn, doch der Energiestrahl prallte harmlos ab. Nichts und niemand konnte Owen aufhalten. Schließlich erreichte er die letzten Tür, die schwere Tür, durch die er das Gebäude wenige Minuten zuvor betreten hatte. Sie flog bei seiner Annäherung krachend aus den Angeln und auf die Straße hinaus, der Menschenmenge vor die Füße, die sich neugierig vor der Halle versammelt hatte. Die Leute redeten durcheinander und beobachteten ungläubig , wie das massive Gebäude einstürzte. Als Owen auf der Straße erschien, verstummten sie und wichen zurück. Die Owen umgebende Macht war in der Luft spürbar wie der Herzschlag eines Riesen. Er ließ seinen Geist ins Gebäude zurücktreiben, um sicherzugehen, daß niemand in seinem Innern gefangen war; dann brachte er es endgültig zum Einsturz. Das Krachen herabfallender Mauerstücke donnerte durch die Straßen, und Rauch und Staub quoll aus leeren Fensteröffnungen und Eingängen. Nur Sekunden später war von dem Bauwerk, das einst eine der größten Gildenhallen von ganz Nebelhafen gewesen war, nur noch ein Haufen Trümmer übrig. Stille breitete sich aus. Die Gebäude ringsum hatten nicht einen Kratzer abbekommen. Und der Mann, der für all das verantwortlich war, blickte auf sein Werk und fand es gut. Langsam ließ er seine Kräfte versiegen und schloß sie in seinem Innern weg. Er war wieder ein gewöhnlicher Mensch. Und genau in diesem Augenblick zeigte sich die Stadtwache. Alle zehn. Sie blieben in sicherer Entfernung stehen und beobachteten vorsichtig den weiteren Verlauf der Ereignisse. Owen lächelte ihnen freundlich zu. »Eine Privatangelegenheit«, rief er. »Feindliche Übernahme, sozusagen. Nichts, um das Ihr Euch Sorgen machen müßtet, meine Herren.« Die Stadtwachen blickten zu Owen, dann zu den Überresten des Gildehauses, und schließlich schauten sie sich gegenseitig an, bevor sie entschieden, die Gegend zu räumen und woanders die Stadt zu bewachen. Die sechs ehemaligen heimlichen Herren von Nebelhafen riefen den Stadtwachen klagend hinterher, doch sie wurden ignoriert. Die Stadtwache mischte sich nicht in private Streitigkeiten ein. Schließlich war das hier Nebelhafen. Die sechs wandten sich zögernd um und schauten zu Owen, der sich vor ihnen aufgebaut hatte und ein unfreundliches Grinsen zeigte. »Ihr armen Bastarde würdet auf Golgatha nicht einmal fünf Minuten überleben«, sagte er ruhig. »Man würde Euch bei lebendigem Leib auffressen und anschließend nach einem Dessert rufen. Und jetzt werdet Ihr machen , was man Euch sagt, dann werdet Ihr das Ganze vielleicht überleben. Auf die Knie!« Sie gehorchten widerspruchslos. Sämtlicher Wille zum Widerstand hatte sie verlassen. »Ihr habt einen neuen Meister, Herrschaften. Von nun an wird Euch wieder ein Todtsteltzer sagen, wo es langgeht . Ihr werdet in Eure zweifelsohne tiefen Taschen greifen und das Informationsnetz genauso wieder errichten, wie es mein Vater ursprünglich geplant hat. Ihr werdet eine Organisation wieder-beleben, die Informationen sammelt und verarbeitet, um den Menschen von Nebelhafen zu dienen und sie zu schützen, insbesondere vor Angreifern und Einflüssen von außerhalb. Darüber hinaus werdet Ihr die Errichtung neuer Verteidigungsanlagen für diesen Planeten finanzieren. Der psionische Schild wurde durch die Esperseuche arg geschwächt , also benötigen wir ein gutes System neuester Technologie, um ihn zu verstärken. Ihr werdet Euch darum kümmern. Zum Schluß noch eins: Das Geld meines Vaters war von Anfang an dazu bestimmt, den Bewohnern dieser Stadt ein ge-rechteres und leichteres Leben zu ermöglichen. Ich erwarte eine Reihe weitreichender, praktischer Vorschläge dazu. Von Euch allen, schriftlich und innerhalb einer Woche. Sollte sich einer der Herren verspäten, werde ich ihn an die Wand nageln, um die anderen zu motivieren. Ich meine das durchaus wörtlich.« »Aber… aber es gibt Aktionäre!« protestierte Neeson. »Leute, denen wir verantwortlich sind. Sie werden niemals zulassen, daß wir all das…« »Schickt sie zu mir«, unterbrach ihn der Todtsteltzer. »Ich werde sie überzeugen. Hat sonst noch jemand etwas zu sagen? Nein? Gut. Ihr lernt rasch, wie ich sehe. Und jetzt werdet Ihr meinen Befehlen gehorchen, und zwar bis ins kleinste Detail, oder ich kremple Euch von innen nach außen . Ist das klar?« Sie nickten eifrig. Owen kehrte ihnen den Rücken zu und stapfte die Straße hinunter davon. Er spürte noch immer die Macht, die das Labyrinth des Wahnsinns ihm verliehen hatte. Sie hüllte ihn ein wie ein schützender Umhang. Das Labyrinth des Wahnsinns hatte ihn auf eine Weise verändert, die er noch immer nicht verstand; doch die Macht war real, und sie gehorchte ihm, und er genoß sie. Er fühlte sich, als könne er alles erreichen, wenn er es nur wollte. Es war ein wunderbares Ge-fühl, die Dinge auf eine so direkte und einfache Weise ins rechte Lot zu bringen. »Ist dir eigentlich bewußt«, meldete sich Ozymandius in seinem Ohr, »daß du in die falsche Richtung marschierst, falls du wieder zum Stadtzentrum zurück möchtest?« »Halt die Klappe, Ozymandius. Ich habe gerade meinen dra-matischen Abgang.« Owen beschloß, in die gemieteten Räume zurückzukehren und zu sehen, wie weit Hazel mit Silver gekommen war. Er konnte kaum abwarten, das Gesicht des Sicherheitschefs zu sehen, wenn er ihm erzählte, was er mit dem Gildehaus gemacht hatte. Vielleicht beeindruckte er sogar Hazel damit – zumindest ein ganz klein wenig. Owen sorgte sich um sie. Trotz seiner neuen Macht spürte er die mentale Verbindung nicht mehr, die zwischen Hazel und ihm bestanden hatte. Außerdem wollte er mit ihr über seine neue Kraft sprechen und wie sie sich anfühlte. Vielleicht besaß Hazel sie auch. Es gab so viel zu bereden. Owen Todtsteltzer stapfte durch die Straßen Nebelhafens, und selbst der Nebel ging ihm aus dem Weg. Hazel d’Ark und John Silver, alte Gauner und noch ältere Freunde, saßen in gemütlichen Sesseln zu beiden Seiten eines offenen Kaminfeuers und tranken heiße Schokolade aus schäbigen Porzellanbechern. Beide starrten schweigend auf die kleine Phiole mit schwarzem Blut auf dem kleinen Beistell-tisch. Sie sah nicht gefährlich aus, diese Phiole – aber das tun gefährliche Dinge eigentlich nie. Beide wußten, was das Blut bewirken konnte , was es ihnen gab und was es ihnen nahm, und es war ein Zeichen von Willenskraft und Stärke, daß sie noch immer zögerten. Blut war ein Rauschgift, das von den Wampyren stammte. Es war das synthetische Plasma der aufgerüsteten Männer. Schon ein paar Tropfen reichten aus, damit ein normaler Mensch sich stark und schnell und voller Selbstvertrauen fühlte. Jedenfalls solange man es nahm. Blut erzeugte ein wunderbares Gefühl von Lebendigkeit es war, als sei die normale Welt nichts weiter als ein böser, grauer, deprimieren-der Alptraum, aus dem man endlich erwacht war. Der Effekt hielt natürlich niemals lange an, und nach und nach benötigte man immer höhere Dosen, um die gleiche Wirkung zu erzielen. Und langsam, Tropfen um Tropfen, verbrannte das Blut einen von innen heraus . Es war geschaffen worden, um Wampyre von den Toten zurückzubringen und ihnen übermenschliche Kraft und Schnelligkeit zu verleihen. Es war nie dazu gedacht gewesen, in einem normalen menschlichen Kreislauf zu koexi-stieren. Trotzdem wollten Menschen es haben. Sie brauchten es, und sie waren bereit, dafür zu kämpfen und zu töten… und es gab immer jemanden, der es synthetisierte und vermarktete – für den richtigen Preis, versteht sich. Ganz besonders auf einem Planeten wie der Nebelwelt. »Es ist wirklich ganz einfach«, sagte Silver. »Als Leiter der Sicherheitsbehörde des Raumhafens besitze ich Zugang zu allem, was auf unseren Straßen beschlagnahmt wird. Und da ich außerdem die Aufzeichnungen der Lektronen kontrolliere, wird niemand etwas bemerken, wenn ich mir hin und wieder ein paar Tropfen für mich selbst und ein paar besondere Freunde nehme. Du kannst ein Höllenloch wie Nebelhafen nicht ohne eine Stütze leiten, auf die du dich hin und wieder lehnst. Und nicht alle von uns haben das Zeug zum unbestechlichen Helden wie Investigator Topas. Allerdings bin ich nicht süchtig danach. Ich kann es kontrollieren. Bei dir bin ich mir nicht so sicher, Hazel. Du warst schon immer gierig auf dieses Zeug. Dein letzter Entzug hätte dich um ein Haar das Leben gekostet. Willst du das wirklich alles noch einmal durchmachen?« Hazel starrte in ihren Becher und schwieg . »Du weißt nicht, welcher Druck auf mir lastet, John«, sagte sie schließlich. »Zuviel ist in zu kurzer Zeit geschehen. In der einen Minute war ich noch ein kleiner Fisch, und in der nächsten schon bin ich ein Rebell und alle sind hinter mir her – einschließlich einiger Leute, die ich eigentlich auf meiner Seite geglaubt habe. Solange ich kämpfen und um mein Leben rennen mußte und nicht die Zeit fand zum Nachdenken, ging es mir gut. Aber jetzt… Was ich auch tue, es ist von Bedeutung, und was ich auch sage, es hat Konsequenzen – nicht nur für mich, sondern für die ganze verdammte Rebellion. Sie haben mich zu einer verdammten Heldin und Anführerin gemacht, und sie erwarten von mir, daß ich vollkommen bin. Doch das ist noch nicht einmal alles. Auf der Wolflingswelt, da… da ist irgendwas mit mir passiert, John. Irgend etwas hat mich… verändert. Ich bin nicht mehr das, was ich einmal war. Ich bin mehr. Und ich habe die ganze Zeit über Angst. Ich kenne mich selbst nicht mehr. Ich habe Alpträume, und ich weiß nicht, ob sie in der Vergangenheit spielen oder in der Zukunft. Schreckliche Dinge, fremdartige Dinge geschehen in meinen Träumen. Nur das Blut hilft dagegen. Es… es stabilisiert mich. Ich werde ruhiger. Und es hilft mir zu glauben, daß ich noch immer ein Mensch bin.« Sie setzte ihren Becher ab und streckte die Hand aus. Die kleine Glasphiole sprang vom Tisch, segelte durch die Luft und landete direkt in Hazels wartender Hand. Silver starrte Hazel entgeistert an. »Ich wußte gar nicht, daß du ein Esper bist, Hazel!« stammelte er. »Ich bin auch keiner. Ich bin irgend etwas anderes. Ich bin… mehr als ein Esper.« Hazel schraubte die Kappe der Phiole ab und roch genießerisch an der schwarzen Flüssigkeit im Innern . Sie blähte die Nüstern, als ihr der vertraute Geruch schwer und rauchig in die Nase stieg. Hazel saugte ihn förmlich in die Lungen, und in ihren Adern schienen Funken zu knistern. Vorsichtig neigte sie die Phiole und ließ einen einzelnen Tropfen Blut auf ihre Zunge fallen. Sie schluckte ihn rasch herunter, um den bitteren Nachgeschmack zu vermeiden; dann schloß sie die Phiole rasch wieder und stellte sie auf den Tisch, um nicht in Versuchung zu geraten, einen zweiten Tropfen zu nehmen. Schließlich lehnte sich Hazel in ihrem Sessel zurück und stöhn-te laut auf, als die vertraute Hitze durch ihren Körper strömte und ihr zu neuer Kraft, neuem Selbstvertrauen und neuer Energie verhalf. Der Druck, die Pflichten und die Zweifel, die sie plagten, waren wie weggewischt. Zum ersten Mal seit Tagen entspannten sich ihre Gesichtszüge. Zögernd lächelte sie. Es war ein wunderbares Gefühl. Silver beobachtete Hazel. Er schwieg, bis er sicher war, daß die Wirkung eingesetzt hatte. Ursprünglich hatte er geplant, selbst etwas zu nehmen; doch die Erinnerung an das, was Hazel in der schlimmsten Zeit ihrer Sucht gewesen war, hatte ihn umgestimmt. Er war kein Junkie. Er hatte sich selbst unter Kontrolle. Also blieb er sauber und beschloß, Hazel zu helfen, indem er über sie wachte. Noch während er dies dachte, riß Hazel die bis dahin halb geschlossenen Augen auf, sprang aus ihrem Sessel und blickte wild um sich. Silver stand ebenfalls auf, setzte seinen Becher ab und packte Hazel an den Armen. Sie schien ihn nicht zu bemerken, und ihre Arme waren so steif und unnachgiebig wie Stahlstreben. Silver beobachtete sie besorgt. Man mußte vorsichtig sein mit Plasmasäufern, wenn man nicht selbst Blut getrunken hatte. Dank ihrer neugewonnenen Kräfte konnten sie einen normalen Menschen im Handumdre-hen töten, und sie würden einen Dreck darauf geben, auch wenn der Effekt des Blutes wieder nachgelassen hatte. Hazel drehte den Kopf von einer Seite zur anderen und starrte wild mit weit aufgerissenen Augen in einem plötzlich verhärmt wirkenden Gesicht um sich. »Hazel?« sagte Silver und bemühte sich um einen ruhigen Tonfall. »Was ist? Stimmt etwas nicht?« »Es… es ist anders«, antwortete Hazel mit schwerer Zunge. »Ich bin anders. Ich hätte hier auf dieser Welt kein Blut trinken dürfen. Nicht mit so vielen Espern ringsum. Sie… beeinflus-sen mich. Ich kann nicht mehr unterscheiden, was in meinem Kopf ist und was draußen. Das Blut hat irgend etwas in mir aufgeweckt… etwas, von dem ich nicht einmal wußte, daß es da war. Ich kann Dinge sehen, John. Viele Dinge. Nichts ist mehr vor mir verborgen.« Sie starrte auf die Wand vor sich, und plötzlich war die Mauer verschwunden! Es dauerte einen Augenblick, bis Silver begriff, daß er sah, was Hazel sah. Ihr Bewußtsein hatte sich mit dem seinen verbunden und zeigte ihm, was im benachbarten Zimmer vor sich ging: Der junge Dieb und Einbrecher namens Katze leerte einen kleinen Lederbeutel voller glänzender Juwelen auf einen Tisch, und seine Hehlerin, die Frau namens Cyder, lachte und klatschte in die Hände. Hazel drehte den Kopf in eine andere Richtung, und die Wand wurde wieder sichtbar. Sie starrte die gegenüberliegende Wand an, die daraufhin ebenfalls verschwand und den Blick auf eine Runde sich streitender Kartenspieler freigab. Silver wollte Hazel schütteln; doch sie war so steif und hart wie eine Statue. Plötzlich schaute sie ihm in die Augen, und im gleichen Augenblick fühlte er sich nackt und durchschaubar, als würde sie alles von ihm wissen, Gutes und Böses und die Dinge dazwischen. Hazel schien größer geworden zu sein, größer als Silver, und sie ragte über ihm auf wie ein antiker Gott der Gerechtigkeit ohne jede Spur von Mitleid oder Gnade. Silver wich zurück und ließ Hazels Arme los, als hätte er sich verbrannt. Hazels Blick richtete sich nach innen, und rings um sie herum entstanden Bilder und Visionen. Sie kamen und gingen im Sekundentakt, und sie zeigten Gesichter und Orte, von denen Silver zumindest einige erkannte. Ein alter Mann saß zusammengesunken auf einer Pritsche, erschöpft und gescheitert am Leben selbst. Er trug Hausmei-sterkleidung. »Sie haben mich gebrochen«, sagte er. »Geht, und sucht Euch einen anderen Führer und Heilsbringer.« Dann war er verschwunden, und Owen Todtsteltzer nahm seinen Platz ein. Er blutete aus zahlreichen Wunden und hieb mit dem Schwert auf unsichtbare Feinde ein. »Wenn Ihr die Lücke erkennt, dann rennt los, Hazel! Ich halte sie solange auf.« Ein Mob aus Schatten stürmte von allen Seiten heran, und der Todtsteltzer ging schwertschwingend zwischen ihnen unter. Die Szene verschwand, und eine grinsende Ruby Reise erschien. »Ich mache nur wegen der Beute mit.« Silver unternahm einen zweiten Versuch, Hazel aus ihrer Trance zu rütteln; doch er kam noch nicht einmal in ihre Nähe. Die Erinnerungen besaßen die Macht der Wirklichkeit. Ruby Reise wich einer großen, pelzigen, wolfsähnlichen Gestalt. Mit plötzlichem Schrecken erkannte Silver, daß er einen der legendären Wolflinge vor sich hatte. Das riesige Wesen blickte Silver tief in die Augen und sagte: »Eine traurige und bittere Ehre, der letzte seiner Art zu sein.« Er verschwand und wurde von einem Hadenmann mit leuchtenden goldenen Augen ersetzt. Hinter dem Hadenmann ragte ein gewaltiger Bie-nenstock aus Gold und Silber auf, der dick mit Eis überzogen war. Die lange verlorene Gruft der Hadenmänner. Der aufgerüstete Mann namens Tobias Mond starrte Silver an und sagte mit seiner summenden, unmenschlichen Stimme: »Wir wollten nie etwas anderes als unsere Freiheit.« Und dann schmolz das Eis, und die Luft verschwamm in seltsamen Farben, als die Hadenmänner aus ihrer Gruft kamen, großartig und glorreich und perfekt jenseits aller Menschlichkeit. Dann war wieder Owen Todtsteltzer zu sehen, der Hazel traurig in die Augen schaute. »Ihr könnt nicht gegen das Böse kämpfen, indem Ihr selbst böse werdet.« Hazel wandte sich von ihm ab und blickte zu Silver, und der Todtsteltzer verschwand. Ihre Augen trafen sich, und neue Visionen erschienen. Silver, der mit Halsabschneidern und Abschaum Geschäfte machte, um den Frieden auf Nebelhafens Straßen zu erhalten. Silver, der Knochenbrecher wie Markus Rhein auszahlte, damit sie ihn und seine Blutgeschäfte in Ruhe ließen. Silver, der das Gesicht abwandte, während Rivalen mundtot gemacht wurden, mit Geld oder auf die harte Tour. Die Visionen verblaßten, und Hazel schaute Silver aus kalten Augen an. »Nur ein paar Tropfen hin und wieder, für dich und ein paar besonders gute Freunde, wie? Scheiße! Du hast ein richtiges Drogengeschäft aufgezogen und überall in der Stadt deine Verteiler! Wie viele neue Plasmakinder gibt es inzwischen dort draußen, John? Wie viele Blutsüchtige liegen kalt und steif in leeren Zimmern, weil sie deine Preise nicht mehr zahlen konnten?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Silver. »Ich versuche, nicht darüber nachzudenken. Ich… ich schlage mich eben durch, wie jeder andere in Nebelhafen auch. Seit der Esperseuche haben wir eine irrsinnige Inflation . Das Geld ist mittlerweile noch nicht einmal mehr halb soviel wert wie zuvor. Meine gesamten Ersparnisse sind vor die Hunde gegangen. Würde ich es nicht tun, gäbe es jemand anderen. Das weißt du doch selbst, Hazel. Ich wollte niemals irgend jemanden verletzen, aber…« »Ja«, unterbrach ihn Hazel schroff. »Es gibt immer ein ›Aber‹. Nicht wahr, John?« Silver trat einen Schritt vor und streckte die Hand nach ihr aus. Hazel ergriff sie, und Silver zuckte ob der rohen, unnachgiebigen Kraft in Hazels Fingern zusammen. Sie lächelte ihn kalt an. »Die Schau ist noch nicht vorüber, John. Du hast die Vergangenheit und die Gegenwart gesehen. Jetzt ist die Zukunft an der Reihe – ob du es nun willst oder nicht.« Ihre Hand hielt die seine eisern umklammert. Silver schrie laut auf, als der Raum ringsum im Chaos verschwand. Menschen rannten schreiend durch die Straßen Nebelhafens. Häuser brannten. Imperiale Angriffsschlitten rasten durch den Himmel. Energiestrahlen schossen durch heraufquellende Wolken aus schwarzem Rauch. Überall lagen Tote. Kriegsmaschinen rissen die Stadtmauern nieder. Brennende Barken trieben über einen blutroten Autumnusfluß voller Leichen – und über allem tönte ein nicht enden wollender Schrei, der nichts Menschliches mehr an sich hatte. Hazel ließ Silvers Hand los, und plötzlich befand er sich wieder in seinem Wohnzimmer mit dem gemütlichen Kaminfeuer. Silver wich einen Schritt zurück. Er zitterte am ganzen Leib. Sein Kopf war noch immer voll vom Gestank vergossenen Blutes und brennender Leichname, und der unheimliche Schrei klingelte noch immer in seinen Ohren. Hazel stand da und beobachtete ihn, kalt und erbarmungslos wie ein griechisches Orakel. »Das ist die Zukunft, John«, sagte sie. »Deine Zukunft, und meine. Und du hast geholfen, sie so zu gestalten. Irgend etwas Böses ist auf dem Weg zur Nebelwelt. Etwas sehr, sehr Böses. Und es dauert nicht mehr lange, bis es hier sein wird.« Und dann plötzlich und ohne Vorwarnung war sie wieder nur noch Hazel, und die Aura von Macht und Erhabenheit, die sie umgeben hatte, war verschwunden. Sie sank in ihren Sessel am Feuer, und sie wirkte klein und erschöpft und äußerst verletzlich. Silver trat langsam vor und setzte sich in den Sessel ihr gegenüber. Ein Teil von ihm wäre nur allzu gerne schreiend aus dem Zimmer gerannt, doch er konnte nicht. Ein Teil von ihm war zu Tode erschrocken und der Panik nah, voller Angst vor dem unheimlichen Wesen, zu dem seine alte Freundin Hazel geworden war, aber er durfte es nicht zeigen . Sie brauchte ihn; sie brauchte ihren alten Freund und Kameraden, und trotz der vielen Schlechtigkeiten , die er zu verantworten hatte – für einige davon schämte er sich tatsächlich –, wollte John Silver verdammt sein, wenn er Hazel jetzt im Stich lassen würde. Lange Zeit saßen sie schweigend beieinander, und das einzige Geräusch im Zimmer war das Knistern und Knacken des Kaminfeuers. Trotz der lodernden Flammen war es plötzlich ungemütlich kalt. »Was ist mit dir geschehen?« fragte Silver schließlich. »Früher hattest du diese Kräfte jedenfalls nicht.« Hazel grinste erschöpft. »Was ist mit dir geschehen, John? Was ist aus den Menschen geworden, die wir einst waren?« »Früher, als wir noch jung waren, war alles viel einfacher«, erwiderte Silver und starrte ins Feuer, weil es ihm leichter fiel, als Hazel in die Augen zu schauen. »Du warst Söldner; ich war Pirat, und wir waren beide davon überzeugt, zu Großem bestimmt zu sein. Wir waren ein großartiges Trickbetrügerduo. Drei Jahre ohne Pause zogen wir den Engel-der-Nacht-Schwindel ab, erinnerst du dich? Obwohl ich persönlich den Sternentor-Trick besser fand. Ich hatte viel Spaß beim Zeichnen der Karten. Sie waren so beeindruckend, richtige kleine Kunstwerke. Hätte uns nicht unser Glück verlassen, würden wir heute noch die gleiche Show abziehen.« »Wir wurden zu gierig«, warf Hazel ein. »Das auch.« »Die Dinge waren wirklich einfacher. Das stimmt. Es hieß, wir gegen sie, und wir haben nur diejenigen um ihr Geld erleichtert, die es sich leisten konnten. Eine einfache, unschuldige Zeit. Aber sie ging vorüber, und wir haben uns verändert. Wir sind nicht mehr das, was wir einmal waren, John. Unsere Freunde sind nicht mehr die gleichen, und unsere Interessen ebenfalls nicht. Wir haben nichts mehr gemeinsam bis auf unsere Erinnerungen und das Blut. Und keins von beidem tröstet mich auch nur halb soviel wie früher. Können wir uns gegenseitig überhaupt noch vertrauen, John?« »Das müssen wir wohl«, entgegnete Silver. »Weil es niemand sonst tut.« »Owen schon«, widersprach Hazel. Silver riß sich vom Anblick des Kaminfeuers los und blickte ihr in die Augen. »Du kennst ihn besser als ich«, sagte er. »Wie ist er in Wirklichkeit, dieser Owen Todtsteltzer?« »Er ist ein guter Mann, obwohl es ihm nicht bewußt ist . Ein richtiger Held, wie er im Buche steht . Tapfer und hingebungs-voll und viel zu verdammt ehrlich, als gut für ihn wäre. Früher oder später wird er diese Rebellion ganz allein anführen. Nicht, weil er sich danach drängt, sondern weil er der verdammt noch mal beste Mann für die Aufgabe ist. Owen ist ein netter Kerl; aber es gibt so vieles, das er nicht versteht; zum Beispiel der Druck von Verantwortung und die Unsicherheit, die weniger vollkommene Menschen wie dich und mich dazu bringt, Blut zu trinken oder rein oberflächliche Beziehungen zu unterhalten. Owen hat in seinem ganzen Leben noch nie eine Krücke gebraucht, auf die er sich hätte stützen müssen. Er erkennt, was richtig ist, und er macht genau das, obwohl er sich die ganze Zeit über beschwert und jammert. Aber damit täuscht er niemanden. Owen ist ein aufrechter Mann in einer miesen Zeit.« »Du liebst ihn, nicht wahr?« fragte Silver. »Das habe ich nicht gesagt«, entgegnete Hazel. Silver wußte, was als nächstes kommen würde. Er beugte sich vor, bis ihre Gesichter nur noch wenige Zoll voneinander entfernt waren – und dann küßte er Hazel, und beide wußten, daß es ein Abschied war. Und genau in diesem Augenblick betrat Owen Todtsteltzer das Zimmer und sah sie beide zusammen. Er blieb mitten im Eingang stehen und schwieg, während Hazel und Silver sich hastig voneinander lösten und auf-sprangen. Einen langen Augenblick sagte niemand ein Wort. Hazel atmete schwer; doch sie errötete nicht. Silver sah, wie Owens Hand zum Schwert an der Hüfte zuckte, sah die Kälte in Owens Augen und wußte, daß er dem Tod sehr nahe war – nicht, weil der Todtsteltzer eifersüchtig war, sondern weil das hier ein Geheimnis zuviel, ein Betrug zuviel gewesen war. Und dann glitten die Augen des Todtsteltzers zur der Phiole auf dem Tisch, und alles änderte sich. Owen wußte, was sich im Innern der Phiole befand, und was es zu bedeuten hatte. In seinem Geist kämpften Wut und endlose Müdigkeit miteinander. »Das ist es also«, flüsterte er. »Kein Wunder, daß unsere mentale Verbindung so schlecht war, mit all diesem Dreck in deinem Kopf, Hazel. Wie lange hängst du schon wieder dran?« »Eine ganze Weile.« »Woher hattest du es?« »Von den Hadenmännern. Sie waren sehr verständnisvoll.« Hazels Stimme schwankte zwischen Trotz und Flehen um Verständnis. »Ich brauche es, Owen.« »Warum hast du mir nichts davon gesagt?« »Weil ich wußte, wie du reagieren würdest! Du hast keine Ahnung, unter welchem Druck ich stehe!« »Wir waren von Anfang an zusammen! Was hast du durchgemacht, was ich nicht durchgemacht habe? Verdammt noch mal, Hazel, ich hatte mich auf dich verlassen und darauf, daß du deine Aufgabe in Nebelhafen erfüllst! Ich kann nicht alles allein machen! Unsere Arbeit hier ist wichtig!« »Das weiß ich selbst!« Hazel funkelte ihn an. Sie ballte die Fäuste, bis die Knöchel weiß hervortraten. »Du verläßt dich auf mich. Der Untergrund verläßt sich auf mich. Die ganze verdammte Rebellion verläßt sich auf mich! Ist denn niemandem von euch in den Sinn gekommen, daß ich es satt haben könnte, soviel Verantwortung zu tragen? Wir sind nicht alle Übermenschen so wie du, Todtsteltzer! Nicht jeder von uns ist zum Helden geboren! Du hast wahrscheinlich in deinem ganzen Leben nicht ein einziges Mal gezögert oder geschwankt, stimmt’s? Du hast immer gewußt, was richtig ist und was falsch. Aber wir anderen, wir sind nicht so vollkommen!« »Ich bin nicht vollkommen«, erwiderte Owen . »Ich tue nur meine Arbeit, und von dir habe ich das gleiche erwartet, Hazel.« »Du hörst mir nicht zu!« fauchte Hazel. »Du hast mir noch nie zugehört!« »Warum hast du mir nie etwas von Silver und dir erzählt?« »Weil es dich einfach nichts angeht!« »Du hast auch nie über Blut gesprochen. Was hast du mir sonst noch alles verschwiegen, Hazel? Ich habe wirklich geglaubt, ich könnte wenigstens dir vertrauen, Hazel.« »Siehst du? Du machst es schon wieder! Du versuchst schon wieder, alles auf mich abzuwälzen, damit du hinterher als Opfer dastehen kannst! Zur Hölle damit, Todtsteltzer! Zur Hölle mit dir! Ich bin es leid! Ich will einfach nicht mehr! Ich habe es satt, das Gewicht deiner Erwartungen auf den Schultern zu tragen! Und ich kann deine Gegenwart nicht mehr ertragen…!« »Ja«, unterbrach sie Owen. »Du hast ja schließlich Silver und das Gift, das er dir zu fressen gibt. Du willst alles, nur nicht erwachsen werden und Verantwortung übernehmen. Nur nicht diejenigen unterstützen, die sich auf dich verlassen. Sich nur nicht um die sorgen, die dich lieben. Du willst Silver: Er gehört dir, Hazel, dir ganz allein. Ich muß raus hier. Ich brauche frische Luft.« Owen machte auf dem Absatz kehrt und stapfte davon. Krachend warf er die Tür ins Schloß . Er war so wütend, daß er Hazel wahrscheinlich geschlagen hätte, wenn er geblieben wäre, und sie wußten beide, daß sie das niemals vergessen und noch weniger verzeihen würde. Auch hätte er vor lauter Wut John Silver am liebsten auf der Stelle getötet . Owen hatte gehofft, daß er und Hazel… daß sie vielleicht eines Tages… Doch Owen hatte so vieles gehofft, und nichts davon war je in Erfüllung gegangen. Owen hatte schon so viele Dinge verloren, die ihm etwas bedeutet hatten. Es hätte ihn nicht überraschen dürfen, daß ihm auch die einzige Frau genommen wurde, die er je geliebt hatte. Er hätte erst gar nicht nach Nebelhafen zurückkehren sollen. Von Anfang an war alles schiefgelaufen. Es hatte nicht den geringsten Einfluß auf Hazel. Sie ging ihren eigenen Weg, und daran würde sich auch nichts ändern, das wußte Owen. Aber er hatte geglaubt, sie hätte beschlossen, wenigstens eine Weile mit ihm zu gehen. Jederzeit hätte sie mit ihren Sorgen und Nöten zu ihm kommen können – auch mit ihrer verdammten Sucht. Er hätte versucht, sie zu verstehen, und er hätte ihr geholfen. Owen wußte, was Druck bedeutete. Sein ganzes Leben hatte er unter dem Druck gelebt, dem Namen Todtsteltzer gerecht zu werden. Owen stapfte mit schweren Schritten die Treppe hinunter und schob sich durch die dichtgedrängte Menge im Schankraum. Einige der Gäste schienen gegen sein rüpelhaftes Verhalten protestieren zu wollen; doch ein Blick in Owens Gesicht reichte aus, um sie davon abzuhalten . Owen stieß die Tür auf und trat hinaus auf die Straße. Die kalte Luft traf ihn wie ein Schlag. Hinter ihm fiel die Tür wieder ins Schloß. Owen lehnte sich gegen die Wand und kämpfte gegen seine Wut an, bis er sich wieder ein wenig beruhigt hatte. Es dauerte einen Augenblick, bis er bemerkte, daß er allein auf der Straße war – was für eine derart geschäftige Stadt wie Nebelhafen ausgesprochen merkwürdig war. Gesichter beobachteten ihn hinter dunklen Fensterscheiben, als erwarteten sie, daß jeden Augenblick etwas geschah. Owen stieß sich von der Wand ab und trat hinaus auf die Straße; die Hände hatte er auf seine Waffen gelegt. Gefahr lauerte in der Dunkelheit. Er hätte es viel früher bemerkt, wäre er nicht so sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen. Unvermittelt erschienen drei Männer auf der gegenüberliegenden Straßenseite und starrten ihn an. Entweder waren sie herbeiteleportiert, oder – was wahrscheinlicher war – sie hatten sich bis jetzt hinter einem telepathischen Schirm verborgen. Sie sahen nicht sonderlich beeindruckend aus: durchschnittliche Größe, durchschnittliche, leere Gesichter und Fellkleidung, wie sie in Nebelhafen üblich war. Doch in ihnen lauerte eine Macht, die Owen spüren konnte, obwohl ihm ihre Natur noch nicht ganz klar war. Der Mann in der Mitte trat einen Schritt vor. Seine Augen wirkten in dem blassen Gesicht unnatürlich dunkel. »Ihr habt Feinde, Todtsteltzer. Mächtige Männer, die Euren Tod wollen.« »Zur Hölle«, erwiderte Owen. »Jetzt habe ich aber Angst! Was wollt Ihr drei mit mir anstellen? Mich zusammenschla-gen? Seht mal, ich bin im Augenblick wirklich nicht in Stimmung dazu. Warum lauft Ihr nicht einfach weg? Ich gebe Euch fünf Minuten Vorsprung .« Der Mann lächelte nur und schüttelte den Kopf. »Zeit zu sterben, Todtsteltzer .« Plötzlich schien der Boden unter Owens Füßen lebendig zu werden, und er verlor das Gleichgewicht. Sofort griff er nach seinem Schwert, und gleichzeitig tat sich vor ihm ein breiter Abgrund auf, und Risse breiteten sich in alle Richtungen aus. Blutrotes Licht strahlte hell aus der Tiefe, und mit einemmal war die Luft erfüllt vom Gestank von Schwefel und verbranntem Fleisch. Die schmerzerfüllten Schreie unzähliger Menschen drangen von tief unten herauf. Der Untergrund erzitterte aufs neue, und während Owen noch um sein Gleichgewicht kämpfte, wurde er nach vorn geschleudert. Er taumelte auf den roten Abgrund zu und auf das, was tief unten in dem Höllenloch lauerte. Owen spürte eine unerträgliche Hitze, und der Schweiß lief ihm in Strömen über das Gesicht. Seine Felle schwärzten sich und rauchten in der Hitze, und die nackte ungeschützte Haut auf Gesicht und Händen rötete sich und fing höllisch an zu schmerzen, während er unaufhaltsam auf den breiten Riß mitten in der Straße zustol-perte . Am Rand des Abgrunds verharrte er und kämpfte verzweifelt gegen einen Sturz an . Ringsum kochte die purpurne Luft . Die Schreie und der Gestank waren überwältigend. Lange Stahlketten schossen aus dem Spalt herauf. An ihren Enden saßen Morgensterne mit langen Stacheln, die durch Owens Kleidung drangen und tief in seinem Fleisch versanken. Owen schrie entsetzt auf, als die Ketten sich mit einemmal strafften und ihn langsam, aber gnadenlos in den unendlichen Abgrund des Höllenlochs zerrten. Doch selbst jetzt, am äußersten Rand der Verdammnis, gab Owen noch nicht auf. Er spannte seine Muskeln an, und die Ketten rissen. Die Enden peitschten zurück in die Tiefe. Hitze schoß empor. Die Luft war heiß genug, um ihn zu Asche zu verbrennen, doch Owen trotzte ihr. Langsam bildete sich ein Gedanke in seinem Kopf: Ich glaube das alles nicht. Nichts davon. Überhaupt nichts. Im gleichen Augenblick war das Höllenloch verschwunden, das Feuer erloschen, und die Straße lag wieder kalt und dunkel da, und alles war wie immer. Owens Lungen sogen sich voll mit kalter, köstlicher Luft, und er funkelte die drei Männer auf der anderen Straßenseite an. »Projektive Telepathie«, sagte er leise. »Stark genug, um je-de beliebige Illusion ins Bewußtsein eines normalen Mannes zu pflanzen und ihn davon zu überzeugen, daß es real sei. Und wenn sein Bild in der Illusion stirbt, dann stirbt er gleich mit. Eine ziemlich seltene Begabung im Imperium, doch auf einer Welt voller Esper ist es wahrscheinlich nichts Ungewöhnliches. Schön, meine Herrn. Ihr habt Euer Bestes gegeben. Darf ich Euch jetzt meine Künste demonstrieren?« Plötzlich ballten sich über den Männern Sturmwolken zusammen, und ein Blitz fuhr herab und traf den Telepathen in der Mitte. Die elektrische Entladung tötete ihn im Bruchteil einer Sekunde und riß die beiden anderen von den Beinen. Ein weiterer Blitz, und der zweite Angreifer war tot. Der letzte Überlebende floh stolpernd durch Schnee und Matsch und starrte Owen aus entsetzten Augen an. »Die Blitze sind nicht echt! Ich glaube nicht, daß sie echt sind!« »Wie Ihr meint«, erwiderte Owen. »Aber ich versichere Euch, daß Ihr Euch irrt seid. Einem Gewitter ist es gleich, ob Ihr an es glaubt oder nicht. Und ich gebe mich nicht mit Illusionen ab.« Der Esper schluckte mühsam. »Wenn Ihr mich verschont, verrate ich Euch, wer meine Auftraggeber sind.« »Ich weiß, wer Eure Auftraggeber sind«, entgegnete Owen. »Ich schätze, die Lektion, die ich diesen ehrenwerten Geschäftsmännern erteilt habe, war noch nicht hart genug. Vielleicht wird Euer Tod sie überzeugen.« »Aber… aber ich ergebe mich! Ich gebe auf!« »Ich kenne kein Erbarmen mit gedungenen Mördern.« Der Esper schlug erneut mit seinen Illusionen zu; doch sie wirbelten lediglich den Bruchteil einer Sekunde wie bleiche Geister um Owen herum, bevor sie sich auflösten, ohne seinen mentalen Schild auch nur angekratzt zu haben . Der Esper starrte voller Angst auf Owen. »Ihr habt drei von uns überwunden! Das ist völlig unmöglich. Ihr seid kein Mensch!« »Nicht mehr«, bestätigte Owen. »Nicht mehr. Und jetzt haltet den Mund, und sterbt wie ein Mann.« Ein dritter Blitz krachte aus den Sturmwolken herab, und der Esper war tot. Genau in diesem Augenblick strömte aus allen Richtungen eine kleine Armee schwerbewaffneter Männer in die Straße. Sie beeilten sich, den Todtsteltzer zu umzingeln und ihm sämtliche Fluchtwege abzuschneiden. Sie wirkten grimmig und entschlossen, und sie erweckten den Eindruck, als verstünden sie ihr Geschäft. Owen war beeindruckt. Es waren wenigstens hundert. Neeson und seine Geschäftspartner schienen jeden Unterschlupf der Stadt abgegrast haben, um in so kurzer Zeit eine derartige Streitmacht aufzustellen. Owen saß in der Falle, und er wußte es. Er hatte seine neuen mentalen Fähigkeiten bis an ihre Grenzen beansprucht, um sich von der Illusion zu befreien und anschließend die drei Blitze zu produzieren, und nun hatte er nicht mehr die Kraft, weitere Blitze zu beschwören. Er hatte einen harten Tag hinter sich: Das Schwert lag schwer in seiner Hand; er war todmüde, und sämtliche Knochen taten ihm weh. Und nichts von alledem spielte eine Rolle. Er war Owen Todtsteltzer, und er war wütend wie die Hölle. Die Angreifer kamen ihm gerade recht, um sich abzureagieren. Plötzlich fiel ihm die Prophezeiung des jungen Espers wieder ein, daß er alleine in den Straßen Nebelhafens sterben, und daß er ohne Freunde einer unmöglichen Übermacht gegenüberstehen würde. Owen lachte lauthals auf, und einige der Männer erschauerten beim dunklen Klang seiner Stimme. Es war das Lachen eines Mannes, der nichts mehr zu verlieren hatte. Owen Todtsteltzer hob das Schwert, grinste sein berüchtigtes Totenkopfgrinsen und fiel in den Zorn. Er brüllte den Kriegsruf seiner Familie: »Shandrakor!« und stürzte sich auf seine Feinde. Sie drängten von allen Seiten heran, und dann gab es nur noch das Klirren von Stahl auf Stahl. Es war ein Gemetzel. Blut floß in breiten Strömen über das Kopfsteinpflaster, und am Ende… Owen stand triumphierend inmitten eines großen Berges aus Sterbenden und Toten. Er blutete aus zahllosen Wunden, doch er war unbezwungen und lachte laut den wenigen Söldnern hinterher, die noch rechtzeitig die Flucht ergriffen hatten. Soviel zu der verdammten Prophezeiung. Er beendete den Zorn und fühlte sich augenblicklich vollkommen erschöpft. Allein der Schock verhinderte, daß er die Schmerzen seiner Wunden spürte; doch Owen wußte, daß er sich möglichst bald hinlegen und ausruhen mußte, damit das Vermächtnis des Labyrinths des Wahnsinns ihn heilen konnte. Er durfte nicht auf der Straße ohnmächtig werden; das schadete nur dem Ruf. Also steckte er das Schwert mit halbwegs sicherer Hand in die Scheide zurück und wandte sich einmal mehr dem Eingang der Schwarzdorn-Taverne zu und dem Zimmer, das er dort gemietet hatte. Mitten in der Drehung verharrte er. Hazel und Silver waren ihm wieder eingefallen. Er wollte sie nicht wiedersehen. Ja, er wollte noch nicht einmal in ihrer Nähe sein. Doch am Ende ging er trotzdem hinein und die Treppe hinauf zu seinem Zimmer. Er wußte nicht, wohin er sonst hätte gehen sollen. Der Imperiale Sternenkreuzer Herausforderung kam aus dem Hyperraum und steuerte in einen Orbit um die Nebelwelt. In seinem Privatquartier wartete Kapitän Bartek, auch bekannt als Bartek der Schlächter, gespannt auf eine Reaktion der Welt unter ihm. Seit Typhus-Marie waren die überlebenden Esper der Nebelwelt dazu übergegangen, jedes Imperiale Schiff im gleichen Augenblick anzugreifen, da es aus dem Hyperraum fiel. Doch die Sekunden verstrichen, und nichts geschah. Schließlich entspannte sich Bartek ein wenig. Die neuen Schilde funktionierten offenbar. Theoretisch war kein Esper und auch keine Gruppe von Espern imstande, die Anwesenheit der Herausforderung zu entdecken; doch sie hatten keine Zeit gehabt, die Schilde im Vorfeld zu testen. Natürlich nicht. Kapitän Bartek erhob sich aus seinem üppig dimensionierten Sessel und durchquerte ohne Eile sein Quartier, ein großer, schwerer Mann mit langsamen, kontrollierten Bewegungen, kalt und berechnend. Bartek hielt nichts von Emotionen. Sie standen ihm nur im Weg, wenn es um Pflichterfüllung und Effizienz ging. Sein Quartier war groß und komfortabel und wurde von Pflanzen beherrscht, die sämtliche Wände bedeckten und sogar von der Decke herabhingen. Reben, Blumen und Dornenbüsche wuchsen wirr durcheinander und kämpften um Raum. Riesige Blüten wetteiferten mit merkwürdigen Gewächsen von Hunderten fremdartiger Welten, und alle wurden sie durch ein kompliziertes hydroponisches System am Leben erhalten . Die Pflanzen erfüllten die Luft mit einem schweren, schwülstigen Duft, den allein Bartek als erträglich empfand. Er zog die Gesellschaft von Pflanzen der von Menschen vor. Bei Pflanzen wußte er, woran er war – nicht zuletzt deswegen, weil Pflanzen durchschaubar waren und nicht widersprachen. Außerdem empfand er die leuchtenden Farben und reichen Düfte als angenehm beruhigend – besonders da er eine Position innehatte, in der er niemals ausspannen und niemals irgend jemandem vertrauen durfte. Er verließ sein Privatquartier nur, wenn es absolut unumgänglich war. Bartek hatte den Befehl erhalten, die Nebelwelt wieder ins Imperium einzugliedern. Das war eine Ehre, soviel stand fest, aber eine verdammt gefährliche. Bestimmt hatte sich außer ihm niemand freiwillig gemeldet. Sein letzter Auftrag war die Blockade des Planeten Grendel gewesen, wo er die Gewölbe der Schläfer bewacht hatte. Seine sechs Sternenkreuzer hatten die Quarantäne über dem Planeten jahrelang ohne den geringsten Zwischenfall aufrechterhalten, bis Kapitän Schwejksam von der Unerschrocken auf Befehl Ihrer Majestät auf Grendel gelandet war und herausgefunden hatte, daß die abtrünnigen KIs von Shub irgendwie eine Streitmacht an der Blockade vor-beigeschleust und die Gewölbe geplündert harten. Selbst heute noch war es Bartek ein Rätsel, wie so etwas hatte geschehen können. Die Instrumente seines Schiffes und sämtliche Aufzeichnungen behaupteten hartnäckig, daß nichts seiner Aufmerksamkeit entgangen war. Auch die anderen Schiffe hatten nichts bemerkt. Bartek und seine Besatzungen waren in Ungnade zurückgerufen worden, und bei ihrer Ankunft auf Golgatha waren alle, angefangen von Bartek bis hinunter zum einfachsten Besatzungsmitglied, in aller Gründlichkeit von Espern und Imperialen Hirntechs untersucht und verhört worden. Man war fest entschlossen, eine Antwort auf das Rätsel zu finden. Vergeblich. Sie fanden nicht den kleinsten Hinweis, obwohl ihre teilweise drastischen Methoden einige der schwächeren Besatzungsmitglieder das Leben gekostet und andere in den Wahnsinn getrieben hatten. Bartek erwachte noch immer mitten in der Nacht und zitterte am ganzen Leib wegen der Alpträume und der Erinnerung an die schrecklichen Dinge, die sie mit ihm angestellt hatten. Am Ende hatte man ihn und die überlebenden Mitglieder der sechs Sternenkreuzerbesatzungen offiziell von aller Schuld freigesprochen. Umsonst, wie er rasch bemerkt hatte. Niemand vertraute ihnen mehr. Bartek machte den Leuten keinen Vorwurf daraus. Insgeheim befürchtete er selbst, daß Shub irgend etwas mit seinem Verstand angestellt und irgendwelche geheimen Kontrollworte und Befehle in sein Bewußtsein programmiert hatte, die so tief verborgen waren, daß nicht einmal die Hirntechs sie hatten finden können. Ganz ohne Zweifel waren auch andere auf diesen Gedanken gekommen, und so war Bartek nicht weiter überrascht gewesen, als er schließlich den Befehl erhalten hatte, zur Flottenakademie zurückzukehren und dort eine Stellung als Instrukteur anzutreten. Seine Karriere als Kommandant war damit beendet gewesen, und gleichzeitig war es den Geheimdiensten möglich, ihn unauffällig im Auge zu behalten. Und dann war ein Aufruf gekommen. Freiwillige sollten sich melden, um die Nebelwelt zurückzuerobern. Es mußten Freiwillige sein. Jeder im Imperium wußte, daß es wahrscheinlich auf eine Selbstmordmission hinauslief. Bartek ergriff die Gelegenheit begierig beim Schopf. Selbstmordmission hin oder her, es war ihm egal. Wenn seine Imperatorin sagte, die Mission sei erfüllbar, dann reichte ihm das. Er sehnte sich verzweifelt nach einer Möglichkeit, seine Loyalität zu beweisen, um wieder in die Herde aufgenommen und rehabilitiert zu werden. Die Löwenstein hatte ihn sofort als Führer der Mission akzeptiert. Teilweise, weil aus seinen Akten hervorging, daß er seinen Auftrag um jeden Preis ausführen würde, und teilweise, weil es kein großer Verlust sein würde, falls er und seine Mannschaft versagten. Bartek wußte und akzeptierte das. Er dachte insgeheim genauso. Der Türsummer ertönte leise, und auf Barteks geknurrten Befehl hin glitt die Tür auf. Leutnant Ffolkes trat vor und zog den Kopf ein wenig ein, um die herabhängenden Kletterpflanzen um die Tür herum nicht zu berühren. Hinter Ffolkes kamen der Reporter Tobias Shreck und sein Kameramann Flynn. Tobias Shreck, auch genannt Tobias der Troubadour, war ein kleiner, dicker, ständig schwitzender Mann mit glattem, blondem Haar, ungezwungenem Lächeln und scharfem Verstand und war be-rühmt dafür, keinerlei moralische Schranken anzuerkennen. All das zusammengenommen hatte ihn zu einem erstklassigen Reporter gemacht. Flynn war von der großen, schlaksigen Sorte und besaß ein täuschend ehrliches Gesicht. Die auf seine Schulter montierte Kamera wirkte wie eine einäugige Eule. Tobias und Flynn waren von der Imperatorin persönlich ausgewählt worden, die Einnahme von Nebelhafen zu dokumentieren und aufzuzeichnen. Die Löwenstein hatte sich von ihrer Berichterstattung über die Rebellion auf Technos III sehr beeindruckt gezeigt und ihnen deutlich zu verstehen gegeben, daß es ausgesprochen unklug wäre, diesen neuen Auftrag abzuleh-nen – jedenfalls nicht, wenn die beiden ihre lebenswichtigen Organe dort bevorzugten, wo sie gegenwärtig ihren Dienst verrichteten. Sowohl Tobias, als auch Flynn waren nicht ganz sicher, ob ihr neuer Auftrag Belohnung oder Strafe war; doch beide besaßen genug Verstand, keine diesbezüglichen Fragen an die Löwenstein zu richten. Also sagten sie Ja, Euer Majestät und Danke sehr, Euer Majestät und fragten sich insgeheim verzweifelt, wie zum Teufel sie diesen Auftrag bloß überleben sollten. Ganz ohne Zweifel würde die Einnahme der Nebelwelt jede Menge erstklassiger Gelegenheiten bieten, Geschichte live und in Farbe aufzuzeichnen – zusammen mit jenen Unmengen von Blut und Zerstörung, die die Massen an den Schirmen zu Hause so sehr liebten. Leider bestand darüber hinaus ebenso zwei-felsfrei eine verdammt hohe Wahrscheinlichkeit, daß man ihnen die Schädel wegblies. Rebellen, die um ihre Heimat und ihr Leben kämpften, würden nicht innehalten , um zwischen einem Imperialen Sturmtruppler und einem ehrenhaften Nachrichtenmann zu unterscheiden, der nur seine Arbeit tat. Doch wie Tobias in der Vergangenheit schon so oft gesagt hatte: Kriege und Schlachten lieferten stets das beste Material. Wenn man das beste Material und das damit verbundene Geld wollte, dann mußte man eben dorthin gehen, wo dieses Material geliefert wurde. Natürlich gab es auch noch das Problem der Imperialen Zensur. Die Löwenstein wollte Material, das ihre Truppen gut und die Rebellen schlecht aussehen ließ. Ihre Zensoren hatten mit Sicherheit entsprechende Anweisungen erhalten. Überdies wurden Tobias’ und Flynns Bedenken durch den offiziellen Gorilla bestätigt, den man ihnen zur Seite gestellt hatte. Er sollte ihre Arbeit überwachen und sie vor Ärger bewahren. Leutnant Ffolkes, der ›Gorilla‹, war ein Karrieremilitarist, wie er im Buche stand, ein großer, dürrer Bursche, der Befehle buch-stabengetreu ausführte und der keine Gelegenheit ausließ, sich bei einem vorgesetzten Offizier anzubiedern. Wahrscheinlich schlief er in Habachtstellung und teilte sich wegen unreiner Gedanken selbst zum Strafexerzieren ein. Jedenfalls hatte er Tobias und Flynn gleich zu Beginn deutlich gemacht, daß er Reporter und Kameramänner für ein notwendiges Übel hielt. Er hatte ihnen geraten, seinen Befehlen und Anweisungen bis ins kleinste Detail Folge zu leisten – falls sie wüßten, was gut für sie wäre. Ihre Weigerung, ihn auch nur halbwegs ernst zu nehmen, sowie die Tatsache, daß sie ihn hinter seinem Rücken Gladys nannten, kränkte ihn zutiefst, ebenso wie ihre Angewohnheit, in die entgegengesetzte Richtung davonzulaufen, sobald sie ihn erblickten. Tobias und Flynn sahen sich interessiert im Privatquartier des Kapitäns um, da Bartek sie für den Augenblick zu ignorieren schien. Er war vollauf damit beschäftigt, ein kleines, wehrloses Gewächs zu beschneiden. Ffolkes zuckte nervös. Er war nicht sicher, ob er vielleicht höflich hüsteln sollte, um seine Gegenwart kundzutun. Tobias und Flynn waren bisher noch nie ins innere Heiligtum eingeladen worden. Den größten Teil der Zeit hatten sie in der wenig mehr als sarggroßen Kabine verbracht, die Ffolkes ihnen zugewiesen hatte, weit weg vom Rest der Besatzung. Sie sollten keine Gelegenheit erhalten, sich mit jemandem aus der Schiffsbesatzung zu verbrüdern – teils, weil sie keine Informationen aufschnappen sollten, die nicht für ihre Ohren bestimmt waren, doch hauptsächlich, weil sie die Besatzung vielleicht dazu anstacheln könnten, unangenehme Fragen zu stellen. Die Offiziere der Imperialen Flotte vertraten schon seit jeher die Meinung, daß nur eine unwissende Besatzung eine gute Besatzung war. Tobias verbrachte die meiste Zeit damit, zwischen Wut und wachsender Gewißheit zu schwanken: Wut über die Tatsache, daß man ihm den Ruhm und die Belohnungen vorenthielt, die seine Berichterstattung über die Rebellion auf Technos III sicherlich verdient hatten, und wachsender Gewißheit darüber, daß die Invasion der Nebelwelt eines der bedeutendsten zeitge-nössischen Ereignisse werden würde, was für ihn noch mehr Ruhm und noch mehr Geld bedeutete – aber natürlich nur, falls es ihm gelang, das Material an der Zensur vorbeizuschmuggeln wie auf Technos III. Was das Austricksen von Leutnant Ffolkes anbetraf, sah er keine großen Probleme; der Kerl war einfach zu blöd, Kapitän Bartek war eine andere Sache. Tobias betrachtete nachdenklich den Miniaturdschungel des Kapitäns. Er suchte nach Hinweisen auf den Charakter des Kapitäns, die er vielleicht gegen ihn verwenden konnte. Flynn interessierte sich wie erwartet einen Dreck dafür. Er haßte alles, was mit Militär zu tun hatte, und es war ihm egal, ob das jemandem auffiel oder nicht. Überdies war Flynn ein zufriedener Homosexueller und im Privatleben Transvestit, und beides würde ihn sofort in den Bunker befördern, sollte Ffolkes es herausfinden – auch wenn Obwohl Flynn steif und fest behauptete, im Offizierskorps ein paar gleichgerichtete Seelen erspäht zu haben. Jedenfalls war er aus Furcht vor den omnipräsenten Sicherheitssystemen des Schiffs beherrscht genug, um keines seiner hübschen Kleider anzulegen, nicht einmal in der vorgeblichen Privatsphäre ihrer Kabine. Er gab sich damit zufrieden, unter der Alltagskleidung Reizwäsche zu tragen und ein ganz schwaches Make-up aufzulegen. Tobias lebte in der ständigen Angst, sein Kameramann könn-te einen Unfall haben und müßte zur Krankenstation gebracht und dort untersucht werden. Er wußte genau, daß Kapitän Bartek es nicht verstehen würde. Als hätte der Kapitän den letzten Gedanken gehört, legte er endlich seine Miniaturgartenschere beiseite und wandte sich zu seinen Besuchern um. Sein Gesicht blieb kalt und unnahbar, während er sich Tobias und Flynn näherte, die trotz Ffolkes’ hektisch drängendem Rüstern keinerlei Anstalten machten, in Habachtstellung zu gehen. Bartek blieb unmittelbar vor den beiden Reportern stehen. Als er schließlich sprach, klang seine Stimme leise und gelassen und verdammt einschüchternd. »Ich habe Eure Berichterstattung über die Rebellion von Technos III gesehen. Rein technisch betrachtet war sie ange-messen, obwohl Eure Wahl des Materials einem Hochverrat ziemlich nahe gekommen ist. Dieser Unsinn wird sich unter meinem Kommando auf keinen Fall wiederholen. Die Rebellen sind der Feind, und sie werden unter gar keinen Umständen als etwas anderes dargestellt! Ihr werdet Eure Berichterstattung auf die Siege meiner Truppen beschränken und alles andere ignorieren, solange Leutnant Ffolkes nicht ausdrücklich das Gegenteil sagt. Es wird keine Liveübertragungen geben, es sei denn, ich ordne sie an. Der größte Teil Eurer Aufzeichnungen wird später gesendet, und Ffolkes und ich werden persönlich jeden Meter Film untersuchen, bevor wir ihn freigeben. Verstöße gegen diesen oder einen anderen Befehl werden mit augenblicklicher Festnahme geahndet. Man wird Euch ersetzen und bei unserer Rückkehr nach Golgatha den Prozeß wegen Hochverrats machen. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?« »Vollkommen klar, Kapitän«, antwortete Tobias. Er lächelte und nickte eifrig und beschloß insgeheim, Bartek stets so zu filmen, daß er plump und dumm wirkte. Tobias störte sich nicht im geringsten an Barteks Drohungen . Auf Technos III hatte man ihm so ziemlich das gleiche gesagt, und auch dort hatte es nichts genützt. Jeder halbwegs gute Reporter wußte, daß nur eins zählte: Soviel Material nach draußen und auf so zahlreiche Bildschirme zu schaffen, wie nur irgend möglich. Später konnte man immer noch streiten, und zwar, wenn es für die Verantwortlichen zu spät war, irgend etwas dagegen zu unternehmen, ohne sich eine Blöße zu geben. Natürlich hatte Tobias bisher noch nicht unter Bartek dem Schlächter gearbeitet. Der Mann hatte eine unübersehbare Neigung, Probleme durch extreme Gewaltanwendung zu lösen. »Kommt mit«, sagte Bartek unvermittelt. »Ich möchte, daß ihr euch etwas anseht.« Er stapfte an ihnen vorbei und verließ sein Quartier. Die Tür hatte kaum genug Zeit, ihm aus den Füßen zu gleiten. Tobias und Flynn tauschten einen verwirrten Blick aus und beeilten sich, dem Kapitän zu folgen. Ffolkes rannte hilflos hinter ihnen her, wie üblich. Bartek marschierte durch einen Korridor nach dem anderen. Er ignorierte die militärischen Grüße seiner Mannschaft und stapfte tiefer und tiefer in einen Bereich des Schiffs, der für die beiden Reporter normalerweise absolut tabu war. Tobias spürte eine wachsende Aufregung. Seit sie an Bord gekommen waren, hatte er durch Bluff, Bestechung und Drohung versucht, sich Zutritt zu diesem Bereich zu verschaffen – ohne jeden Erfolg. Jeder an Bord wußte, daß dort etwas Wichtiges versteckt wurde, eine Geheimwaffe für die Invasion; doch niemand wußte etwas Genaueres. Und wer doch mehr wußte, war entweder zu erfahren oder zu verängstigt, um den Mund aufzumachen. All das hatte Tobias’ Neugier zum Kochen gebracht. Und jetzt würde er endlich einen Blick darauf werfen können! Verstohlen gab er Flynn einen Wink, die Kamera einzuschalten. Das Gerät war mit Flynns Komm-Implantat verbunden und konnte aktiviert werden, ohne daß von außen etwas zu bemerken war – ein Trick, der sich schon bei mehr als einer Gelegenheit als nützlich erwiesen hatte. Schließlich blieb Bartek vor einem massiven Schott stehen, die sich allein durch einen Esper öffnen ließ. Tobias konnte nichts anderes tun, als seine Ungeduld irgendwie im Zaum zu halten, bis der Esper auf der anderen Seite des Schotts den Kapitän identifiziert hatte. Ein rascher, unauffälliger Seitenblick auf Ffolkes’ nervöses, weißes Gesicht verriet Tobias, daß auch der Sicherheitsoffizier noch keinen Blick auf das geworfen hatte, was sich hinter der Tür verbarg. Andererseits schien er jedoch genug zu wissen, um es erst gar nicht sehen zu wollen. Dann schwang das Schott endlich auf, und Bartek führte sie hinein. Tobias trat ihm beinahe in die Hacken. Vor ihnen lag ein weites Rund, dessen Ränder gerippte Stahlwände bildeten. Den größten Teil des Saals nahm ein riesiger gläserner Tank ein. Die Seiten waren gut dreißig Fuß hoch und von beachtlicher Länge. Der Tank enthielt eine dicke, blaßgelbe Flüssigkeit, die unablässig wie zäher Sirup hin und her schwappte. Darin schwebte eine entsetzlich anzuschauende, gewaltige graue Fleischmasse, durchsetzt von technischen Im-plantaten, die durch zahllose Kabel und Drähte mit dem Tank und den Apparaten dahinter verbunden waren. Die Masse wogte formlos in ihrem Tank, eine krankhafte Ansammlung zu-sammengeklumpter organischer Materialien wie ein einziges gewaltiges Krebsgeschwür in einem Meer aus Eiter. Der Gestank war fürchterlich. Tobias verzog das Gesicht und trat zögernd vor. Das Gebilde faszinierte ihn. Hinter sich hörte er Ffolkes keuchen und würgen. »Wunderbar, nicht wahr?« bemerkte Bartek. »Das wird das Geheimnis unseres Erfolges sein. Das entscheidende Element, das die Eroberung der Nebelwelt erst ermöglicht. Im Augenblick erzeugt es einen Schirm, der verhindert, daß die Esper der Nebelwelt und ihre Technologie uns entdecken. Es besitzt noch eine ganze Reihe anderer Fähigkeiten, die sich allerdings erst offenbaren werden, wenn unsere Invasion begonnen hat.« »Was zur Hölle ist das?« fragte Tobias. »Ist es lebendig?« »O ja, das ist es«, antwortete Bartek. »Ihr seht vor Euch die neueste Schöpfung Imperialer Biotechnologie. Imperiale Wissenschaftler exekutierten sämtliche Esper, die in Silo Neun gefangen waren. Alle, die den Ausbruchsversuch überlebt haben. Dann hat man ihre Gehirne herausgenommen und miteinander verbunden, um das große Konstrukt zu formen, das Ihr nun vor Euch seht. Tausende lebender Gehirne, verschmolzen zu einem einzigen riesigen Esperlektron, einem gigantischen ESP-Blocker und noch viel mehr. Er wird durch die Würmer kontrolliert, welche die Gefangenen früher in ihren Gehirnen hatten. Das Erbe des Wurmwächters. Sie sitzen in regelmäßigen Abständen im Hirngewebe und überwachen und steuern die Denkprozesse. Die Würmer haben ein primitives Über-Ich gebildet, das uns gestattet, direkt per Telepathie mit dem Konstrukt zu kommunizieren. Es nennt sich selbst Legion.« »Die Esper-Bewußtseine…«, sagte Tobias langsam. »Leben sie… leben sie noch? Sind sie sich dessen bewußt, was man aus ihnen gemacht hat?« Bartek zuckte die Schultern. »Das weiß niemand so genau. Sie sind jetzt Bestandteil von etwas Größerem.« Tobias trat langsam näher, bis er ganz dicht vor dem Glas des Tanks stand. Hinter sich spürte er Flynn, der unauffällig alles aufzeichnete. Das Entsetzen über die Verbrechen an Tausenden wehrloser Menschen verschlug Tobias für einen Augenblick die Sprache, doch er dachte bereits fieberhaft darüber nach, wie man dieses Ding den Zuschauern am besten präsentieren könn-te. Sie würden alles über diese… diese Abscheulichkeit wissen wollen, und er war der einzige, der darüber berichten konnte. Er bemühte sich, nicht mehr daran zu denken. Emotionen durften einer guten Geschichte nicht im Weg stehen. Jeder Reporter wußte das. »Warum heißt es Legion?« fragte er schließlich. Ich bin Legion, weil ich Viele bin. Die psionische Stimme klingelte in Tobias’ Gehirn wie die verrottenden Stimmbänder einer seit Monaten toten Leiche. Sie brach in seine Gedanken ein und rollte sich darin zusammen wie eine Giftschlange, die sich zischend auf den Angriff vorbereitet. Es war eine erbarmungslose, brutale Invasion von Tobias’ Bewußtsein, und ihm wurde übel. Legions Gegenwart in seinem Kopf erzeugte ein Gefühl, als wäre er unrein. Verzweifelt kämpfte er um seine Selbstbeherrschung. Die Stimme fuhr fort: Ich bin alles, was ich früher war, und mehr. Ich bin viel größer als die Summe meiner Teile. Kein Esper kann mir widerstehen. Ihr Schirm wird fallen, und ich werde ihre Gedanken fressen. Ich werde sie in mir aufnehmen, und die Nebelwelt wird in ihrem Blut und Leid ertrinken. Legion sprach mit vielen Stimmen gleichzeitig. Es war ein entsetzlicher Chorus aufeinanderprallender Akzente, laut und leise, rauh und schrill, alles zugleich, eine unnatürliche Mischung, die schrecklich unmenschlich klang. Und im Hintergrund, wie das entfernte Rauschen eines Meeres, hallten die Schreie Tausender verdammter Seelen, die in der Hölle lebten. »Wer… wer genau spricht da eigentlich zu mir?« erkundigte sich Tobias und klammerte sich an seine professionelle Distanz. »Die Hirne der Esper, die Würmer, das kollektive Be-wußtsein? Was?« Doch Legion gab keine Antwort, und plötzlich war das Ding aus Tobias’ Verstand verschwunden. Er verspürte eine überwältigende Erleichterung. Tobias stolperte rückwärts. Er wollte Abstand zwischen sich und dieses schreckliche Ding im Tank bringen. Flynn war augenblicklich bei ihm und packte ihn stützend am Arm. Und schließlich war es zu Tobias’ Überraschung Ffolkes, der die Antworten auf seine Fragen lieferte. Der Sicherheitsoffizier sprach mit erschütterte, leiser Stimme. »Wir wissen nicht, wer zu uns spricht. Wir glauben, daß Legion selbst nicht genau weiß, was es ist. Nur eines können wir mit Sicherheit sagen: Legion ist bewußt und wach, und es wird immer stärker. Es kann mit Leichtigkeit jeden psionischen Schirm zerstören, den die Nebelweltler gegen uns zu errichten imstande sind. Und ohne Schirm sind sie uns hilflos ausgelie-fert.« »Und wie stark wird es noch?« fragte Tobias. Seine Stimme klang wieder ein wenig fester, nachdem Legion sich aus seinem Kopf zurückgezogen hatte. »Das wissen wir nicht«, antwortete Bartek. »Aber macht Euch deswegen keine Gedanken. Rein physisch betrachtet ist Legion vollkommen hilflos. Es könnte nicht eine Sekunde außerhalb seines Tanks überleben. Ohne unsere technische Unterstützung und die chemische Nährlösung, in der es schwimmt, könnte es nicht existieren. Es ist von uns abhängig, und das weiß es.« »Aber Ihr wißt immer noch nicht, was es ist!« sagte Flynn leise. »Und Ihr wißt auch nicht, wozu es imstande sein wird.« »Ich sage Euch, was Legion ist« entgegnete Bartek und lächelte zum ersten Mal. »Legion ist eine Waffe. Legion ist eine Waffe, mit deren Hilfe ich die Nebelwelt ein für allemal vernichten werde.« Einige Zeit später, Leutnant Ffolkes hatte Tobias und Flynn sicher zu ihrem Quartier zurückeskortiert, eilte er in einen anderen Bereich des Schiffs und klopfte verstohlen an eine Tür. Er benutzte das geheime Zeichen, das man ihm gegeben hatte. Die Tür öffnete sich fast im gleichen Augenblick, und er schlüpfte hinein. Er schwitzte, und seine Hände zitterten. Spezielle Lektronenschaltungen sollten seine Anwesenheit vor den Überwachungssystemen des Schiffs verbergen; doch er wußte nicht, ob sie wie beabsichtigt funktionierten oder nicht. Nachdem die Tür hinter ihm ins Schloß gefallen war, beruhigte er sich ein wenig. Er ruckte dem einzigen Bewohner des Raums zu, und Investigator Razor erwiderte seinen Gruß. Razor war ein großer, schwerer Mann mit beeindruckenden Muskeln und einem ruhigen, nachdenklichen Gesicht. Seine Hautfarbe war dunkel, das kurzgeschnittene Haar weiß, und die eng beieinander stehenden Augen von einem überraschenden Grün. Der Investigator wirkte ruhig und gelassen; doch Ffolkes ließ sich dadurch nicht täuschen. Er wußte, daß Razor nicht freiwillig hier war. Der Investigator hatte ein ruhiges, zufriedenes Leben als Sicherheitschef des Chojiro-Clans geführt, bis die Imperatorin beschlossen hatte, Investigatoren nicht mehr zu gestatten, für die Familienclans zu arbeiten, egal ob im Ruhestand oder nicht. Statt dessen hatte sie sämtliche noch lebenden Investigatoren, gleichgültig, welchen Status sie innegehabt hatten, zurück unter direkte Imperiale Kontrolle gebracht. Unter dem Chojiro-Clan war Razor ein wohlhabender, einflußreicher Mann gewesen; jetzt war er nur noch ein einfacher Investigator, älter und vielleicht ein wenig langsamer als die meisten anderen . Aber die Eiserne Hexe persönlich hatte Investigator Razor für die Nebelwelt-Mission ausgesucht, und jetzt war er hier, obwohl er sich schon längst nichts mehr aus Selbst-mordmissionen machte. Razor war auf die Herausforderung versetzt worden, weil er früher eng mit Investigator Topas zusammengearbeitet hatte. Er war ihr Mentor und Lehrer gewesen in einer Zeit, als das Imperium sich noch nicht im klaren darüber gewesen war, ob ein Investigator mit Esperfähigkeiten eine gute Sache war oder nicht. Topas’ Fahnenflucht und die Tatsache, daß sie jetzt auf der Nebelwelt lebte, hatten diese Frage beantwortet. Man hatte Razor von aller Schuld freigesprochen, doch niemand hatte Einwände erhoben, als er um frühzeitigen Ruhestand nachge-sucht hatte. Die Nebelwelt-Mission sollte eine zweite Chance für ihn sein: eine Chance, dem Imperium seinen Wert und seine Loyalität zu beweisen, indem er seine alten Bekanntschaft ausnutzte, um so nahe wie möglich an Topas heranzukommen. Und dann würde er Topas töten. Niemand hatte ihn gefragt, wie er sich bei diesem Gedanken fühlte. Imperiale Investigatoren durften keine Gefühle haben. »Ihr bringt neue Befehle?« wandte er sich leise an Ffolkes. »Ja«, antwortete der Sicherheitsoffizier und blickte sich unbehaglich in der spartanisch eingerichteten Kabine des Investigators um, da er dem kalten, unverwandten Blick Razors nicht standhalten konnte. »Ich werde Euer Kontaktmann zum Chojiro-Clan sein. Ich bin durch Heirat mit ihnen verwandt. Ich soll Euch ausrichten, daß man Euch nicht vergessen hat, und daß die Familie Euch für Eure Arbeit hier fürstlich belohnen wird. Ich bin hier, um Euch über Kapitän Barteks Pläne zu informieren, sobald Legion den Esperschild überwunden hat. Wir könnten hingehen und den Planeten aus dem Orbit her-aussengen, doch Ihre Imperiale Majestät hat beschlossen, die Nebelwelt einzunehmen und nicht zu zerstören. Zum einen, weil sie Esper noch immer als eine Waffe im bevorstehenden Krieg gegen die Fremden betrachtet, und zum anderen, weil sie beweisen will, daß niemand sie herausfordern und ungestraft davonkommen kann. Ihre Majestät wünscht, daß die Anführer der Rebellen in Ketten vorgeführt werden, damit jeder sehen kann, daß sie besiegt worden sind. Also lauten Barteks Befehle: Systematische, aber nicht vollständige Zerstörung der Stadt Nebelhafen. Bis zu fünfzig Prozent Tote unter der Zivilbevölkerung werden als akzeptabel betrachtet. Die Stadt ist Straße um Straße einzunehmen, falls es notwendig sein sollte, auch im Häuserkampf. Was das bedeutet, könnt Ihr Euch denken: Vollständiges Chaos und Verwirrung. Wir werden unseren Vorteil daraus ziehen. Sobald Ihr mit Investigator Topas und der Typhus-Marie fertig seid, werdet Ihr mit verschiedenen einflußreichen Bewohnern von Nebelhafen in Verbindung treten. Die Namen und Adressen habe ich hier auf einer Liste. Lernt sie auswendig und vernichtet die Liste anschließend. Diese Leute waren einst Teil eines Spionagenetzes, das die Stadt überzogen und Informationen für den vorletzten Lord Todtsteltzer gesammelt hat. Seit seinem Tod hat sich eine Reihe von ihnen an den Chojiro-Clan gewandt . Sie bitten um Schutz und finanzielle Unterstützung. Mit Hilfe der Familie werden diese Leute nach der Einnahme der Nebelwelt die neue Verwaltung bilden. Euer Auftrag lautet, sie am Leben zu erhalten, bis die Kampfhandlungen vorüber sind.« Razor nickte gelassen. »Scheint nicht übermäßig schwierig zu werden. Habt Ihr vielleicht eine Idee, warum Chojiro die Kontrolle über diesen widerlichen Planeten erlangen will?« »Ich stelle keine Fragen«, antwortete Ffolkes. »Auf diese Weise lebt man länger. Doch falls Ihr einen Rat haben wollt, würde ich sagen, daß die überlebenden Esper sowohl eine vorzügliche Einnahmequelle, als auch eine geheime Ressource darstellen. Der Chojiro-Clan plant weit in die Zukunft. Lebt wohl, Investigator. Ich hoffe, wir müssen uns nicht wiedersehen.« »Ihr habt Furcht«, stellte Razor fest. »Ich kann es förmlich riechen. Wovor fürchtet Ihr Euch, Leutnant?« »Ich weiß nicht, wovon ihr redet«, entgegnete Ffolkes. »Ich muß jetzt wirklich gehen. Man wird mich sonst vermissen.« Und dann wurde er gegen die Wand geschleudert, und Razors Schwert war mit einemmal an seiner Kehle. Ffolkes schnappte nach Luft, und auf seiner Stirn bildeten sich dicke Schweißperlen. Er hatte noch niemals jemanden gesehen, der sich derart schnell bewegte . Razor brachte sein Gesicht dicht vor Ffolkes, und der Sicherheitsoffizier wagte noch nicht einmal, mit der Wimper zu zucken. »Ihr habt Angst vor mir, Leutnant. Das ist gut. So soll es auch sein. Falls Ihr auch nur ein Wort über meine fortbeste-hende Verbindung zum Chojiro-Clan verliert, ganz egal zu wem, dann werde ich Euch töten. Glaubt Ihr mir, Leutnant?« Razors Schwert ritzte ganz schwach die Haut von Ffolkes’ Hals, und ein einzelner Bluttropfen rann über die Haut in den Kragen des Offiziers. Ffolkes wagte nicht zu nicken, doch er brachte ein gestammeltes »Ja« hervor. Razor grinste, nahm das Schwert vom Hals seines Opfers und trat einen Schritt zurück. »Nur, damit wir uns recht verstehen. Und jetzt macht, daß Ihr wegkommt, Wendehals! Falls ich Euch brauchen sollte, werde ich Euch finden. Und wenn Ihr mich dazu zwingt, nach Euch zu suchen, dann bin ich das letzte, was Ihr in Eurem Leben sehen werdet.« Er öffnete die Tür, und Ffolkes schoß an ihm vorbei hinaus auf den Gang. Der Sicherheitsoffizier rannte durch den Korridor davon, so schnell er konnte – zur Hölle, ob jemand ihn dabei beobachtete oder nicht! Keine noch so hohe Bezahlung war soviel Ärger wert. Nichts auf der Welt war soviel Arger wert. Die Pinassen der Herausforderung fielen aus dem frühen Abendhimmel über der Nebelwelt wie silberne Raubvögel in eine blutigrote Nacht. Sie trugen die Imperialen Truppen hinab zur Oberfläche des Rebellenplaneten. Die Esper von Nebelhafen sahen und hörten nichts von alledem. Sie wußten nicht einmal, daß das Imperium bereits so nah war. Legion weitete seine Fähigkeiten unablässig aus und er-probte sie. Theoretisch hätte Legion die Pinassen auch aus viel größerer Entfernung abschirmen können, doch wie mit so vielen seiner Kräfte lernte es durch Übung. Hunderte silberner Schiffe landeten eins nach dem anderen auf einer weiten, von Schnee und Eis bedeckten Ebene unterhalb der letzten Ausläufer der Totenkopf-Berge. Die Landestelle lag noch ein gutes Stück von Nebelhafen entfernt, doch relativ nah bei einer kleinen vorgeschobenen Siedlung namens Hartsteinfels. Abgesehen von ein paar einsam liegenden Farmen war es der einzige bewohnte Ort neben der Hauptstadt: ein kleines, bedeutungsloses Städtchen mit etwas mehr als zweitausend Einwohnern, wenn man den Informationen des Imperiums vertrauen konnte. Keine Verteidigungsanlagen, sehr wenig Technologie. Ein gutes Testgelände, bevor der Hauptangriff stattfand. Männer und Frauen rannten aus ihren flachen Steinhäusern und starrten ungläubig auf die Pinassen, die aus dem Abendhimmel fielen. Legion mochte vielleicht imstande sein, Esper und Sensoren an der Nase herumzuführen; doch selbst eine solch gewaltige psionische Begabung vermochte nicht, das Donnern der Maschinen vor den Leuten unten am Boden zu verbergen. Noch nicht jedenfalls. Die Einwohner von Hartsteinfels versammelten sich hinter den hohen Steinmauern ihrer kleinen Stadt und beobachten und unterhielten sich aufgeregt, während die Schiffe immer tiefer sanken. Es dauerte nicht lange, bis sie sich ausmalen konnten, was die silbernen Schiffe zu bedeuten hatten. Sie hatten den größten Teil ihres Lebens damit verbracht, auf eine Invasion zu warten und sich darauf vorzubereiten – auf jenen Tag, an dem das Imperium zur Nebelwelt zurückkehren und sie als sein Eigentum beanspruchen würde. Männer und Frauen rannten in die Häuser, um ihre Kinder zu verstecken und die Waffen hervorzuholen. Soldaten strömten aus den langen schlanken Pinassen. Sie trugen schwer an ihren Kampfrüstungen und der dicken Win-terkleidung, und sie waren mit Schwertern, Energiewaffen und persönlichen Schutzschirmen ausgerüstet. Die Pinassen besaßen Disruptorkanonen, doch sie würden erst bei der Erstürmung von Nebelhafen eingesetzt werden. Infanteristen beeilten sich, einen Verteidigungsring rings um das Landefeld zu errichten. Im Augenblick ignorierten sie die kleine Stadt noch. Imperiale Sturmtruppen formierten sich und warteten auf ihren Einsatzbefehl. Sie waren kalte, disziplinierte und erfahrene Killer, die nur darauf warteten, von der Leine gelassen zu werden. Unteroffiziere bellten Befehle; Offiziere nahmen ihre Positionen ein, und noch immer landeten weitere Schiffe und weitere Truppen marschierten aus den Schleusen auf die Ebene aus Schnee und Eis. Tobias Shreck und sein Kameramann Flynn hatten sich in dichte Pelze gehüllt. Sie stolperten hinaus in die Kälte, fluchten leise und begannen mit den Dreharbeiten. Man hatte ihnen befohlen, alles zu dokumentieren, und Leutnant Ffolkes stand unmittelbar hinter ihnen, um sicherzustellen, daß die beiden ihrem Befehl auch Folge leisteten. Er beobachtete, wie die Armee sich formierte, und seine Brust schwoll vor Stolz. Es waren Tage wie dieser, die einen glücklich machten, zur Imperialen Flotte zu gehören. Aus dem letzten der Landungsschiffe trat schließlich der Kommandant der Imperialen Angriffsmacht: Investigator Razor. Er hatte sich weder mit isolierter Kampfrüstung noch mit Pelzen geschützt; er trug nichts weiter als die offizielle Uniform der Investigatoren. Razor spürte die Kälte nicht – aber natürlich wußte jeder, daß Investigatoren nicht ganz menschlich waren. Die Imperatorin persönlich hatte Razor das Kommando über sämtliche Bodentruppen übertragen. Zum Teil deswegen, weil er schon früher Invasionsstreitkräfte geführt hatte, aber sicherlich auch deswegen, weil sie ihm zeigen wollte, daß sie ihm voll und ganz vertraute, trotz seines Alters und seiner Verbindungen zum Chojiro-Clan. Razors Stabsoffiziere versammelten sich um ihren Kommandanten und berichteten über die Fortschritte der Operation. Razor nickte knapp. Er hatte noch nicht einmal einen Gedanken daran verschwendet, daß etwas schieflaufen könnte. Der Anfang war immer leicht zu planen. Sein persönlicher Adjutant reichte ihm ein Fernglas, und Razor betrachtete die Stadt und das umgebende Land. Normalerweise hätte er sich via Komm-implantat in die Schiffslektronen eingeloggt und die Sensoren ausgelesen, doch Legion blockierte sämtliche elek-tromagnetischen Frequenzen. Razor und seine Verbände mußten sich also mit primitiven Hilfsmitteln begnügen. Abgesehen von der Stadt gab es nichts zu sehen außer Schnee und Eis, soweit das Auge reichte. Die weiße Fläche erstreckte sich bis hin zu den Totenkopf-Bergen, die kalt und ungerührt in den Himmel ragten, als wäre das, was zu ihren Füßen geschah, vollkommen bedeutungslos. Razor grinste flüchtig. Schließlich wandte er sich der zehn Fuß hohen Steinmauer zu, hinter der die Stadt lag. Es war eine massive Konstruktion aus Stein und Mörtel, die sicherlich einiges aushielt. Ein paar Salven aus den Energiewaffen würden das erledigen. Männer und Frauen waren auf Laufstegen hinter der Mauerkrone in Stellung gegangen. Die meisten trugen nichts als Schwerter, Äxte oder ein paar Speere; doch einige besaßen auch Energiewaffen, allerdings bei weitem zuwenig, und beide Seiten wußten es. Die Stadtbewohner waren schon so gut wie tot. Sie hatten sich nur noch nicht hingelegt. Razor sog die kalte Luft ein und konzentrierte sich auf die vor ihm liegende Aufgabe. So weit oben auf dem Plateau gab es kaum Nebel, und die Luft war klar und sauber. Er gab den Angriffsbefehl, und eine Hundertschaft Marineinfanteristen eröffnete das Feuer aus ihren Disruptoren. Die Stadtmauer explodierte, und Steintrümmer und blutige Fetzen flogen in alle Richtungen. Rauchwolken stiegen auf, und ein Regen scharfkantiger Splitter und zerrissener Körperteile prasselte blutigem Hagel gleich in den weißen Schnee. Schreie erklangen, und die Überlebenden zogen sich von der großen Bresche in ihrer Stadtmauer zurück. Ein paar blieben und versuchten, die Verwundeten zu bergen, doch die Marineinfanteristen schossen sie ab wie die Fliegen. Auf der gegenüberliegenden Seite von Hartsteinfels waren weitere Truppen in Stellung gegangen, und auch dort wurde ein Loch in die Mauer gesprengt. Die Bewohner der Stadt waren zwischen den beiden vorrückenden Verbänden eingeschlossen, und es gab keine Weg aus der Falle. Razor nickte seinen Stabsoffizieren zu, zog Schwert und Disruptor und führte seine Truppen in die Stadt hinein. Der Kampf wurde entschlossen und blutig geführt, doch er dauerte nicht lange. Die Marineinfanteristen hatten alle Vorteile auf ihrer Seite: gewaltige Übermacht, massierte Energiewaffen, Energieschilde. Die Stadtbevölkerung kämpfte tapfer; Männer und Frauen verteidigten wild entschlossen ihre Heimat. Schwerter zischten durch die Luft, und heißes, dampfendes Blut spritzte in den Schnee. Schreie, Kampfrufe, gebellte Befehle; und Körper und Eingeweide besudelten den Boden. Es gab weder Raum noch Zeit für Helden, nur zwei ungleiche Armeen, die in verbissener Anonymität kämpften. Über dem Gerassel der Schlacht erklang das Fauchen von Energiewaffen, stets gefolgt vom plötzlichen Gestank verbrannten Fleisches. Die Imperialen Streitkräfte konnten zwar keine Disruptoren mehr einsetzen, wollten sie vermeiden, die eigenen Leute zu treffen, doch die wenigen Stadtbewohner mit Energiewaffen hatten sich in ihren Häusern verbarrikadiert und betätigten sich hinter geschlossenen Fensterläden verzweifelt als Heckenschützen. Schließlich gelang es den Imperialen, die entsprechenden Häuser zu lokalisieren, und sie sprengten sie mit Granaten in die Luft. Die Mauern der flachen Gebäude sackten zusammen, und Dächer stürzten ein und begruben die Heckenschützen unter sich. Aus entgegengesetzten Richtungen rückten die Marineinfanteristen gnadenlos und unaufhaltsam vor. Sie trieben die Verteidiger vor sich her und metzelten alles nieder, was nicht schnell genug weichen konnte oder wollte. Schließlich waren die Überlebenden mitten in ihrer eigenen Stadt eingeschlossen und gefangen. Als endlich alles vorüber war, senkte sich eine düstere Stille über die Ruinen dessen, was einst Hartsteinfels gewesen war. Die letzten Verteidiger waren gefallen, und die wenigen, die sich ergeben hatten, meist Frauen und Kinder, standen dicht zusammengedrängt in kleinen, gutbewachten Gruppen beieinander. Überall brannten Häuser. Purpurne Flammen leckten über sich langsam schwarz färbende Steinwände. Die Straßen waren mit Leichen übersät, hauptsächlich Stadtbewohner, während die Marineinfanteristen kaum Verluste erlitten hatten. Ein paar Dutzend Infanteristen bewegten sich unter den Gefallenen. Sie markierten ihre eigenen Verwundeten für die Sanitätsmannschaften und erlösten die verletzten Rebellen von ihren Leiden. Investigator Razor stand mitten in der Stadt auf einem kleinen freien Platz, den seine Truppen für ihn geräumt hatten, und blickte langsam in die Runde. Er war ein wenig mißgestimmt über den Kampfverlauf. Er hatte mehr Männer verloren als erwartet – allerdings hatte er auch nicht mit Energiewaffen bei den Rebellen gerechnet. Er hob die Hand und rief seine Stabsoffiziere einschließlich seines Stellvertreters, Major Chevron, zu sich. Chevron war ein großer, muskulöser Mann, der aussah, als sei er in einer Kampfrüstung geboren worden. Er ging vor Razor in Habachtstellung, doch er salutierte nicht. Formell war er ranghöher als Razor, doch beide wußten, wer hier das Sagen hatte. »Die Stadt ist sicher, Sir«, meldete Chevron ruhig. »Die Be-völkerung ist entweder tot oder gefangen, mit Ausnahme einiger weniger, die sich noch in ihren Häusern verbergen. Die Stadt ist gefallen.« »Sie waren im Besitz von Energiewaffen, Major«, entgegnete Razor. »Warum bin ich nicht darüber informiert worden?« »Es waren nur wenige, Sir. Sie dienten wie die Stadtmauern in erster Linie zur Verteidigung gegen einheimische Raubtiere. Häßliche Viecher. Sie nennen sie Koboldshunde. Es wurde in den ersten Besprechungen erwähnt, Sir.« Razor nickte unverbindlich. »Können wir als gesichert annehmen, daß es keine weiteren Rebellensiedlungen mehr in der Umgebung gibt?« »So ziemlich, Sir. Nur ein paar vereinzelte Farmen, hier und da. Wir können sie aus der Luft erledigen, während wir auf Nebelhafen vorrücken. Die Nachricht wird nicht vor uns dort eintreffen. Legion blockiert sämtliche Frequenzen. Offensichtlich ist es nichts Ungewöhnliches, daß auf diesem Planeten von Zeit zu Zeit die Kommunikation zusammenbricht. Nebelhafen wird sich keine Gedanken machen, weil die Stadt seit einer ganzen Weile nicht mehr geantwortet hat. Bis man erkennt, daß irgend etwas nicht in Ordnung ist, hämmern wir bereits an ihre Pforten.« »Also bleibt uns ein wenig Zeit zum Disponieren . Gut.« Razor lächelte schwach. »Treibt die Gefangenen zusammen und exekutiert sie.« »Sir?« Major Chevron blinzelte den Investigator unsicher an. Der Befehl hatte ihn überrascht. »Soweit ich verstanden habe, sollten die Gefangenen als Geiseln und menschliche Schilde benutzt werden…?« »Dann habt Ihr falsch verstanden. Habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt, Major? Tötet alle! Einschließlich derer, die sich noch in ihren Häusern verstecken. Jetzt sofort!« »Jawohl, Sir. Sofort.« Der Major winkte die am nächsten stehenden Offiziere herbei und erteilte die entsprechenden Befehle. Die Offiziere gaben die Befehle an ihre Männer weiter, und die Imperialen Truppen zogen erneut ihre bereits mit Blutverkrusteten Schwerter und Äxte und machten sich mit ausdruckslosen, unbeteiligten Mienen an die Arbeit . Klingen zischten durch die Luft, und die überlebenden Frauen und Kinder und die wenigen Männer wurden rasch niedergemetzelt. Sie hatten kaum Zeit zu schreien, und das einzige Geräusch in der stillen Luft war das dumpfe Geräusch von hartem Stahl, der tief in menschliches Fleisch sank. Frauen versuchten, ihre Kinder mit ihren Leibern zu schützen, vergeblich. Die Marineinfanteristen erledigten ihre Arbeit äußerst sorgfältig . Razor lächelte. Er wollte, daß seine Soldaten sich ihrer Pflicht bewußt waren. Außerdem war es wichtig, daß die Leute nicht auf den Gedanken kamen, er könnte in seinem fortgeschrittenen Alter weich geworden sein. Er wußte, daß einige Leute nur darauf warteten, daß er einen Fehler beging, um ihren Vorteil daraus zu ziehen. Angefangen bei Major Chevron, der kein Hehl aus seiner Ansicht machte, daß er eigentlich das Kommando hätte haben müssen. Marineinfanteristen sammelten sich vor den wenigen Häusern zusammen, in denen sich noch Rebellen verschanzt hatten. Sie versuchten, die Häuser in Brand zu stecken, doch Steinmauern und Schieferdächer brannten nicht gut. Schließlich gaben sich die Soldaten damit zufrieden, die Fenster zu zerbrechen und Granaten hineinzuwerfen. Ein paar Stadtbewohner flüchteten vor dem Rauch und den Explosionen auf die Straße. Sie brüllten obskure Kampfrufe und schwangen Schwerter und Äxte, und die Infanteristen schossen sie aus sicherer Entfernung ab. Es dauerte nicht lange. Am Ende brannte jedes einzelne Haus der Stadt, und eine schwere schwarze Rauchwolke stieg in den dunkler werdenden Abendhimmel über der Nebelwelt. Tobias und Flynn befanden sich mitten im Geschehen und zeichneten alles und jedes auf. Flynns Kamera flog hin und her auf ihrem Antigravkissen, schwebte über den Köpfen, wenn es ein wenig zu heiß wurde, und Tobias kommentierte die Szenerie. Flynn wurde das Gemetzel zuviel, und er wollte aufhören zu filmen, doch Ffolkes verbot es und setzte dem Kameramann einmal sogar den Disruptor an den Kopf. Tobias redete und redete, und wenn seine Stimme hin und wieder rauher klang – nun, in der Luft war jede Menge Rauch. Die beiden Reporter waren seit ihren Erlebnissen auf Technos III daran gewöhnt, gewaltsamen Tod in Nahaufnahme zu filmen, aber nichts, was sie dort gesehen hatten, hatte sie auf das hier vorbereitet. Auf Technos III hatte ein Krieg zwischen zwei mehr oder weniger gleich starken Seiten getobt. Das hier war reine Schlachterei. Ffolkes war nicht in der Nähe, als Razor den Befehl zur Exekution der Überlebenden erteilte. Flynn blickte Tobias an. »Ich kann das nicht!« »Film weiter!« »Ich kann nicht! Das ist obszön! Sie haben sich längst ergeben!« »Ich weiß. Aber es ist wichtig, daß wir jede Einzelheit festhalten.« Flynn funkelte ihn an. »Du würdest alles für deine verdammten Quoten tun, wie?« »So ziemlich viel, ja, aber das hier ist etwas anderes. Die Menschen müssen erfahren, was sich hier zugetragen hat. Was die Löwenstein in ihren Namen getan hat.« Flynn verzog den Mund zu einer häßlichen Grimasse. Seine Augen füllten sich mit Tränen, doch er filmte weiter, bis zum letzten blutigen Husten und zum letzten zuckenden Leichnam . Als es endlich vorüber war, setzte er sich in den blutbesudelten Schnee und weinte. Die Kamera schwebte über ihm. Tobias stand vor Flynn und klopfte ihm tröstend auf die Schulter. Er war viel zu wütend, um zu weinen. »Bartek wird niemals zulassen, daß diese Aufnahmen gezeigt werden«, sagte Flynn schließlich. »Er wird alles herausschnei-den .« »Den Teufel wird er tun«, widersprach Tobias. »Er wird stolz auf dieses Gemetzel sein. Seine Truppen haben heute einen großartigen Sieg errungen. Den ersten auf der Nebelwelt. Du verstehst eben nicht, wie ein militärischer Verstand funktioniert, Flynn.« »Und dafür danke ich Gott!« Flynn stand wieder auf und schüttelte Tobias’ Hand ab. Seine Kamera landete wieder auf dem Schulterpolster. Ffolkes trat zu ihnen. An seiner Kampfrüstung klebte Blut, doch es war nicht sein eigenes. Er war blaß im Gesicht. Der Sicherheitsoffizier warf einen Blick auf die erbärmlichen Haufen verstümmelter Leichen, dann sah er Tobias und Flynn beinahe flehentlich an. »Macht Euch keine Sorgen«, sagte Tobias. »Wir haben alles aufgezeichnet.« »Das war nicht so geplant«, erklärte Ffolkes mit erstickter Stimme. »Das ist kein Krieg mehr.« »Doch, das ist es«, widersprach Investigator Razor, und Ffolkes wirbelte herum. Der Investigator trat mit der Stiefelspitze gegen eine der Leichen. »Das hier ist Abschaum. Feinde des Imperiums. Auf der Nebelwelt gibt es keine Unschuldigen. Allein dadurch , daß sie sich entschlossen haben, hier zu leben, sind sie automatisch Verräter und Kriminelle und zum Tod verurteilt.« »Und was ist mit den Kindern?« fragte Flynn. »Sie haben sich ihr Leben nicht ausgesucht. Sie wurden hier geboren, weiter nichts!« Razor sah den Kameramann gelassen an. »Sie wären zu Verrätern erzogen worden. Kann es sein, daß Ihr ein wenig zart besaitet seid, mein Junge?« »Ja«, antwortete Flynn. »Dafür ganz bestimmt.« »Macht Euch keine Gedanken, Junge. Das hier ist noch gar nichts im Vergleich zu dem, was in Nebelhafen stattfinden wird. Ich werde Euch noch zum Mann machen, seid unbe-sorgt.« Er wandte sich ab und ging davon, um weitere Befehle zu erteilen. Die Marineinfanteristen sammelten die Leichen der gefallenen Stadtbevölkerung ein und schichteten sie zu einem großen Haufen in der Mitte der kleinen Stadt auf. Der Haufen wurde stetig größer, und die Soldaten mußten über Leichen klettern, um die Toten immer höher aufzustapeln. Schließlich war es vollbracht. Der gewaltige Leichenberg ragte sogar über die Dächer der brennenden Häuser auf. Razor ließ ihn in Brand stecken. Rauch stieg auf, und der Gestank brennenden Fleisches hing schwer in der Luft. Für einige der Soldaten war das zuviel. Sie wandten sich ab von den Körpern, die sich in den Flammen krümmten, von dem blutigem Fleisch, das schwarz wurde und riß, und sie überga-ben sich in den weißen Schnee. Ihre Vorgesetzten standen über ihnen und schrien Befehle und Zurechtweisungen. Flynn filmte alles. »Ich will Razor tot sehen«, sagte er schließlich. »Ich schwöre, dafür wird er sterben.« »Er ist Investigator, Flynn. Gewöhnliche Leute wie du und ich bringen normalerweise keine Investigatoren um.« »Irgend jemand muß es tun«, entgegnete Flynn. »Solange es noch gewöhnliche Leute gibt.« Der dichte schwarze Rauch stieg hoch über die Überreste dessen auf, was noch vor kurzer Zeit die Stadt Hartsteinfels mit ihren etwas mehr als zweitausend Einwohnern gewesen war, während die Imperialen Marineinfanteristen in geordneter Formation zu den wartenden Schiffen zurückkehrten und sich auf den Flug nach Nebelhafen vorbereiteten. Zwei Marineinfanteristen patrouillierten durch die ehemalige Hauptstraße von Hartsteinfels. Zwischen ihnen wanderte eine Flasche Fusel hin und her. Zu beiden Seiten brannten Gebäude, und das gewaltige Krematoriumsfeuer prasselte in der Stadtmitte. Fettiger schwarzer Rauch stieg hoch in den abendlichen Himmel hinauf. Für Kast und Morgan, zwei Karrieresoldaten, war es nichts weiter als ein gewöhnlicher Auftrag. Sie hatten in den Jahren unter Bartek dem Schlächter schon Schlimmeres gesehen und getan. Sie unterschieden sich nicht sehr voneinander, diese beiden Marineinfanteristen. Beide waren groß und muskulös; beide trugen blutbesudelte Kampfrüstungen; beide besaßen breite, gutgelaunte Gesichter und Augen, die schon alles gesehen hatten. Sie wanderten durch die Stadt und warteten darauf, daß sie an die Reihe kamen, an Bord ihrer Pinasse zu gehen, um nach Nebelhafen zu fliegen. Wer als erster drin war, mußte als letzter raus, wie immer. Bis jetzt hatten sie noch nichts Angenehmes an der Nebelwelt entdeckt. Es war scheißkalt; die Einwohner schossen auf einen, wenn man nicht damit rechnete, und nirgendwo gab es ein gemütliches Plätzchen. Also gingen sie von Haus zu Haus und suchten alles, was nicht bis auf die Grundmauern niedergebrannt war, nach Beute und Fusel ab. Frauen gab es schließlich nicht mehr. »Verdammte Scheißgegend«, sagte Morgan. »Stimmt. Scheißgegend«, bestätigte Kast und beugte sich vor, um eine Zigarette an einem brennenden Türrahmen anzuzünden. »Trotzdem tut es gut, sich die rostenden Knochen mal wieder zu vertreten.« »Verdammt richtig«, erwiderte Morgan. »Ich dachte, ich würde verrückt. Monatelang immer nur auf den Scheißärschen sitzen und den Scheiß-Grendelplaneten aus dem Orbit beobachten. Das hier ist wenigstens ehrliche Arbeit. Soldatenar-beit.« Keiner von beiden verlor ein Wort über die Zeit in den Fol-terzellen auf Golgatha, über das Schreien und Schluchzen, während die Imperialen Hirntechs gnadenlos nach Informationen über die durchbrochene Quarantäne gesucht hatten. Es tat einfach gut, wieder frei zu sein und gegen einen richtigen Feind kämpfen zu können. Den Schmerz ein wenig zurückzah-len… Schließlich war das die Methode des Imperiums, oder? Sie stolperten über den Leichnam einer Frau, der anscheinend übersehen worden war. Der Körper lehnte zusammengesunken in einem Eingang. Die beiden Marineinfanteristen blieben vor der Toten stehen, und ihr blutiger Kopf schien ein kleines Stück nach vorn zu sinken, als nicke sie ihnen grüßend zu. Kast stieß Morgan den Ellbogen in die Rippen. »Ich glaube, sie mag dich.« »Wahrscheinlich ist sie sogar noch warm. Werfen wir eine Münze, wer als erster darf?« »Sicher. Aber wir nehmen eine von meinen. Du betrügst immer.« Sie warfen eine Münze, und Morgan gewann. Als er sich bückte, um den Leichnam an den Schultern zu packen, fiel der Kopf der Frau herunter und rollte durch den Schnee davon. Augenblicklich jagten die beiden Marineinfanteristen hinterher. Lachend improvisierten sie ein Fußballspiel. Der kopflose Leichnam lag vergessen im Hauseingang. Morgan trat den ›Fußball‹ mit einem wohlgezielten Schuß durch eine leere Fen-sterhöhle und vollführte einen triumphierenden Luftsprung . »Tor! Tor! Siehst du, Kast? Ich hab’s dir gleich gesagt. Ich kann’s immer noch. Ich hätte glatt eine Karriere als Profi ein-schlagen können!« »Ja, ja, und aus mir hätte glatt ein Unteroffizier werden können, wenn meinen Mutter nicht meinen Vater geheiratet hätte. Los jetzt, Bewegung. Die Zeit wird allmählich knapp.« Der Rest der Stadt war enttäuschend langweilig. Am Lei-chenfeuer zog Kast eine Packung Marshmallows aus der Tasche . Die beiden setzten sich, um die Marshmallows am Feuer zu rösten, während sie fröhlich Erinnerungen an vergangene Feldzüge austauschten. Der Himmel wurde stetig dunkler, und das Feuer tauchte die verlassene, zerstörte Stadt in einen purpurnen Höllenglanz. Kast und Morgan saßen an ihrem gewaltigen Lagerfeuer und sangen Lieder über Kameradschaft, Gewalt und über verlorene Freunde, und schließlich marschierten sie grölend aus der brennenden Stadt. Die letzte der Pinassen wartete, um sie nach Nebelhafen zu bringen. In Nebelhafen, im Abraxus-Informationszentrum, wachten alle Kinder gleichzeitig schreiend auf. Sie saßen kerzengerade auf ihren Pritschen, hatten die Münder weit aufgerissen und Blut und Tod in den Augen. Diejenigen, die an ihre Betten gebunden waren, kämpften verzweifelt gegen ihre Fesseln an. Chance lief aufgeschreckt zwischen ihnen umher und versuchte, diejenigen zu trösten, die sich trösten lassen wollten; doch der Todesschrei der vielen Esper in Hartsteinfels war zu stark und zu übermächtig, und er brach sich durch die Kehlen der Kinder seine Bahn. Langsam, ganz langsam kehrte in einige von ihnen wieder so etwas wie Vernunft zurück. Den restlichen verabreichte Chance starke Sedativa, sobald er sich wieder halbwegs konzentrieren konnte. Von den anderen erfuhr er bruchstückhaft, was sich in Hartsteinfels zugetragen hatte. Zum ersten Mal in vielen, vielen Jahren setzte er sich mit Direktor Stahl im Kontrollturm des Raumhafens in Verbindung. Stahl nahm sich Zeit, bis er den Anruf beantwortete, und als sein fettes Gesicht schließlich auf dem Schirm erschien, wirkte er bei Chances Anblick alles andere als erfreut. »Macht es kurz. Die Hälfte meiner diensttuenden Esper ist anscheinend verrückt geworden, und der Rest ist in Katatonie verfallen . Wir haben ein heilloses Durcheinander. Was wollt Ihr, Chance?« »Eine Imperiale Streitmacht hat vor wenigen Minuten Hartsteinfels dem Erdboden gleichgemacht«, kam Chance geradewegs zur Sache. »Es war eine große Armee, und sie ist in diesem Augenblick auf dem Weg hierher.« Stahl runzelte die Stirn. »Seid Ihr sicher? Wir hatten keine Verbindung mit Hartsteinfels, und auf unseren Sensoren ist nichts zu sehen.« »Die Stadt existiert nicht mehr«, erwiderte Chance. »Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind – alle tot. Das Imperium ist auf der Nebelwelt gelandet, Stahl! Ihr müßt etwas unternehmen!« »Ich melde mich wieder.« Stahl schaltete den Kommlink aus und bellte Befehle. Er glaubte nicht recht an Chances Information – nicht zuletzt deshalb, weil er es nicht wollte –, doch er durfte kein Risiko eingehen. Er ließ die diensttuenden Esper ohrfeigen, bis sie sich wieder halbwegs beruhigt hatten, und befahl ihnen anschließend, mit ihren Bewußtseinen so weit nach draußen zu greifen wie nur irgend möglich. In der Zwischenzeit aktivierte das Turmpersonal die Langstreckensenso-ren. Schon nach wenigen Augenblicken entdeckten die Esper ein großes dunkles Nichts an der Stelle, wo sich die Stadt Hartsteinfels befinden sollte, ein Nichts, das sie nicht durchdringen konnten. Sie entdeckten auch noch etwas anderes: ein Wesen, groß und mächtig und hinter einer Abschirmung verborgen. Hoch oben im Orbit um die Nebelwelt erkannte Legion, daß es entdeckt worden war. Endlich! Seine Zeit war gekommen, und jetzt konnte es tun, wozu man es geschaffen hatte: Terror und Verzweiflung über die Feinde des Imperiums bringen. Es ließ den Schild fallen und griff mit seiner unglaublichen Macht nach der Stadt Nebelhafen. Die Sensoren des Raumhafens entdeckten das Imperiale Schiff im Orbit augenblicklich – und Hunderte von Pinassen auf der Oberfläche, mit Kurs auf Nebelhafen . Direktor Stahl hämmerte auf den Alarmknopf, während ringsherum Esper schrien und zusammenbrachen und sich auf dem Boden wanden, weil sie das Entsetzen nicht ertragen konnten, das Legion war. Das Turmpersonal gab sich alle Mühe, sie wieder zur Vernunft zu bringen; doch einige waren bereits tot, andere waren wahnsinnig geworden, und der Rest hatte sich so weit in sich selbst zurückgezogen, daß er unerreichbar war. Sie versteckten sich in ihrem eigenen Verstand. Stahl benutzte eine Notfrequenz und rief die Espervereinigung an. Es dauerte ewig, bis jemand seinen Ruf entgegennahm. Statische Entladungen huschten über den Schirm, und das Signal wurde unter Legions Einfluß schwächer und schwächer. Am Ende erschien ein Mann mit panischem Blick auf dem Schirm. Sein Gesicht war schweißnaß und voller Entsetzen. »Schafft mir einen Verantwortlichen an den Schirm!« bellte Stahl. »Wir müssen unseren psionischen Schild errichten! Das ist ein Notfall!« »Das wissen wir selbst«, antwortete der Esper auf der anderen Seite. Er verdrehte die Augen wie ein durchgehendes Pferd. »Das Imperium ist hier! Wir können nichts dagegen tun! Es ist, als würde ein gigantischer ESP-Blocker die gesamte Stadt lahm-legen . Unsere Fähigkeiten sind nutzlos. Wir können uns nicht einmal mehr hören. Die Hälfte unserer Leute ist in Katatonie gefallen, um nicht ganz wahnsinnig zu werden. Und das ist noch nicht alles: Dieses Blockerfeld wird von Minute zu Minute stärker! Wir können keinen psionischen Schirm errichten.« Plötzlich schoß ein Blutschwall aus Nase und Ohren des Mannes. Er wirkte überrascht, wollte etwas sagen… dann verschwand sein Gesicht vom Schirm. Stahl rief erneut an, doch niemand antwortete. Und dann erlosch der Bildschirm ganz. Alle Kommunikationsfrequenzen waren mit einem Schlag blockiert. Stahl und seine Leute wandten sämtliche Notfallprozeduren an und aktivierten Reserveag-gregate, doch keines davon wollte funktionieren. Stahl saß in seinem Kommandantensitz, umgeben von Chaos und Schreien. Der psionische Schild war unten. Gegenwärtig wurden die Disruptorkanonen des Raumhafens hochgefahren, die Beute aus einem abgestürzten Raumschiff; aber ohne funktionierende Kommunikationsemrichtungen gab es keine Möglichkeit, die Waffen auf ein Ziel zu richten. Techniker arbeiteten fieberhaft daran, die Sensoren des Kontrollturms ins Kommunikationssystem einzuschleifen; allerdings wußte niemand, ob und wie lange das funktionieren würden. Schon jetzt versagten einige der schwächeren Aggregate ihren Dienst. Das unnatürliche Kraftfeld des Sternenkreuzer im Orbit war einfach zu stark. Stahl rief ein Dutzend Läufer zusammen und schickte sie in die Stadt. Sie sollten die Wachen und die Miliz organisieren. Noch während er seine Befehle erteilte, wußte er, daß es nicht reichen würde. Nebelhafen hatte sich schon zu lange auf seinen psionischen Schild verlassen. Unter dessen Schutz waren die Wachen weich geworden, und viele Jahre schon hatte niemand mehr die Miliz ernst genommen. Stahl grunzte. Die Einwohner Nebelhafens waren immer noch Kämpfer. Wenn sie in dieser Stadt überleben wollten, blieb ihnen auch gar nichts anderes übrig. Falls die Imperialen Kräfte glaubten, sie könnten einfach einmarschieren und die Stadt übernehmen, würden sie eine gewaltige Überraschung erleben. Stahl richtete den Blick auf die verbliebenen Sensorschirme und die ständig steigende Zahl sich nähernder Pinassen, und das Blut gefror ihm in den Adern. Es waren Hunderte! Das dort war kein Kommandounternehmen mehr; das war eine ganze Armee! Die Invasion der Nebelwelt hatte begonnen! Hoch oben im Orbit schwebte Legion in seinem Tank und streckte unsichtbare Hände nach den Espern der Nebelwelt aus, um mit dreckigen Fingern in ihren Bewußtseinen herumzusto-chern. Legion war das Produkt aus Tausenden von Esperhirnen, gekreuzt mit kaum verstandenen Apparaturen, die der Technologie einer Fremdrasse nachgebaut worden waren. Selbst die Konstrukteure hatten nicht genau gewußt, was sie dort eigentlich erschufen. Für den Augenblick befolgte Legion Befehle, weil es sich amüsierte; morgen war ein neuer Tag. Es sandte seine Macht aus, und Esper starben, weil ihre einfachen menschlichen Gehirne nicht imstande waren, dem Druck zu widerstehen. Andere zogen sich tief in sich selbst zurück und schalteten ihre Bewußtseine ab, um sich zu schützen. Einige tapfere Seelen versuchten, Legion zu sondieren – und wurden verrückt dabei, weil sie seine Natur nicht verstanden. Legion lachte nur und breitete seine psionische Macht in einer alles verschlingenden Woge über Nebelhafen aus; ein nicht enden wollender Schrei des Triumphs. Selbst Nicht-Esper konnten ihn hören und wanden sich unter dem Ansturm des entsetzlichen, unmenschlichen Geräuschs. Stahl senkte den Blick vor dem Chaos, das in seinem Kontrollturm herrschte. Eine eisige Hand griff nach seinem Magen, während ihm Schweißperlen übers Gesicht rannen. Sein ganzes Leben lang hatte er in Furcht vor diesem Augenblick gelebt, und er hatte niemals wirklich geglaubt, daß er kommen würde . Selbst als die Typhus-Marie in Nebelhafens Straßen und Gassen Amok gelaufen war, hatte er mit Hilfe von ein paar Freunden im letzten Augenblick den Sieg aus den Klauen der Vernichtung reißen können. Doch jetzt waren die Verteidigungseinrichtungen lahmgelegt . Der psionische Schild hatte versagt, und schon bald würden die Imperialen Truppen hungrig nach Blut und Zerstörung vor den Toren der Stadt stehen. Stahl schluckte mühsam und riß sich zusammen, so gut es ging. Er drehte sich zu seinem Kommunikationsoffizier um, der mit hängenden Schultern über größtenteils nutzlosen Systemen saß. »Also schön, Leute. Paßt auf. Dieser Turm ist nutzlos geworden, denn unsere Kommunikationsanlagen sind ausgeschaltet. Wir sind nur noch ein verdammt gut sichtbares Ziel für die angreifenden Truppen . Unsere erste Pflicht ist demnach, von hier zu verschwinden, und zwar so schnell wie nur irgend möglich . Tot nutzen wir niemandem mehr. Zerstört alle noch funk-tionierenden Systeme, bevor Ihr geht. Wir wollen nichts zu-rücklassen, was der Feind gegen uns verwenden könnte. Irgendwo muß es Dateien geben, die für einen Fall wie diesen angelegt wurden. Dort steht drin, was zu tun ist und wohin wir zu gehen haben. Die Sicherheitsleute müßten es wissen. Also kämpft hart; leistet Widerstand, und nehmt so viele von den Bastarden mit, wie Ihr nur könnt. Wenn das nicht funktioniert, dann rennt, als sei der Leibhaftige hinter Euch her. So, das war’s: Ich bin weg von hier. Gott schütze uns alle.« Er wandte sich ab und raffte ein paar nützliche Dinge in eine Reisetasche. Ihm kam der Gedanke, daß er diesen Raum vielleicht niemals wiedersehen würde, daß er vielleicht niemals wieder als Raumhafendirektor Befehle erteilen würde. Was auch immer als nächstes geschehen mochte, ein Kapitel in seinem Leben ging zu Ende, und er wußte nicht, ob er darüber traurig oder erleichtert sein sollte . Der Posten des Direktors war schwer und eine undankbare Aufgabe gewesen, selbst wenn man die kleinen Geschäfte be-rücksichtigte, die er nebenbei getätigt hatte, und das viele Geld, das er dadurch gescheffelt hatte. Er hatte seine Arbeit stets ernst genommen und die Stadt geschützt, so gut er konnte . Seine Stadt . Bis heute. Und jetzt konnte er nur noch alles abschalten, fliehen und sein Heim räumen, gleichgültig, wer auch immer es als nächster für sich beanspruchen würde. Stahl seufzte schwer und verschloß die pralle Reisetasche. Sie hätten sich wirklich aufraffen sollen, die Selbstzerstörungs-einrichtung zu installieren, als noch Zeit dazu gewesen war. Sie hatten es immer und immer wieder verschoben, weil es wichtigere Dinge gegeben hatte. Ringsherum herrschte ein wütender, ohrenbetäubender Lärm mit einem Hauch von Panik darin. Stahl ignorierte die Rufe und Schreie und machte sich auf den Weg nach draußen. Er blickte nicht ein einziges Mal zurück. Jetzt warteten andere Aufgaben auf ihn. Er war Mitglied des amtierenden Stadtrates, und er mußte sich mit den anderen Räten treffen und die Verteidigung Nebelhafens organisieren – oder das, was davon noch übrig war. Auf den Straßen herrschte Chaos. Menschen rannten durcheinander und schoben und drängten in alle Richtungen zugleich. Stahl setzte seine Körpermassen ein, um sich einen Weg durch das Gedränge zu bahnen. Er fühlte sich ein wenig besser, nun, da er etwas tun konnte und ein Ziel vor Augen hatte. Wenn es ihm nur gelang, bis zum Schwarzdorn vorzudringen… vielleicht konnte er den angreifenden Truppen doch noch ein paar wirklich unangenehme Überraschungen bereiten. Es dauerte fast eine Stunde, bis er sich durch die Menschenmenge vorgearbeitet hatte. Die Nachricht von der Landung des Imperiums war nach außen gedrungen – unvermeidlich in einer Stadt wie Nebelhafen –, und die Straßen waren ein einziger Hexenkessel. Leute schrien und rannten durcheinander und schwangen Waffen, angefangen bei Disruptoren bis hin zu antiken Klingen, die von Generation zu Generation für einen Tag wie diesen weitergereicht worden waren. Einige hielten trotzige Reden; andere prophezeiten den Untergang, und Möch-tegernkampfer und Flüchtlinge versuchten, sich gegenseitig aus dem Weg zu schieben. Hier und dort wurden bereits Straßen-barrikaden errichtet und verursachten weiteres Gedränge und neue Panik. Taschendiebe und Beutelschneider hatten die beste Zeit ihres Lebens. Das hier war immer noch Nebelhafen. Weder drohende Invasion noch Mord und Totschlag konnten verhindern, daß die Einwohner jedwede Möglichkeit nutzten, Geld zu machen. Stahl stürmte mit gesenktem Kopf voran. Als er endlich den Schwarzdorn erreichte, mitten im Zentrum des Diebesviertels, war die Taverne schon bis zum Bersten überfüllt . Helles Licht fiel aus den Fenstern auf die Straße . Der Laden gab eine hervorragende Zielscheibe ab . Die meisten Angehörigen des Rates waren bereits eingetroffen; doch sie waren zu sehr damit beschäftigt, sich gegenseitig anzuschreien und zu streiten, um Stahls Ankunft zu bemerken. Typisch, dachte Stahl und ließ sie mit sich allein. Erschöpft schob er sich bis zu der langen Holztheke vor. Er brauchte jetzt einen harten Drink. Zur Hölle mit seinen Magen-geschwüren. Cyder, die Inhaberin, half persönlich hinter der Theke aus. Stahl bestellte gleich mehrere große Brandys bei ihr, alle im gleichen Glas, weil es vielleicht einige Zeit dauern würde, bis er Nachschub bestellen konnte. Cyder zuckte unmerklich die Schultern und schüttete Stahls Brandys allesamt in einen großen silbernen Krug. Sie grinste ihn breit an. »Hätte ich gewußt, daß die Katastrophensitzungen des Rats so gut fürs Geschäft sind, hätte ich meinen Laden schon längst freiwillig dafür zur Verfügung gestellt«, sagte sie. »Das ist wieder einmal typisch für Euch, Cyder«, erwiderte Stahl. »Die Stadt steht vor der Vernichtung, und wir mit ihr, und Ihr denkt an nichts arideres als an Euren Profit.« Cyder bedachte ihn mit einem koketten Augenaufschlag. »Eine junge Frau muß eben immer darauf achten, daß sie ihr Auskommen hat…« »Bitte, hört auf damit«, unterbrach Stahl. »Es sieht unecht aus.« Cyder zuckte die Schultern. »Wer auch immer in Nebelhafen das Kommando hat, die Leute wollen trinken. Und Geld von einem Soldaten ist genausogut wie das von jedem anderen auch.« »Immer vorausgesetzt, sie brennen den Schwarzdorn nicht bis auf die Grundmauern nieder, weil hier die Katastrophensitzungen des Rates stattgefunden haben«, entgegnete Stahl und nahm einen tiefen Schluck aus seinem Becher. »Verdammt!« schimpfte Cyder . »Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Warum habt Ihr Euch überhaupt mein Etablis-sement ausgesucht?« »Weil es zentral liegt, Cyder. Weil niemand in einer Absteige wie dieser hier nach dem Rat suchen wird. Und weil Ihr praktisch jeden Bewohner der Stadt kennt. Eine perfekte Kombination, wie Ihr sicher zugeben werdet. Ich an Eurer Stelle würde noch ein paar Fässer aus dem Keller heraufbringen lassen. Wenn der Rat erst mit seiner Tagung begonnen hat, werden die Leute hier rein- und rauslaufen, als hätten sie Feuer in den Un-terhosen, und sie werden wahrscheinlich alle einen ziemlichen Durst haben. Drohende Todesgefahr und der Angriff auf die Stadt bringen so etwas mit sich, wißt Ihr? Ich vermute, Donald Royal ist noch nicht aufgetaucht?« »Bisher nicht. Er ist ein alter Mann, und er hat einen weiten Weg bis hierher. Selbst ohne das Durcheinander in den Straßen.« »Verdammt! Er ist der einzige im gesamten Rat, dem ich zutraue, das Richtige zu tun. Jede Wette, daß ein paar verdammte Narren schon laut über eine ehrenvolle Kapitulation nachdenken .« »Seht es doch von der guten Seite«, riet ihm Cyder. »Wenigstens müssen wir uns diesmal keine Sorgen wegen einer wild-gewordenen Typhus-Marie machen.« »Nein«, stimmte ihr Investigator Topas kühl zu. »Das müßt Ihr nicht.« Stahl und Cyder wirbelten erschrocken herum und erblickten Marie und Topas, die sich durch die Menge schoben und zur Theke drängten. Die Gäste beeilten sich, den beiden Frauen aus dem Weg zu gehen. Selbst die Gefahr einer bevorstehenden Invasion hatte sie nicht die einfachsten Höflichkeitsregeln vergessen lassen, und wenn doch, dann wenigstens nicht den eigenen Selbsterhaltungstrieb. Stahl schenkte den Frauen sein pro-fessionellstes Alles-unter-Kontrolle-Lächeln. Keine von beiden wirkte auch nur im geringsten beeindruckt, und so ließ er es wieder verschwinden. Cyder funkelte Marie an. Unbewußt glitt ihre Hand über die dünnen Narben auf dem Gesicht, eine Erinnerung an das letzte Zusammentreffen der beiden Frauen, als Cyder beinahe durch ein einziges tödliches Lied der Typhus-Marie gestorben wäre. Cyder war niemand, der leicht vergaß oder gar verzieh. Stahl entschloß sich, die Dinge in Bewegung zu bringen, bevor sie eine Gelegenheit hatten, ihm aus der Hand zu gleiten. »Wurde auch langsam Zeit, daß Ihr auftaucht, Investigator«, sagte er an Topas gewandt. »Ich unterstelle Euch hiermit die Stadtwache. Mit sofortiger Wirkung. Ihr wißt besser als jeder andere von uns, wie das Imperium kämpft und wie man ihm am besten gegenübertritt. Ordnet an, was immer Euch geboten erscheint. Requiriert alles, was Euch nötig dünkt. Wir können später immer noch darüber diskutieren… falls es überhaupt ein ›Später‹ geben sollte. Ich wünsche jeden einzelnen Mann der Wache seit zehn Minuten auf der Straße. Und keine Entschuldigungen, verdammt! Tretet ihnen in die Hintern, wenn es sein muß. Eure erste Aufgabe ist es, sämtlichen nicht lebenswichtigen Verkehr zu unterbinden. Ohne unsere Kommunikationssysteme müssen wir auf Kuriere zurückgreifen, und ich will auf gar keinen Fall, daß sie sich ihren Weg durch eine panische Menschenmenge bahnen müssen. Also macht mir die Straßen frei. Wenn es sein muß, schlagt ruhig ein paar Köpfe ein. Anschließend sucht Ihr jeden, der eine Waffe oder etwas Ähnliches besitzt und schickt ihn zu den Stadtmauern in Stellung. Sie sollen so lange durchhalten wie nur irgend möglich und sich dann Straße um Straße zurückfallen lassen. Ich hoffe nur, bis dahin ist mir etwas Besseres eingefallen.« »Solltet Ihr Euch nicht besser vorher mit dem Rest der Ratsversammlung besprechen, Direktor?« erkundigte sich Marie. »Mit diesem Haufen von Spinnern? Ich habe Anarchisten-treffen gesehen, die besser organisiert waren. Sie werden meine Entscheidungen bestätigen, sobald sie sich wieder ein wenig beruhigt haben. Was steht Ihr noch hier herum?« »Sonst noch was?« fragte Topas. Stahls böse Blicke beein-druckten sie kein Stück. »Sicher. Wenn Ihr Wunder zustande bringen könnt, dann wäre jetzt ein wirklich hervorragender Zeitpunkt dafür«, entgegnete er. »Und noch etwas, Topas: Was auch immer geschieht, Ihr laßt Marie nicht für eine Sekunde aus den Augen. Sie ist viel zu gefährlich, als daß wir riskieren dürften, sie von der Leine zu lassen.« »Ich verstehe«, sagte Marie. »Ich will nichts weiter als helfen, Direktor.« Stahl schenkte ihr einen Blick aus Augen, die zu schmalen Schlitzen zusammengepreßt waren. »Die Hälfte meiner Esper kann nicht mehr klar denken, seit dieser neue Apparat des Imperiums ihre Kräfte blockiert. Wie kommt es, daß Ihr kaum darunter zu leiden scheint?« »Mein ESP ist im Augenblick nicht aktiviert, Direktor. Ich war und bin eine sehr mächtige Sirene. Die Deprogrammierung durch Euch hat nichts daran geändert.« »Nicht, daß wir es nicht versucht hätten«, brummte Stahl . »Also schön . Ihr bleibt bei Topas, und wenn Ihr Eure Stimme einsetzen müßt, dann achtet darauf, daß Ihr in die richtige Richtung singt. Und jetzt macht, daß Ihr von hier verschwindet, alle beide. Ich muß eine Stadt verteidigen.« Wenige Stunden, nachdem Legion sein Tarnung hatte aufgeben müssen, erschienen in der eisigen Öde die ersten Imperialen Truppen. Sie drängten sich zu Hunderten auf gepanzerten Antigravschlitten und Barken. Welle auf Welle schwebte über die Stadtmauern herein, als wären sie überhaupt nicht vorhanden. Vereinzelt stachen die Energielanzen von Disruptorschüssen aus den wenigen Waffen der Rebellen in den Himmel, nur um harmlos an schimmernden Imperialen Schutzschilden abzuprallen. Imperiale Angriffe waren gewöhnlich so organisiert, daß schwere Panzerwagen und Kriegsmaschinen die Hauptstreit-macht bildeten; doch in der Kälte und dem Eis der Nebelwelt hätten derart schwere Vehikel den Vormarsch zu sehr verlangsamt. Die meisten Maschinen waren sowieso viel zu groß, um in den engen Straßen und Gassen von Nebelhafen manövrieren zu können. Deswegen waren die Imperialen Luftdivisionen gefordert, die Stadt sturmreif zu schießen. Ihre Schlitten rasten heulend aus der Höhe herab wie ein Schwarm tollwütiger Fledermäuse; schlanke, tödliche Gefährte, deren Disruptorkanonen unaufhörlich feuerten und die Straßen taghell erleuchteten, während Bauwerke aus Holz und Stein explodierten und in Flammen aufgingen. Menschen rannten in Panik durch die Straßen, während große Kampfbarken majestätisch über ihnen durch die Nacht glitten und Tod und Zerstörung brachten. Die Antigravschlitten jagten den Fliehenden hinterher und kurvten durch die engen Gassen. Sie terrorisierten ihre Opfer, bis sie ihrer überdrüssig wurden und ihnen mit blitzenden Energiestrahlen ein Ende bereiteten. Die Imperialen Luftstreitkräfte drangen unaufhaltsam weiter vor, bis mit einemmal Esper auf die Straßen stürmten und sich den Angreifern entgegenstellten. Die Espervereinigung hatte ihre stärksten Begabungen zu-sammengezogen und Legions Blockade für den Augenblick lahmgelegt. Sie wußten , daß es nicht lange dauern konnte; doch im Augenblick hatten sie gegen Legion die Oberhand behalten, und ein paar hundert tapfere Seelen erhoben sich auf Flügeln psionischer Energie und begegneten den Invasoren in ihrer vermeintlich sicheren Position. Die Esper schossen zwischen den viel langsameren Imperialen Luftfahrzeugen hindurch. Einige der Esper waren mit Energiewaffen ausgerüstet, andere mit Armbrüsten und wieder andere besaßen nichts weiter als blanken Stahl und ihren unbeugsamen Mut. Die Energieschilde der Barken knisterten und brachen zusammen, als weitere Esper unten in den Straßen die Technik verhexten und die Energie aus den Batterien saugten. Die vorbeifliegenden Esper schossen auf ungeschützte Ziele und hielten blutige Ernte. Imperiale Soldaten schrien voller Angst und stürzten in die Tiefe; doch am Ende erwies sich die Streitmacht der Angreifer als einfach zu groß. Sie war unaufhaltsam. Bald waren die Zielerfassungslektronen wieder aktiviert, und die fliegenden Verteidiger wurden einer nach dem anderen abgeschossen, trotz all ihrer Schnelligkeit und ihrem Todesmut. Sie fielen aus dem nächtlichen Himmel wie brennende Vögel, und die Imperialen rückten wieder vor, als sei nichts geschehen. Weitere Esper kamen auf die Straßen und traten an die Stelle der Gefallenen. Viele Bewohner Nebelhafens fanden angesichts der drohenden Gefahr für ihre Stadt und ihr Leben einen Mut, von dem sie niemals geglaubt hätten, daß sie ihn besaßen . Sie standen buchstäblich mit dem Rücken zur Wand, doch sie zogen mit grimmiger Entschlossenheit und kühlem Blick in den Kampf. Sie sprangen aus Verstecken in die Luft, in vertraute Strömungen hinein, und schlugen den Imperialen Feuerleitlektro-nen ein Schnippchen nach dem anderen, während sie ihre Ziele wie tödliche Insekten angriffen. Einige stürzten sich todesverachtend in die Antriebsmaschi-nen der Barken: Selbstmordangriffe, die nur hin und wieder von Erfolg gekrönt wurden. Und wenn eine Barke aus dem Himmel fiel, dann krachte sie auf die wenig stabilen Wohnhäuser aus Holz und Ziegel und brachte sie mit ihrem gewaltigen Gewicht zum Einsturz. Explodierende Barken zerstörten ganze Straßenzüge und setzten Häuserblocks in Flammen. Und das schlimmste war: Für jede abgestürzte Barke kamen neue hinzu. Sie rückten erbarmungslos und unaufhaltsam wie eine Naturgewalt gegen die Stadt vor, die einzunehmen sie gekommen waren. Von allen Seiten zugleich drangen die Imperialen Streitkräfte gegen das Stadtzentrum vor, und sie hinterließen eine Spur der Verwüstung. Block um Block, Straße um Straße rückten sie vor. Kein einziger Angreifer wich von seinem vorher sorgfältig geplanten Weg ab. Der Rest der Stadt blieb verschont. Das Imperium war gekommen, um Nebelhafen zu erobern und die Kontrolle zu übernehmen, und nicht, um die Stadt zu zerstören. Inzwischen brannten überall in der Stadt Feuer. Flammen loderten hoch hinauf in den Nachthimmel, und aus den Straßen drangen Schreie herauf. Die Hölle war über Nebelhafen gekommen, und Tobias Shreck und sein Kameramann Flynn befanden sich mitten im Geschehen und zeichneten alles auf. Flynns Kamera schoß hierhin und dorthin, während Tobias leise seinen fortlaufenden Kommentar dazu ablieferte. So weit über dem Ort der Zerstörung fiel Gelassenheit und Distanz nicht besonders schwer, und Tobias bemühte sich, seinen Zuschauern immer wieder deutlich zu machen, daß in dem Inferno dort unten richtige Menschen starben und verbrannten. Nicht, daß es die meisten seiner Zuschauer sonderlich berührt hätte. Es verstärkte höchstens den Nervenkitzel in den gemütlichen warmen Wohnzimmern. Tobias klammerte sich an das Geländer seiner Barke, als ein plötzlicher Aufwind aus kochendheißer Luft das schwere Fahrzeug von einer Seite zur anderen warf. Flynn war so versunken in den Anblick der Bilder, die ihm seine Kamera lieferte, daß er ganz vergessen hatte, wo er war. Deshalb hatte er sich auch nicht festgehalten. Fast wäre er über Bord gegangen, hätte Tobias ihn nicht im letzten Augenblick gepackt und zurückgezogen. Der Kameramann nickte noch nicht einmal zum Dank. Er war weit weg bei seiner umherjagenden Kamera, die über den sengenden Flammen schwebte wie ein Imperialer Engel und die Geburt der Hölle aufzunehmen schien. »Gutes Material?« fragte Tobias laut neben Flynns Ohr. »Wenn du sehen könntest, was ich sehe«, gab Flynn zurück. »Kriegsberichterstattung hat es schon immer gegeben, aber noch nie aus solcher Nähe oder auch nur halbwegs so deutlich . Ich kann einzelne Gebäude filmen, sogar einzelne Individuen, oder zurückgehen und eine Panoramaaufnahme der ganzen verdammten Stadt liefern. Es ist einfach wunderbar, Tobias. Das feurige Rot und Gold vor dem Schwarz der Nacht. Die brennenden Häuser. Die Flammen… das alles ist von einer Majestät und Größe, die weder Mitleid noch Gnade kennt. Sie braucht keine Entschuldigung und keine Ausflüchte; sie ist, wie sie ist. Eine Stadt stirbt Stück für Stück, und ich nehme alles auf. Die Farben sind ganz erstaunlich – hell und einfach atemberaubend. Und das Krachen der Explosionen… als liefe ein Riese durch die Straßen, ein gewaltiger Schritt nach dem anderen, und der Boden bebt unter seinen Füßen. Tobias, das ist… ein erhebendes Gefühl!« »Riechst du den Rauch?« fragte Tobias. »Brennendes Fleisch zwischen all dem Holz und Ruß. Hörst du die Schreie? Laß dich nicht mitreißen, Flynn. Das ist keine Invasion, das ist ein verdammtes Gemetzel.« Er brach ab, als ein Esper aus der Dunkelheit auf ihn zu-schoß. Der fliegende Esper war mit einer automatischen Armbrust bewaffnet, einer aus verbotener Technologie improvisierten Waffe. Die tödlichen Bolzen tackerten über die Männer an der Reling hinweg, während diese sich vergeblich bemühten, den rasend schnellen Angreifer aufs Korn zu nehmen. Tobias packte Flynn und riß ihn mit sich aufs Deck. Eine Disruptorkanone schwenkte herum, um das nächste Haus unter Feuer zu nehmen, und plötzlich schwebte der Esper unmittelbar vor ihr. Er schob seinen Arm tief in den Lauf und blockierte auf diese Weise die Waffe. Tobias hob den Kopf… und schaute dem Mann direkt in die Augen. Der Esper grinste wild. Er hatte Todesangst, und er gab einen Dreck darauf – das war deutlich zu sehen. Und dann explodierte die Bombe, die er in der Hand gehalten hatte, und die Kanone flog in Stücke. Der Esper wurde nach hinten geschleudert. Blutfontänen sprudelten aus der klaffenden Wunde, wo einst sein rechter Arm gesessen hatte. Der Esper stürzte auf die Straße hinab und lachte lautlos . Tobias sah ihm hinterher, bis er im Rauch und den Flammen verschwunden war. Leutnant Ffolkes stapfte übers Deck heran. Vorsichtig kletterte er über die Toten und Verwundeten. Der Sicherheitsoffizier hielt einen Disruptor in der Hand, und ein Ärmel seiner Uniform war blutbesudelt. Wieder schien es nicht sein eigenes zu sein. Ffolkes spähte über die Reling nach unten und ruckte gelassen beim Anblick der brennenden Stadt, als verspüre er eine innere Befriedigung. »Von dort unten verpaßt Ihr das Beste, wirklich!« sagte er beiläufig. »Darf ich annehmen, daß Ihr trotzdem alles dokumentiert?« »Oh, selbstverständlich«, antwortete Tobias und erhob sich vorsichtig. »In Nahaufnahme und manchmal sogar sehr persönlich.« Ffolkes musterte ihn. »Die Imperatorin mag Euch vielleicht den Befehl dazu gegeben haben, Shreck; aber ich bin immer noch derjenige, der die Verantwortung trägt. Haltet Euch an Eure Instruktionen. Keine… Polemik, oder ich werde Euch kaltstellen.« »Verstanden«, erwiderte Tobias. »Keine Polemik. Nichts als Blut und Tod und brennende Wohnhäuser.« »Genau. Ich bin ja so froh, daß wir uns verstehen«, sagte Ffolkes. »Macht weiter.« Er stolzierte davon, um jemand anderen zu ärgern. Tobias winkte ihm mit einer obszönen Geste hinterher, dann bemerkte er, daß Flynn noch immer auf dem Boden lag. Er zog ihn zu sich hoch. Der Kameramann war ganz in das versunken, was ihm sein elektronisches Auge über das Komm-Implantat vermittelte. Tobias hätte sich mit Hilfe seines eigenen Komm-Implantats in die Frequenz der Kamera einloggen können, doch er verspürte keine Lust dazu. Es gab für alles Grenzen. Es fiel ihm auch so schon schwer genug, mit dem fertig zu werden, was sich vor seinen Augen abspielte. Owen Todtsteltzer zitterte am ganzen Leib. Er kroch auf Händen und Knien durch sein Zimmer in der SchwarzdornTaverne, wo von der Invasion bisher noch nichts zu bemerken war. Sein Kopf war heiß, und dicke Schweißperlen tropften von seinem verzerrten Gesicht. Schmerzwellen rasten durch seinen Körper – scharfe, stechende Schmerzen, die bis tief in die Eingeweide hinabreichten. Owen litt an hohem Fieber. Seine Gedanken waren träge und verschwommen. Die Schmerzen drohten ihn zu zerreißen. Er kroch weiter, Zentimeter um Zentimeter, als wolle er vor den Schmerzen fliehen. Sein Gesicht war eine einzige Grimasse; doch kein Laut kam über seine Lippen. Owen schrie nicht. Es kostete ihn beinahe übermenschliche Anstrengung, aber er war ein Todtsteltzer. Er durfte nicht zulassen, daß ihn irgend jemand in dieser Verfassung sah. Er prallte mit der Schulter gegen ein Tischbein und fegte das Hindernis mit einem Schwinger beiseite. Erneut versuchte er sich zu übergeben, doch sein Magen war längst leer. Owen war blind vor Schmerz durch den Inhalt gekrochen. Das Zittern hatte begonnen, als er die schmale Treppe hinter der Theke nach oben geklettert war. Zuerst hatte er geglaubt, es sei eine Reaktion auf die Todesgefahr, in der er geschwebt hatte, oder vielleicht die Folgen der Anstrengung, gegen so viele Angreifer gleichzeitig gekämpft zu haben. Der Tag war schließlich recht hart gewesen. Dann war es schlimmer geworden. In Owens Kopf hatte sich mit einemmal alles gedreht. Seine Hände hatten gezittert wie Espenlaub, und sein Gang war zunehmend unsicherer geworden, bis er geschwankt hatte wie ein Betrunkener. Irgendwie hatte er es bis ins Obergeschoß geschafft und war mit der Schulter an der Wand weitergegangen, um nicht hinzufallen. Der Weg bis zu seinem Zimmer war ihm endlos erschienen, aber schließlich hatte er es geschafft . Owen hatte es sogar irgendwie fertiggebracht, die Zimmertür hinter sich zu schließen, bevor er zusammengebrochen war und sich übergeben hatte. Sein Kopf krachte gegen ein neues Hindernis . Er spürte es kaum. Es dauerte einen Augenblick, bis er begriff, daß er an der Wand angelangt war und daß es nicht mehr weiterging. Er drehte sich mühsam um und stöhnte vor Pein. Dann lehnte er sich mit dem Rücken gegen die Wand und saß mehr oder weniger aufrecht. Die Schmerzen waren noch schlimmer geworden – falls das überhaupt möglich war –, und Owen hatte das Gefühl, bei lebendigem Leib zu verbrennen. Das Zimmer war ein einziger verschwommener Schatten, und Owen spürte, wie Tränen über seine Wangen strömten, ohne daß er es hätte verhindern können. »Lieber Gott, was geschieht nur mit mir?« stöhnte er und er-schrak beim Klang seiner eigenen Stimme. »Nebeneffekte. Das kommt von deinem ständigen Gebrauch des Zorns«, antwortete Ozymandius in seinem Kopf. »Ich habe dich immer davor gewarnt. Was auch immer das Labyrinth des Wahnsinns mit dir gemacht hast, du bist und bleibst ein Mensch. Du hast den Zorn zu häufig und zu lang benutzt, und das rächt sich jetzt. Erinnerst du dich? Die Kerze, die doppelt so hell leuchtet, brennt nur halb so lange. Du hast darauf vertraut, daß das Labyrinth des Wahnsinns und seine Auswirkungen die Schäden heilen würden, die du dir selbst zugefügt hast; doch wie es scheint, hast auch du noch Grenzen. Menschliche Grenzen, Owen. Dein Körper hat sich selbst entflammt, und jetzt ist nichts mehr da, um die Flammen zu löschen.« »Es muß doch etwas geben, was ich dagegen tun kann«, stöhnte Owen zwischen zusammengepreßten und doch klap-pernden Zähnen hervor. Fieber und Schüttelfrost wechselten sich inzwischen ab. »Ich fürchte, deine Möglichkeiten sind ziemlich beschränkt, Owen. Du kannst erneut in den Z orn fallen, aber das würde die Dinge auf lange Sicht nur verschlimmern. Eine Regenerationsmaschine könnte dir vielleicht helfen, aber ich wüßte nicht, wo es auf der Nebelwelt eine geben sollte. Natürlich könntest du dich auch den Ärzten ausliefern… oder dem, was auf diesem Planeten so Arzt heißt. Ich für meinen Teil rate dir davon ab.« »Verdammt! Oz… Hilf mir!« »Tut mir leid, Owen. Du selbst hast dich in diese Lage gebracht. Ich kann nichts tun.« »Ozymandius, werde ich… werde ich sterben?« »Das weiß ich nicht, Owen. Allerdings sieht es nicht gut aus.« »Ozymandius…« »Still, Owen. Es wird schon alles wieder gut. Ich bin ja bei dir.« Ein leises Klopfen erklang an der Zimmertür. Owen biß die Zähne zusammen und fragte mit unsicherer Stimme: »Ja? Wer ist da?« Eine Pause, dann: »Lord Todtsteltzer, der Rat der Stadt bittet Euch, nach unten zu kommen. Euer Rat und Eure Unterstützung werden dringend gebraucht.« Owen schluckte mühsam. Sein Mund zitterte; seine Zunge war geschwollen, und die Lippen waren taub. Er mußte dem Boten antworten, oder der Mann würde hereinkommen und nachsehen, ob alles in Ordnung war. Owen durfte nicht zulassen, daß jemand ihn in dieser Verfassung sah. Andernfalls würde ihm niemand je wieder vertrauen. Man würde ihn wie einen Invaliden behandeln und irgendwohin abschieben. Owen wollte verdammt sein, wenn er sich das Leben eines Krüppels aufdrängen lassen würde. Und falls er sterben mußte… Er zog es vor, allein zu sterben. Ihm wurde bewußt, daß der Bote noch immer auf eine Antwort wartete. »Ich komme gleich«, sagte er so laut und deutlich, wie er konnte. Eine weitere Pause, dann meldete sich die Stimme erneut. Der Ton war äußerst respektvoll: »Lord Todtsteltzer, die Invasion Nebelhafens hat begonnen. Ihr könnt die Explosionen nicht überhört haben. Ich soll Euch nach unten begleiten…« »Ich sagte, ich komme gleich!« rief Owen. Ihm war egal, wie seine Stimme klang. Er hörte, wie der Bote draußen entschlossen mit den Füßen scharrte. Schließlich entfernten sich seine Schritte. Owen grinste freudlos. Speichelfäden hingen an seinem Kinn. Er hatte geglaubt, das Labyrinth des Wahnsinns hätte ihn zu einem Übermenschen gemacht und ihm ermöglicht, die menschlichen Schranken hinter sich zu lassen. Wie es schien, hatte er sich getäuscht. Er war noch immer ein Mensch, nichts weiter, und er würde es auf die gleiche Art beweisen wie jeder andere auch: Er würde sterben. Er versuchte, sich aufzurichten, vergebens. Sein Kopf wurde von Minute zu Minute schwerer und sank vornüber, bis er auf der Brust ruhte. Owen hörte seinen eigenen Atem. Er klang laut, unregelmäßig und mühsam. Allmählich wich der Schmerz. Noch kurze Zeit zuvor hätte er neue Hoffnung aus dieser Tatsache geschöpft, doch inzwischen wußte er, was es in Wirklichkeit zu bedeuten hatte. Er starb. Sein Körper schaltete sich ab, Stück für Stück. Er wünschte, die anderen wären bei ihm gewesen… Sie hätten ihre mentale Verbindung eingehen können, ihm helfen können, oder einfach nur… ihm Gesellschaft leisten. Aber wie immer war er allein. Allein bis auf eine Stimme in seinem Kopf, der er nicht traute. Vermutlich wäre es jetzt an der Zeit gewesen zu beten, doch Owen hatte sich noch nie etwas aus Gebeten gemacht. So viele Dinge blieben ungetan. So viele Dinge ungesagt. Er hatte immer geglaubt, dazu sei später noch Zeit… Er hatte Hazel nie gesagt, daß er sie liebte. Die Tür flog krachend auf, und Hazel d’Ark stand im Eingang. Sie warf einen entsetzten Blick auf Owen und stürzte herbei, um vor ihm niederzuknien. Mit geübter Routine nahm sie seine Hand, grunzte, als sie die klamme Kühle spürte, und prüfte Owens Puls. Die andere Hand legte sie an seine Stirn, zuckte zusammen, als sie das Fieber spürte, und wischte Owens schweißnasse Hand an ihrer Hose ab. Sie prüfte seinen Puls erneut, diesmal mit einer Uhr, und öffnete anschließend Owens Kragen, damit er leichter atmen konnte. »Todtsteltzer…? Verstehst du, was ich sage? Owen! Weißt du, was dir fehlt?« »Zuviel Zorn…«, antwortete er. Zumindest glaubte er, daß er geantwortet hatte. Er war nicht mal sicher, ob Hazel überhaupt da war. Vielleicht war alles nur Einbildung, weil er sich so sehr wünschte, sie zu sehen. Und dann durchzuckte ihn ein scharfer Schmerz: Sie hatte ihm eine heftige Ohrfeige versetzt. »Bleib wach, Todtsteltzer! Hast du Zorn gesagt?« »Nebeneffekte«, stieß er rauh hervor. »Es zerreißt mich. Ich verbrenne von innen heraus. Nicht einmal das Labyrinth des Wahnsinns kann mir noch helfen.« »Scheiße«, fluchte Hazel leise. »Ich erinnere mich, daß du mich über die Gefahren des Zorns zu warnen versucht hast. Eine Sucht, die einen Menschen töten kann. Fluch und Segen der Todtsteltzer. Verdammt! Bleib wach, Owen! Halt durch, ich hole einen Arzt!« »Nein. Kein Arzt kann mir helfen. Hazel, ich wollte dir noch etwas sagen…« »Schon gut, Owen. Schon gut. Ich verstehe dich. Ich weiß genau, was du durchmachst. Ich habe es am eigenen Leib erfahren. Du wirst nicht sterben. Man nennt es Entzug. Ich bleibe bei dir. Ich weiß noch ganz genau, wie ich mich bei meinem Entzug gefühlt habe, damals, als Plasmakind. Du wirst nicht sterben, Owen. Du wirst dir nur wünschen, tot zu sein.« Sie setzte sich neben Owen, schlang die Arme um ihn und wiegte ihn wie ein Kind. Ihre Arme waren stark und ruhig. Ein Gefühl von Frieden und Ruhe strömte aus ihr und erfüllte Owen. Sein Zittern und die Muskelkrämpfe ließen allmählich nach und verebbten schließlich ganz. Der Schmerz wich aus ihm wie Wasser, das in einen bodenlosen Abfluß strömt. Das Fieber schwand, und Owens Atem normalisierte sich. Noch immer floß Kraft von Hazel zu ihm. Ihre mentale Verbindung funktionierte endlich wieder. Ihre Gedanken blieben getrennt, denn Hazel hatte eine entschlossene Schranke zwischen sich und Owen errichtet. Physisch allerdings stimmten sie sich mehr und mehr aufeinander ein, bis sämtliche Nebeneffekte des Zorns verschwunden waren, bis der Schmerz vergangen und Owen wieder er selbst war. Sie saßen noch eine Weile beisammen, und Hazel hielt Owen noch immer in den Armen. »Wunderbar«, sagte Owen schließlich. »War es für dich genauso schön?« Hazel lachte und stieß ihn weg. »Du bist wieder gesund, Kerl. Und jetzt mach, daß du auf die Beine kommst . Unten schreien sie laut nach dir .« Sie erhoben sich und lächelten sich an. Keiner von beiden wußte so recht, was er als nächstes sagen sollte. »Danke«, meinte Owen schließlich. »Du hast mich gerettet. Ich wäre wahrscheinlich hier gestorben, aber du hast mich davor bewahrt. Ich wußte gar nicht, daß du diese Fähigkeit besitzt.« »Ich habe eine Menge Fähigkeiten, von denen du nichts ahnst, Todtsteltzer. Und noch ein paar mehr.« »Das stimmt. Wo steckt Silver?« »Irgendwo draußen auf der Straße. Er kämpft für seine Stadt. Ich hätte nie gedacht, daß er ein Held sein könnte, aber das zeigt nur wieder einmal, wie sehr man sich in Menschen täuschen kann.« »Stimmt«, entgegnete Owen. »Niemand von uns ist vollkommen.« Mehr an Entschuldigung und Versöhnung würde es nicht geben, und beide wußten es. Deswegen wechselten sie rasch das Thema. »Du weißt«, sagte Hazel, während sie zur Tür gingen, »daß das jederzeit wieder geschehen kann. Immer dann, wenn du den Zorn zu sehr einsetzt .« Owen zuckte die Schultern . »Ich habe nur getan, was nötig war. Der Zorn ermöglicht es.« »Ich weiß genau, wie es sich anfühlt«, erklärte Hazel. »Bei dir ist es der Zorn, bei mir ist es Wampyrblut.« Sie traten in den Korridor und blickten sich an. Schließlich lächelte Owen. »Ich schätze, man muß selbst süchtig sein, um einen anderen Süchtigen zu verstehen. Gehen wir runter und spielen wieder einmal die Helden, und beten wir zu Gott, daß die armen Bastarde, die sich auf uns verlassen, niemals herausfinden, daß wir Statuen auf tönernen Füßen sind. Du bist eine echte Freundin, Hazel. Ich weiß nicht, was ich ohne deine Hilfe getan hätte.« »Jetzt übertreibe mal nicht, Aristo«, entgegnete Hazel. Sie mußte unwillkürlich grinsen. Nebeneinander gingen sie die Treppe hinab und berührten sich nur ganz leicht. Unten entdeckten sie, daß es in der gesamten Taverne keinen einzigen Gast mehr gab. Auch das Mobiliar hatte man entfernt. Die Stühle waren an den Wänden aufgestapelt worden, und der Rat der Stadt Nebelhafen hatte sich um einen großen runden Tisch mitten in der Gaststube versammelt. Die Räte saßen über einem Stadtplan und stritten lauthals und gestikulierten mit Händen und Füßen. In einem ununterbrochenem Strom kamen Leute von der Straße herein und brachten Lektronenterminals, Monitorschirme und andere nützliche Ausrüstung aus dem Technikerviertel, bevor sie wieder nach draußen verschwanden. Läufer kamen und gingen mit neuesten Informationen und blieben nur kurz, bevor sie wieder in der Nacht verschwanden. Sie waren die Augen und Ohren des Rats, nachdem die Kommunikationssysteme nicht mehr funktionierten . Wenigstens waren die Menschen in Nebelhafen daran gewöhnt zu improvi-sieren. Die Inhaberin des Schwarzdorns beobachtete das Durcheinander aus der Sicherheit der langen Holztheke am anderen En-de des Gastraums. Cyder besaß ein strahlendes Lächeln, das ihre Augen manchmal nicht erreichte. Dünne Narben wie Sor-genfalten zogen sich über eine Hälfte ihres Gesichts. Sie war früher die härteste und fleißigste Hehlerin von ganz Nebelwelt gewesen. Inzwischen war sie eine höchst ehrenwerte Bürgerin, Besitzerin einer beliebten, profitablen Taverne und wenn man den Worten ihres alten Freundes John Silver glauben durfte – auf dem besten Weg, einen Sitz im Rat der Stadt zu erhalten. So etwas gibt es auch nur auf der Nebelwelt, hatte Owen gesagt. Glaub nicht alles, was man dir erzählt, hatte Hazels Antwort gelautet. Neben Cyder stand der junge Katze und nippte an einem Bier. Katze – Cyders Kumpan, Liebhaber und gelegentlicher Sündenbock. Cyder war bekannt dafür, nicht gerade zimperlich zu sein. Katze besaß ein blasses, jugendliches Gesicht, das von dunklen, wachen Augen beherrscht wurde und von Pockennarben, die wie Tätowierungen aussahen. Er steckte in einem weißen Thermoanzug, der sowohl im ständigen Nebel als auch im Schnee gleichermaßen gute Tarnung bot. Katze war groß, geschmeidig und taubstumm, und er war wahrscheinlich der beste Dieb, den die Nebelwelt je gesehen hatte. Angeblich hatte er sich aus dem Geschäft zurückgezogen, jetzt, da Cyder genug Geld hatte, um für ihn zu sorgen aber Dachläufer mit seinen Qualitäten waren stets gefragt, und Katze liebte seine Arbeit. Owen und Hazel gingen zur Theke, und Cyder begrüßte sie mit einem mürrischen Gesicht. »Ich weiß nicht, warum ich euch überhaupt aufgenommen habe«, sagte sie. »Jedesmal, wenn ihr in meinem Leben auftaucht , geht alles vor die Hunde und meine Taverne verwandelt sich in einen Trümmerhaufen. Ich würde eine Versicherung gegen euch abschließen , wenn ich nur jemanden finden könnte, der so dumm ist und die Police unterschreibt. Seht euch doch nur an, was jetzt schon wieder geschieht! Ich bin Zuschauer in meinem eigenen Laden! Ich habe gutes Geld verdient, bis der verdammte Rat meine Gäste hinausgeworfen hat. Die Ratsmitglieder sind viel zu beschäftigt, um ans Trinken zu denken. Wer bezahlt mir meinen Ver-dienstausfall?« »Entspannt Euch«, beruhigte sie Owen. »Ich habe ein paar Geschäftspartner in der Stadt, die mit Freuden dafür aufkommen werden. Nun, genaugenommen nicht gerade mit Freuden, aber sie werden es trotzdem tun. Sie wissen nämlich, daß ich sie an den Knien köpfe, falls sie sich weigern. Und das meine ich wörtlich.« »Was ist hier überhaupt los?« fragte Hazel, nachdem sie und Cyder sich flüchtig über die Theke hinweg umarmt und die Luft in der Nähe der Wangen geküßt hatten. »Wir organisieren den Widerstand«, antwortete Cyder und schenkte sich einen ziemlich großen Drink ein. »Bis das Imperium uns findet, heißt das; aber das wird noch eine Weile dauern. Hoffentlich. Offiziell wissen nur die Ratsmitglieder selbst von dieser Versammlung hier, aber wir brauchen mehr und mehr Leute, die uns helfen, und irgendwann wird ganz bestimmt jemand reden. Irgend jemand redet immer irgendwann. Bis dahin gibt sich der Rat die größte Mühe, den Widerstand zu organisieren und die Schäden und die Zahl der Todesopfer möglichst gering zu halten.« Stahl bemerkte schließlich, daß Owen und Hazel eingetroffen waren. Er winkte den beiden, zu ihm zu kommen, und stellte sie den übrigen Ratsmitgliedern vor, die nicht im geringsten beeindruckt waren – weswegen Owen beschloß, sich ebenfalls unbeeindruckt zu zeigen. Was im übrigen nicht besonders schwer war. Donald Royal hatte sich inzwischen ebenfalls eingefunden. Er wirkte alt und gebrechlich, doch sein Wille schien ungebrochen. In seiner Begleitung befanden sich Madeleine Skye und Jung Jakob Ohnesorg. Quentin McVey war als Repräsentant der Gilden gekommen. Er war gekleidet wie ein farbenblinder Pfau, ohne jede Spur von Geschmack. Albert Magnus repräsentierte die Kaufleute. Er war ganz in Grau gekleidet, einer Farbe, die zu der seiner Haut paßte, und er sah aus, als wäre er schon eine ganze Weile tot und erst kürzlich wieder ausgegraben worden. Lois Barron sprach für das Diebesviertel. Sie war eine kleine, kompakte Frau, die wirkte, als könne sie eine Blechdose zerkauen und Nägel spucken. Sie besaß einen Händedruck wie eine Schraubzwinge, und Owen mußte sich zusammenreißen, um nicht aufzustöhnen. Der letzte in der Runde war Iain Castle. Er war der Repräsentant des Technikerviertels, ein humorloser Zwerg mit krummen Schultern. Sie alle bedachten Owen mit merkwürdigen Blicken, und als er in den großen Spiegel hinter der Theke schaute, verstand er auch warum. Er war von oben bis unten mit Blut und Erbrochenem besudelt, und seine Kleidung sah aus, als wäre jemand darin gestorben. Sein Gesicht war totenbleich, und die Augen lagen so tief in den Höhlen, daß er sich beinahe wunderte, überhaupt etwas sehen zu können. Alles in allem erweckte Owen den Eindruck eines gemeingefährlichen Irren, der endlich den wahren Sinn des Lebens entdeckt hatte und darüber verdammt angewidert war. Hazel hingegen sah aus wie ein Kneipenschläger – aber so sah sie eigentlich immer aus. Quentin McVey ergriff als erster das Wort. Er schraubte sich ein Monokel ins linke Auge und musterte Owen von oben bis unten. »Laßt diesen Burschen da waschen und schickt ihn dann auf mein Zimmer.« »Vergeßt es«, erwiderte Owen liebenswürdig. »Ihr könntet mich nicht bezahlen.« »Ihr hattet schon immer einen Hang zu Grobheiten, Quentin«, bemerkte Lois Barron. »Aber das ist gewöhnlich, sogar für Euch. Meine Güte, dieses heruntergekommen aussehende Pärchen dort soll unsere Verbindung zur Untergrundbewegung von Golgatha sein? Eine Schande! Wenn diese beiden vor meiner Haustür aufgetaucht wären, hätte ich die Hunde auf sie gehetzt .« »Richtig«, stimmte ihm Magnus zu. »Schafft sie raus. Wir haben viel zu tun. Wenn Golgatha ernst genommen werden will, dann soll es uns gefälligst andere Gestalten als diese dort schicken.« »Schmeißt sie endlich raus!« keifte Iain Castle, der Zwerg. »Wir haben keine Zeit für dieses Pack.« Owen und Hazel streckten ihre mentalen Fühler aus und schlossen sich zusammen. Geheimnisvolle Energien strömten zwischen ihnen hin und her und wurden immer stärker. Ihre Gegenwart wurde plötzlich überwältigend und erfüllte den Raum vom Boden bis unter die Decke und von einer Wand bis zur anderen. Alle Augen waren jetzt auf die beiden gerichtet. Sie sahen wild und machtvoll aus und so stark, daß sie beinahe übermenschlich wirkten. Die mentale Energie hämmerte auf die umgebende Luft ein wie der Herzschlag eines Riesen. Die Ratsmitglieder verspürten das plötzliche Bedürfnis davonzu-rennen oder auf die Knie zu fallen, doch sie waren an Ort und Stelle gefesselt und zu keiner Regung fähig. Hypnotisiert wie das Kaninchen vor der Schlange. Neue Energie durchströmte Owen und Hazel und spülte alle Schwäche und Unreinheit weg. Hazels Blutsucht hatte die mentale Verbindung zu Owen schon so lange behindert, daß beide gar nicht mehr gewußt hatten, wie mächtig sie in diesem Zustand waren. »Hört augenblicklich auf damit!« stieß Cyder trotz der Ehrfurcht hervor, die von ihr Besitz ergriffen hatte und sie gegen die Wand gedrückt hielt. »Wir sind beeindruckt, ganz ehrlich. Aber jetzt hört endlich auf damit, bevor das Imperium und seine Esper euch entdecken.« Owen und Hazel zügelten die mentale Energie, und plötzlich waren sie wieder ein ganz gewöhnlicher Mann und eine ganz gewöhnliche Frau. Owen konnte nicht glauben, daß er sich noch wenige Minuten zuvor dem Tod nahe gewähnt hatte. Jetzt, mit Hazel an seiner Seite, hatte er das Gefühl, als könne er es mit einer ganzen Armee aufnehmen. Anscheinend gab es noch immer einiges von dem zu enträtseln, was das Labyrinth des Wahnsinns mit ihnen gemacht hatte. »Beruhigt euch«, sagte Hazel gelassen an die Adresse der Rats Versammlung. »Ich glaube kaum, daß irgendein Esper uns entdecken könnte. Was auch immer die Ursache für unsere Macht sein mag – ganz bestimmt ist es kein ESP.« Die Ratsmitglieder warfen sich bedeutsame Blicke zu, und einige von ihnen wirkten noch aufgebrachter als zuvor. Owen erkannte mit einemmal, daß sie genauso viel Angst vor ihm und Hazel verspürten wie vor dem verdammten Imperium. Für den Augenblick jedenfalls. Das Imperium war wenigstens ein bekannter Gegner. Owen trat mit beruhigend ausgestreckten Händen vor und gab sich Mühe, so zu tun, als bemerke er nicht, daß sie alle zusammenzuckten und vor ihm zurückwichen. »Ruhig Blut, Leute«, sagte er. »Wir sind hier, um Euch zu helfen. Dies ist Eure Stadt, und Ihr müßt uns schon sagen, wie wir Euch am besten bei der Verteidigung helfen können.« Unvermittelt trat Donald Royal vor und schaute Owen tief in die Augen. Sein Blick war fest und entschlossen. »Ja. Ihr seid ein Todtsteltzer. Ich kann es an Euren Augen sehen. Verdammt, es tut gut, wieder einen Todtsteltzer bei sich zu haben. Eure Familie hatte schon immer die Gabe, die Dinge in ihrem Sinn zu bewegen. Ich kannte Euren Vater und Euren Großvater, mein Junge. Gute Männer, alle beide, auf ihre eigene Art und Weise. Wenn das hier alles vorbei ist, werde ich Euch ein paar Geschichten über sie erzählen, die Ihr wahrscheinlich nicht in den Familienannalen findet. Es tut gut, Euch hier zu haben und zu sehen, daß Ihr die Tradition Eures Clans fort-setzt.« »Spart diesen Alte-Zeiten-Mist für später auf!« unterbrach ihn Castle. »Welche Art von Hilfe bringt Ihr, Todtsteltzer? Wollt Ihr vielleicht nach draußen gehen und die Imperialen Sturmtruppen zu Tode beeindrucken? Meinetwegen kann Euch das ESP oder Juju oder was auch immer zu den Ohren herauskommen, aber damit haltet ihr keine angreifende Armee auf. Sicher hat Golgatha nicht nur Euch beide hergeschickt, um seine besten Wünsche auszudrücken. Wir brauchen Waffen, Sprengstoff und Ausrüstung.« »Wir haben eine ganze Schiffsladung Projektilwaffen und Kisten mit Munition mitgebracht«, erwiderte Owen gelassen. »Während wir hier reden, müßten sie schon verteilt werden. Das ist alles.« »Projektilwaffen?« fragte Magnus ungläubig. »Was sollen diese verdammten Antiquitäten gegen Antigravbarken mit Disruptorkanonen nutzen?« »Laßt Euch überraschen«, antwortete Hazel. »Außerdem habt Ihr Owen und mich. Wir wiegen eine ganze Armee auf.« »Oh, wunderbar!« höhnte Lois Barron. »Ein ehemaliger Aristo und eine ehemalige Piratin mit aufgeblasenem ESP und Anfällen von Größenwahn! Als hätten wir davon nicht schon genug! Warum erschießen wir uns nicht einfach alle selbst? Soll das Imperium doch sehen, wie es unsere Leichen wegräumt!« »Wenn Ihr nicht aufhört zu jammern, erschieße ich Euch höchstpersönlich«, fauchte Royal. »Diese beiden sind bestimmt nicht größenwahnsinnig. Ihr habt ihre Macht am eigenen Leib gespürt.« »O ja, wir sind anders«, bestätigte Owen. »Soviel ist sicher«, stimmte ihm Hazel zu. »Außerdem haben wir auch immer noch Johana Wahn. Wenn ich nur wüßte, wo sie im Augenblick steckt.« »Ich glaube nicht, daß wir dem Rat jetzt schon von ihr erzählen sollten«, sagte Owen. »Sie würden sich nur neue Sorgen machen.« »Wenn Ihr diesen beiden hier nicht vertrauen wollt, gibt es da immer noch mich«, meldete sich Jung Jakob Ohnesorg zu Wort. Alle Augen richteten sich auf ihn. Er hatte so lange geschwiegen, daß sie seine Anwesenheit völlig vergessen hatten. Rasch wurde deutlich, daß der Rat die große, muskelbepackte Gestalt mit dem hübschen Gesicht weitaus höher schätzte als Owen und Hazel. »Und wer zur Hölle seid Ihr?« fragte Castle und kletterte auf einen Stuhl, um über die Köpfe der anderen sehen zu können. »Ich kenne sein Gesicht«, sagte McVey. »Ich bin sicher, ich habe dieses Gesicht schon einmal gesehen.« Donald Royal lächelte. »Erlaubt mir, Euch einen guten alten Freund vorzustellen. Der einzig wahre Jakob Ohnesorg.« Die Ratsmitglieder starrten sprachlos und aus weit aufgerissenen Augen auf den Berufsrebellen, und plötzlich sprangen alle wie ein Mann auf und drängten sich um Jung Jakob, schüttelten ihm die Hand, klopften ihm auf die Schultern und erzählten, wie überglücklich sie wären, daß er in der Stunde ihrer Not gekommen sei, um sie zu retten. Ohnesorg lächelte und nickte bescheiden, jeder Zoll ganz der Held und die geborene Legende. Owen wandte sich zu Hazel um. »Ich könnte kotzen.« »Das hast du bereits getan. Versuch wenigstens, mich nicht zu treffen.« Schließlich waren es die Ratsmitglieder überdrüssig , Ohnesorg immer und immer wieder zu erzählen, welch ein Retter er in ihren Augen war, und ihn zu ständigem höflichem Nicken und zurückhaltender Zustimmung zu nötigen. Sie führten ihn zu dem großen runden Tisch, um ihm die Karte von Nebelhafen zu zeigen. Stahl zog Ohnesorg zu sich heran und erklärte ihm die Lage. Owen und Hazel schoben sich auf die andere Seite. Sie waren fest entschlossen, sich nicht einfach abschieben zu lassen. Stahl ignorierte sie trotzdem und konzentrierte sich ganz und gar auf Ohnesorg. »Genau, Jack. Diese Karte zeigt alle vier Viertel von Nebelhafen, von Stadtrand zu Stadtrand. Die Stadt ist von hohen Mauern umgeben, aber sie werden nicht lange halten. Sie waren nie dazu gedacht, mehr als einheimische Raubtiere abzuhalten. Eine Kriegsmaschine geht wahrscheinlich einfach durch sie hindurch. Und gegen Antigravschlitten oder Imperiale Barken sind sie sowieso nutzlos. Hier oben im Norden liegen Händlerviertel und das Viertel der Gilden, und unten im Süden befinden sich die beiden Viertel der Techniker und der Diebe. Der Autumnusfluß fließt durch alle mit Ausnahme des Technikerviertels. Wir haben die Leichter auf dem Fluß eingesetzt, um Menschen zu evakuieren und Nachrichten zu transportieren, weil unsere Kommunikationssysteme ausgefallen und die Straßen von Menschen und Barrikaden verstopft sind. Einer unserer wenigen Notfallpläne, der mehr als nur einen Dreck wert ist. Alle anderen setzen Esper voraus, und unsere Esper sind nicht mehr in der Lage, am Kampf teilzunehmen. Was auch immer das Imperium einsetzt, es hat so gut wie jeden in den Wahnsinn getrieben, der auch nur über eine Spur von ESP verfügt. Ein paar unserer stärksten Telepathen halten noch durch, aber niemand weiß, wie lange. Die Überreste der Espervereinigung haben sich den gegnerischen Luftstreitkräften ent-gegengeworfen, aber sie haben uns lediglich etwas mehr Zeit verschafft, und das ist alles. Wir haben Läufer eingesetzt, die uns pausenlos mit Informationen versorgen; aber wenn wir eine Nachricht erhalten, ist meistens schon alles vorbei. Ich wünsche mir nichts sehnlicher als wenigstens ein einziges funktionierendes Kommunikationssystem, doch die Läufer sind alles, was uns geblieben…« »Nicht mehr!« sagte eine neue Stimme vom Eingang her. Al-le Köpfe fuhren herum, und dort stand sie höchstpersönlich und machte einen selbstzufriedenen Eindruck: Johana Wahn. In ihrer Begleitung befanden sich Chance und ein gutes Dutzend seiner Kinder aus dem Abraxus. Die Kinder waren wach und standen mehr oder weniger sicher auf den Beinen, doch ihre Augen waren wild und nervös. Die meisten der Anwesenden erschauerten unwillkürlich beim Anblick der wahnsinnigen Kinder in ihren schlecht sitzenden, heruntergekommenen Kleidern. »Also schön«, sagte Magnus mit seiner kalten grauen Stimme. »Wer zur Hölle seid Ihr, Frau, und warum habt Ihr dieses… Gesocks hergebracht?« »Mein Name ist Johana Wahn, und ich bin die letzte Manifestation der Mater Mundi, der Weltenmutter . Also paßt auf, was Ihr sagt, oder ich verwandle Euch in ein kleines hüpfendes Etwas. Diese Kinder hier sind möglicherweise die letzten Esper von ganz Nebelhafen, die nicht durch die neue Waffe des Imperiums verrückt geworden sind – weil sie selbst unter normalen Bedingungen schon dem Wahnsinn verfallen sind. Die restlichen Kinder haben überall in der Stadt Stellung bezogen. Es ist nicht ganz einfach, mit ihnen zu arbeiten, aber wenn Ihr Euch daran gewöhnt habt, steht Euch wieder ein funktionierendes Kommunikationssystem zur Verfügung. Ich selbst bin hier, um Euch zu schützen – für den Fall, daß das Imperium herausfindet, wo Ihr seid. Ich besitze die Kräfte der Mater Mundi, und ich bin ein mehr als ebenbürtiger Gegner für alles, was das Imperium Euch entgegenwerfen kann. Fühlt Ihr Euch nicht gleich alle ein wenig sicherer?« »Vielleicht würde ich das tatsächlich«, antwortete Donald Royal. »Vielleicht, wenn ich es nicht ausgerechnet aus dem Mund einer Frau gehört hätte, die den Namen Johana Wahn trägt.« »Gut gemacht, Johana«, unterbrach Jung Jakob Ohnesorg die drohende Konfrontation. »Ich wußte, daß Ihr es bis zu uns schaffen würdet. Und jetzt wollen wir uns um diese Kinder kümmern, bevor wir weitermachen. Die armen Kleinen sehen aus, als hätten sie einen weiten, beschwerlichen Weg hinter sich.« Leute wimmelten durcheinander und brachten den Kindern heiße Getränke und Decken, auf denen sie sich ausbreiten konnten, während Chance im Weg stand und mißtrauisch darauf achtete, daß seinen Kindern nichts geschah. Johana Wahn wandte sich der Theke zu und orderte einen ungewöhnlich starken Cocktail. Sie schien der Auffassung, daß die Kinder jetzt nicht mehr in ihre Verantwortlichkeit fielen. Wie immer hatte Johana Wahn auch heute eine recht eigenwillige Vorstellung von Prioritäten, und wie immer stand sie selbst ganz oben auf dieser Liste. Die Kinder hatten sich kaum hingelegt, da versteiften sich alle gleichzeitig auf ihren improvisierten Betten und verdrehten die Augen nach hinten. »Machen sie das öfters?« erkundigte sich Lois Barron. »Haltet den Mund«, entgegnete Chance. »Sie sehen gerade irgend etwas.« »Sie sind da«, sagte eines der Kinder mit leiser, verträumter Stimme. »Die Stadtmauer im Südwesten ist gefallen. Imperiale Fußtruppen strömen hindurch. Die Wölfe sind im Stall.« »Scheiße!« fluchte Stahl. »Ich hatte gehofft, daß uns ein wenig mehr Zeit bleiben würde. Chance, wie zuverlässig sind Eu-re Schutzbefohlenen?« »Wenn es um die Gegenwart geht – hundert Prozent. Was die Zukunft betrifft…« »Schon gut, ich weiß, ich weiß.« Stahl dachte angestrengt nach. »Bringt die Läufer wieder auf die Beine. Mir ist ganz egal, wie müde sie sind. Ich brauche sie, um Verstärkungen zusammenzurufen für das, was von der Stadtmauer noch übrig ist.« »Nicht nötig, die Läufer zu belästigen«, widersprach Jung Jakob Ohnesorg. »Laßt sie ausruhen, sie sind fix und fertig. Gebt mir ein paar Männer; ich führe eine Streitmacht zur Mauer, um die Angreifer aufzuhalten.« Und damit war die Versammlung beendet. Alles rief durcheinander und brüllte Befehle und Anweisungen. Albert Magnus erklärte sich bereit, Ohnesorg zur nächsten Milizgruppe zu führen und von dort aus zur Stadtmauer. Ohnesorg klopfte ihm auf die Schulter und nannte ihn einen guten Mann, und Magnus wäre beinahe errötet . Sie eilten zur Tür hinaus, und Hazel und Owen eilten hinter ihnen her. Johana Wahn machte sich schmollend daran, Chance beim Versorgen der Kinder zu helfen und das zu interpretieren, was sie sahen. Sie schien die Tätigkeit für unter ihrer Würde zu halten, führte sie aber trotzdem aus, um zu zeigen, daß sie bereit war zu helfen. Cyder nahm Katze beiseite und schrieb in einer stillen Ecke mehrere Botschaften, die er abliefern sollte. Wenn die Imperialen Truppen tatsächlich bereits in der Stadt waren, dann wollte sie sichergehen, daß ihr Besitz in Sicherheit war. Nur weil vor der Tür gerade ein Krieg tobte, hieß das noch lange nicht, daß man sich nicht mehr um seinen Besitz kümmern durfte. Katze runzelte die Stirn, doch dann zuckte er die Schultern. Er konnte einfach nicht nein sagen, was Cyder betraf. Und als einer der besten Diebe und Dachläufer Nebelhafens standen seine Chancen, weder entdeckt noch aufgehalten zu werden, besser als die der meisten anderen. Nebelhafens Meer aus ineinander überge-henden Dächern und Giebeln war für ihn vertrautes Territorium. Also grinste er Cyder beruhigend an, küßte sie zum Abschied, küßte sie noch einmal, um ihr Glück zu wünschen, und küßte sie ein drittes Mal, weil es ihm so gut gefiel, bevor er aus dem nächsten Fenster nach draußen verschwand, die Wand hinauf und über die Dächer. Leichten Schrittes eilte er durch den Schnee. Woher sollte er auch wissen, daß er niemals wieder in den Schwarzdorn zurückkehren würde? Hoch über der Nebelwelt schwebte Legion in seinem gewaltigen Tank und spannte die mentalen Muskeln. Legion wurde ständig stärker, und mit dunkler Macht griff es nach der Stadt Nebelhafen und maß sich mit den Bewußtseinen der Esper. Männer und Frauen fielen, wo sie standen oder saßen, mit Schaum vor dem Mund und Wahnsinn in den Augen. Der Wahnsinn war die einzige Zuflucht vor dem entsetzlichen Be-wußtsein, das sich in ihren Köpfen breitmachte und sie von dort aus beobachtete . Esper fielen in Katatonie oder Ohnmacht, oder sie zuckten und wanden sich hilflos in ihren Betten, als sich Legions Macht unkontrolliert in der Luft ringsum entlud. Legion war in der Nacht unterwegs, spazierte auf und ab durch menschliche Gedanken und verbreitete namenlosen Schrecken . Es war gewaltig und unaufhaltsam, und nichts und niemand konnte ihm widerstehen. Es war Legion, und es war viele in einem. John Silver kämpfte zusammen mit zahlreichen anderen an der Bresche in der südwestlichen Mauer, während Legion auf ihn einschrie. Er hatte in seiner Zeit als Pirat viele Kämpfe ausge-fochten, und die Übermacht war manchmal erdrückend gewesen, aber er hatte noch nie etwas wie das hier erlebt. Die Hut der Imperialen Sturmtruppen schien kein Ende nehmen zu wollen. In immer neuen Wellen strömten sie durch die gewaltigen Lücken in der Mauer, die Imperiale Kriegsmaschinen gerissen hatten. Silver hatte keinerlei Zeitempfinden mehr. Alles war ein einziger Rausch aus Blut und Schmerz und klirrendem Stahl, und obwohl John Silver seine Stellung mitten in den Trümmern der Mauer hielt und keinen Fuß wich, wußte er, daß er am Ende keine Chance haben würde. Nachdem die Koboldshunde die Stadt als Folge der durch die Typhus-Marie verbreiteten Esperseuche überfallen hatten , war durch den Rat der Stadt beschlossen worden, die zwanzig Fuß hohen Steinmauern auf dreißig Fuß zu erhöhen. Dreißig Fuß solider Stein, vier Fuß dick. Die Mauern hatten den Vormarsch der Imperialen Truppen nicht einmal verlangsamt. Die riesigen Kampfwagen, fünfzig Fuß hoch und zwanzig breit, waren durch die Mauer gebrochen, als wäre sie aus Papier. Die gehärteten Stahlrümpfe wi-derstanden allem, was nicht Disruptor war, und die wenigen Energiewaffen der Verteidiger reichten einfach nicht, um sie aufzuhalten. Also waren die Kampfwagen an einem Dutzend Stellen gleichzeitig durch die Mauer gebrochen, und hinter ihnen waren die Imperialen Sturmtruppen ausgeschwärmt und hatten auf alles gefeuert, was sich in den Trümmern noch regte. Die Verteidiger waren ihnen mit kaltem Stahl in der Hand und grimmiger Entschlossenheit im Kopf entgegengetreten . Sie waren über gefallene Kameraden gesprungen und hatten sich den Imperialen Truppen gestellt, und erst da war der Vormarsch langsamer geworden und schließlich zum Halten gekommen, weil das Kampfgetümmel in den Mauerbreschen heranstürmenden Marineinfanteristen den Weg versperrte. Der Kampf tobte erbittert, und keine Seite gewährte oder flehte um Gnade. In ihren Köpfen war kein Platz für irgend etwas anderes als Haß und Mord, ein blutrünstiger Wahn, der von der Wut der Rebellen und den Kampfdrogen der Imperialen genährt wurde – und über allem der nicht enden wollende Schrei Legions. Die Kampfwagen waren größtenteils nutzlos, nachdem sie die Breschen in die Mauern gebrochen hatten. Sie waren zu groß und zu schwerfällig, um in den engen Straßen und Gassen zu operieren, und sie konnten ihre Disruptorkanonen nicht gegen die Verteidiger einsetzen, ohne die eigenen Leute zu treffen. Und so kam es wieder einmal zum Kampf Mann gegen Mann, und kalter Stahl blitzte auf. Das Schlachtengetümmel wogte mal hierhin, mal dorthin, und irgendwie hielten die Verteidiger stand. John Silver hatte irgendwann im Laufe des Kampfes einen tiefen Schnitt quer über die Stirn erhalten, und er mußte ständig den Kopf schütteln, damit ihm kein Blut in die Augen floß. Typisches Silver-Glück. Alles ging schief. Er hatte noch mehr Wunden, und seine Kleidung war blutdurchtränkt, doch jetzt war nicht die Zeit, um darüber nachzudenken. Es würde ihn nur deprimieren. Die Euphorie seines letzten Wampyrblutrausches war längst vergangen, und nur noch Adrenalin und Pflichtbe-wußtsein hielten ihn auf den Beinen. Sein Schwert hob und senkte sich, und meistens prallte es wirkungslos von parierendem Stahl oder einem Schutzschild ab. Der Schmerz in Silvers Schwertarm wurde unerträglich. Im Gedränge der Leiber war kein Raum für einen kunstvollen Schwertkampf oder für Beinarbeit. Man stand Fußspitze an Fußspitze mit seinem Gegner und schlug aufeinander ein, und der Schnellere oder Stärkere war der Gewinner. Und sobald ein Angreifer fiel, nahm ein neuer seine Stelle ein. Silver hätte am liebsten aufgegeben und wäre davongerannt, doch es gab keinen Ort, wohin man fliehen konnte. Falls Nebelhafen fallen und das Imperium einmarschieren würde, wür-de man ihn auf jeden Fall hängen, schon allein aus Prinzip. Außerdem hielt ihn, wie schon viele Male zuvor, sein Pflichtgefühl an einer Stelle fest, wo Mut allein nicht reichte. Er schuldete Nebelhafen eine Menge, und Silver war ein Mann, der seine Schulden beglich. Die Linie der Verteidiger stieß plötzlich ein paar Fuß vor, nutzte irgendeinen momentanen Vorteil, und Silver mußte aufpassen, wohin er trat. Der Boden war mit Leichen und Verletzten übersät. Silver erkannte einige Gesichter, doch er verdrängte jeglichen Gedanken daran. Es gab nichts außer dem Kampf, dem Klirren von Klinge an Klinge, und dem sicheren Wissen, daß er irgendwann fallen mußte. Und dann waren plötzlich Verstärkungen da und hämmerten auf die Angreifer ein wie die Antwort auf ein Gebet. Kriegs-schreie von einem Dutzend verschiedener Welten und Kulturen erfüllten die Luft, als die frischen Kräfte die Angreifer Schritt um Schritt zurückwarfen. Der Todtsteltzer war da, und er war bereits voller Blut und sah aus wie der Tod auf zwei Beinen. Hazel d’Ark kämpfte neben ihm, und sie führte ihre Klinge mit vernichtender Kraft und Schnelligkeit. Albert Magnus vom Rat der Stadt, in der vordersten Reihe – ein staubiger grauer Mann mit einem Schwert in jeder Hand, unüberwindlich wie eine Naturgewalt. Und als Anführer des Gegenangriffs: Jakob Ohnesorg, der legendäre Rebell. Groß und imposant in seiner silbernen Kampfrüstung, das Gesicht vertraut von Hunderten von Fahndungs-plakaten, und die Wildheit seiner Klinge trieb die Angreifer in die Flucht . Ohnesorgs Klinge war schnell und tödlich, und niemand vermochte ihn aufzuhalten. Silver lachte lautlos und kämpfte mit neu gewonnener Kraft in den Armen weiter. Vielleicht würde er heute ja doch noch nicht sterben. Er zog eine kleine Phiole aus dem Ärmel und trank die darin verbliebene restliche schwarze Flüssigkeit mit einem Schluck. Es war das letzte Wampyrblut, aber die Chancen standen nicht schlecht, daß die Schlacht vorüber war, bevor die Wirkung nachließ – auf die eine oder andere Weise. Also was zur Hölle! Owen Todtsteltzer kämpfte in der vordersten Linie und trotzte den Imperialen Truppen. Niemand kam an ihm vorbei. Er hatte erneut den Zorn heraufbeschworen, und er fühlte sich jetzt stärker als je zuvor, weil er mit Hazel verbunden war. Irgendwie wußte er, daß die Nebenwirkungen diesmal nicht zu einem Problem werden würden. Zusammen mit Hazel waren sie beide weit mehr als die Summe ihrer Teile, mehr als einfach nur Menschen. Er schlug und stieß mit unüberwindlicher Kraft auf den Gegner ein und durchbrach jede noch so verzweifelte Abwehr mit verächtlicher Leichtigkeit. Männer fielen schreiend zu allen Seiten und erhoben sich nicht wieder. Blut spritzte von Owens zischender Klinge, und er grinste wie ein hungriger Wolf, der Beute gewittert hatte, jeder einzelne Zoll der Krieger, der er niemals hatte sein wollen. Hazel d’Ark kämpfte an Owens Seite. Sie schwang das Schwert in kurzen, brutalen Kreisen, und es schnitt durch Fleisch und Knochen wie das Beil eines Schlächters. Blut besudelte ihre Kleidung, doch es war nicht ihr eigenes. Blut durchnäßte ihren Schwertarm bis zum Ellbogen hinauf, und die Schreie der Verwundeten und Sterbenden klangen wie Musik in ihren Ohren. Hazel hatte immer eine Schwäche für Nebelhafen gehabt. Ihr hatte die Vorstellung gefallen, daß sie immer zur Nebelwelt zurückkehren konnte und dort aufgenommen werden würde, gleichgültig, wo sie sich gerade befand oder was sie gerade tat. Für Hazel kam die Nebelwelt einer Heimat am nächsten. Und jetzt wollte das Imperium ihr diese Heimat nehmen, genau wie die vielen anderen Dinge, die es ihr im Verlauf der Jahre genommen hatte. Hazel wollte verdammt sein, wenn sie der Eisernen Hexe diesen letzten Sieg erlauben würde. Nicht, solange sie noch atmete und Stahl in der Hand hielt. Ihre Verbindung mit Owen war sehr stark. Sie spürte seine Gegenwart an ihrer Seite, stark und zuverlässig wie stets. Eine andere Gegenwart drängte sich in Hazels Bewußtsein, und plötzlich war ein vertrauter Geruch in ihren Nüstern, stark und verlockend. Hazel blickte zur Seite, und nicht weit von ihr stand John Silver. Er kämpfte wie ein Besessener, mit weit aufgerissenen Augen und einem Grinsen wie ein Wahnsinniger. Silver war auf Blut. Hazel sah das Plasma in ihm und roch es selbst auf diese Entfernung noch in seinem hechelnden Atem. Ein Teil von ihr sehnte sich ebenfalls danach. Nur ein oder zwei Tropfen würden reichen. Hazel würde sich wunderbar fühlen; alle Angst würde schwinden, und sie würde die Ausweglosigkeit des Kampfes vergessen, den sie kämpfte. Nur ein oder zwei Tropfen. Hazel kämpfte gegen das Verlangen an und vergrub es tief in ihrem Innern. Sie benötigte kein Blut, um das zu tun, was hier zu tun war. Vielleicht, weil die Situation so einfach und klar war: Kämpf oder stirb; gewinne oder verliere alles, was dir jemals etwas bedeutet hat. Und vielleicht auch, weil sie wieder mental mit Owen verbunden war und in seiner Gegenwart und Kraft jenen Trost fand, den sie brauchte. Auf den Kampfwagen schwangen Disruptorkanonen herum und nahmen Rebellenkämpfer am Rand des Schlachtfelds unter Beschuß. Die Opfer explodierten in dunklen Wolken verdamp-fenden Blutes. Gewaltige Formationen aus Antigravbarken schwebten über den Köpfen der Verteidiger heran wie ein Sturm aus Metallblättern, die der Wind des Krieges über die Stadt wehte. Sie waren umgeben von Hunderten kleiner, wendiger Angriffsschlitten. Keine Esper flogen mehr auf, um sich der Flut entgegenzustemmen, und langsam rückte die Luft-streitmacht in die Stadt vor. Disruptorstrahlen zuckten herab, und die getroffenen Häuser explodierten. Die Luft war erfüllt vom Brüllen machtvoller Maschinen und dem Donner einstürzenden Mauerwerks, und in all dem Lärm gingen die Schreie und das Geheul der Verwundeten und die Kriegsrufe der Kämpfenden unten am Boden beinahe unter. Und noch immer hallte über alledem der endlose Schrei des schrecklichen Wesens, das sich Legion nannte. Albert Magnus, der graue, verbitterte Mann, kämpfte hart und gut mit seinen beiden Schwertern, und zum ersten Mal seit Jahren fühlte er sich wieder lebendig. Er führte die beiden Klingen in weiten, koordinierten Bögen und zwang seine Gegner in die Defensive. Aber es waren ihrer zu viele, und Albert konnte nicht in sämtliche Richtungen gleichzeitig sehen. Ein Hieb traf ihn aus einer unerwarteten Richtung, und eine Klinge drang zwischen seine Rippen. Voller Schmerz und Unglauben schrie er auf, und Blut spritzte aus seinem Mund. Albert ließ die Waffen fallen. Irgend jemand riß das Schwert aus seiner Seite, und das verursachte neuen Schmerz. Und dann weitere Schwerter und Äxte, die ihn bearbeiteten wie einen Holzklotz. Albert fiel, und der Kampf wogte über ihn hinweg, bis er schließlich unter den Füßen der Kämpfenden gestorben war. Jung Jakob Ohnesorg schien überall zugleich zu sein. Sein Schwert war nur ein silbernes Blitzen, und Ohnesorg war ein strahlender, todesverachtender Held, der einer unglaublichen Übermacht ins Gesicht lachte. Allein seine Anwesenheit reichte aus, um Größe und Heldenmut in den Männern und Frauen ringsum zu entfachen, und sie kämpften mit seinem Namen als Schlachtruf auf den Lippen. Er ging unglaubliche Risiken ein und überstand sie allesamt unverletzt, und niemand konnte ihm widerstehen. Er schien niemals müde zu werden und wurde niemals getroffen, ein Gigant von einem Mann, der das blanke Entsetzen in die Reihen der Imperialen trug. Owen nahm es angewidert zur Kenntnis. Er war über und über mit Blut besudelt und am Rand der Erschöpfung, und es schien einfach nicht fair, daß jemand so schnell, so gut und gleichzeitig so verdammt gutaussehend war. Ganz zu schweigen davon, daß er unmenschlich viel Glück zu haben schien. Den Imperialen Sturmtruppen war es bis zu diesem Augenblick nicht einmal gelungen, Ohnesorg eine einzige Wunde beizubringen. Owen wußte, daß er sich ziemlich gut schlug, aber er hatte bereits ein gutes Dutzend kleinerer Wunden da-vongetragen. Das war in einem Gedränge wie diesem hier unausweichlich. Das Labyrinth des Wahnsinns hatte bereits angefangen, die Wunden wieder verheilen zu lassen, und der Zorn verhinderte, daß Owen stärkere Schmerzen empfand, aber hier ging es ums Prinzip. Dennoch: Jakob Ohnesorg war eine Legende, und Legenden pflegten nun einmal über den Sorgen und Nöten gewöhnlicher Sterblicher zu stehen. Wenn er wirklich Jakob Ohnesorg war. Owen wollte verdammt sein, wenn er wußte, was er noch glauben sollte. Sicher, dieser Mann dort paßte besser zur Legende als der gebrochene alte Mann, den Owen aus seinem Versteck in Nebelhafen aufgescheucht hatte, und der behauptete, Jakob Ohnesorg zu sein; aber Owen glaubte an Menschen, nicht an Legenden. Er zuckte innerlich die Schultern und hieb einen weiteren Imperialen Marineinfanteristen mit einem einzigen wilden Schlag nieder. Ohnesorg war jedenfalls nicht der einzige wirkliche Kämpfer in dieser Schlacht. Und wer auch immer dieser hübsche Bastard in Wirklichkeit sein mochte, Jung Jakob Ohnesorg war genau das, was Nebelhafen in diesem Augenblick brauchte. Sein Name war ein auf-putschender Schrei und vielleicht das einzige, was imstande war, die zerstrittenen Parteien Nebelhafens zu einen und sie Seite an Seite in den Kampf ziehen zu lassen. Owen beschloß, sich damit zu begnügen – wenigstens fürs erste. Hazel d’Ark spürte, wie ihr Bewußtsein sich in merkwürdige Dimensionen ausdehnte. Seit der Veränderung, die das Labyrinth des Wahnsinns an ihr vorgenommen hatte, waren ihre mentalen Fähigkeiten langsam, aber stetig gewachsen. Und seit Hazels Ankunft auf der Nebelwelt war die Geschwindigkeit, mit der diese Veränderungen stattfanden, deutlich gestiegen. Sie wußte jetzt bereits im voraus, von wo ein Angriff kommen würde, und so konnte sie entsprechend reagieren . Niemand vermochte sich an sie heranzuschleichen, nicht einmal von hinten, und sie kannte die Schwachstellen eines Gegners sofort, wenn sie ihn sah . Es war weit mehr als Instinkt oder Erfahrung; es war, als hätte sie diese Dinge schon immer gewußt und als würden sie ihr im entsprechenden Augenblick wieder einfallen. Und noch mehr: Vor Hazel öffneten sich unzählige Dimensionen, und andere Versionen ihrer Selbst erschienen nach und nach um sie herum. Sie tauchten stets nur kurz auf, manchmal gerade lang genug, um einen Schwerthieb abzulenken oder einen Angriff zu kontern, den Hazel selbst nicht hätte aufhalten können. Während sie weiterkämpfte, erschienen immer wieder neue, andere Hazel d’Arks und kämpften an ihrer Seite. Einige unterschieden sich kaum merklich vom Original, eine zusätzliche Narbe hier, eine andere Haarfarbe dort. Andere waren vollkommen anders gebaut oder gehörten sogar anderen Rassen oder Spezies an. Eine Hazel besaß eine goldene Hadenmann-Hand wie Owen. Eine war ein Mann, und wenigstens eine schien überhaupt nicht menschlich zu sein, oder zumindest nicht ganz. Hazel lächelte ihnen zu, und sie lächelten zurück. Gemeinsam mit ihren anderen Ichs drängte sie sich in die vorderste Schlachtreihe, und sie schlossen die größte Lücke in der Stadtmauer und trotzten den Angriffen des Imperiums. John Silver sah die verschiedenen Hazels Seite an Seite kämpfen und glaubte im ersten Augenblick, eine schlechte Lie-ferung Blut beschere ihm Halluzinationen. So etwas war ihm nach dem Genuß von Wampyrblut noch nie passiert. Erst als eine kahlköpfige Hazel d’Ark in der Ledertracht der Kopfgeldjäger einen Schwertstreich parierte, der Silver sonst unweiger-lich getötet hätte, gestand er sich zögernd ein, daß die verschiedenen Hazels wohl real waren. Er verdrängte die aufkommende Furcht. Nebelhafen war selbst in seinen besten Zeiten ein Ort für Verrückte gewesen, und ausgerechnet heute würde sich daran bestimmt nichts ändern. Dann sah er Owen Todtsteltzer, der sich einen Weg durch das Kampfgetümmel bahnte und Imperiale Sturmtruppen niedermähte, als wären sie Luft, und Jakob Ohnesorg, der trotzig und unbezwingbar inmitten eines Berges feindlicher Leichen stand. Ein Schauer der Ehrfurcht durchzuckte John Silver. In seinem ganzen Leben hatte er noch nie drei solche Kämpfer gesehen. Er hatte das Gefühl, an der Seite von Göttern zu kämpfen. Seine Bewunderung hielt nur einen Augenblick, dann wich sie einem Gefühl von Neid. John Silver war ein ganz gewöhnlicher Mann, weiter nichts . Er besaß nur gewöhnliche Kräfte und gewöhnlichen Mut, und er tat, was er konnte, während diese drei Übermenschen sein Bestes wie nichts aussehen ließen. Silver kämpfte weiter , doch ein Teil seines Mutes hatte ihn verlassen. Der hin und her wogende Kampf spülte ihn nach vorn neben den Todtsteltzer. Der Todtsteltzer warf ihm ein rasches, freundliches Grinsen zu, und Silver bemühte sich, es zu erwidern. Und in diesem Augenblick bemerkte er das Schwert eines Imperialen, das direkt auf Owens Rücken zielte. Der Todtsteltzer hatte es nicht gesehen. Er war zu sehr mit den beiden Infanteristen beschäftigt, die sich vor ihm aufgebaut hatten. Die Zeit schien langsamer zu werden und schließlich völlig stillzustehen, und Silver hatte das Gefühl, als hätte er alle Zeit der Welt, um sich genau zu überlegen, was er als nächstes tun sollte. Er konnte dem Todtsteltzer eine Warnung zurufen, oder er konnte versuchen, selbst die Klinge aufzuhalten, doch in diesem Augenblick wünschte er sich nur, daß der Todtsteltzer sterben würde: weil er ein Übermensch war, weil er Hazel näher und ihr wichtiger war, als John Silver es jemals sein würde… Es wäre ein Leichtes gewesen, einfach nur dazustehen und zuzusehen, wie die Klinge Owen tötete. Niemand würde ihm hinterher einen Vorwurf machen können. Das Durcheinander war einfach zu groß, und niemand konnte von ihm erwarten, daß er alles sah. Silver zögerte, während er in Gedanken ein Dutzend verschiedener Möglichkeiten durchspielte. Der Tod des verdammten Todtsteltzers würde ihm so viel bringen… Und dann bewegte sich die Zeit wieder normal, und bereitete allen Spekulationen ein Ende. Die Klinge raste auf Owens Rücken zu, und Silver schoß vor. Sein Schwert blockte den Streich ab. Der Aufprall war so heftig, daß ihm die Waffe aus der Hand geprellt wurde und zu Boden polterte. Der Infanterist wandte sich gegen Silver und riß das Schwert zum tödlichen Hieb zurück. Silver warf sich zur Seite, und die Klinge ritzte nur die Haut seines Unterarms. Blut rann über Silvers Arm. Der Soldat holte zu einem weiteren Streich aus. Silver sammelte das Blut aus seiner Wunde in der hohlen Hand und schleuderte es dem Angreifer in die Augen. Geblendet zögerte der Mann für den Bruchteil einer Sekunde, und das reichte John Silver, um sich nach seinem Schwert zu bücken und den Angreifer zu erledigen. All das geschah in kaum mehr als einer Sekunde . Owen Todtsteltzer bemerkte nichts von alledem. Er war mit seinen eigenen Problemen beschäftigt. Silver raffte seine fünf Sinne zusammen und nahm den Kampf wieder auf. Für einen ge-wöhnlichen Sterblichen hatte er sich gar nicht so schlecht geschlagen. Und wenn in dieser Schlacht schon Götter kämpften, dann war John Silver froh, wenigstens auf ihrer Seite zu stehen. Die Wogen der Schlacht spülten ihn von Owen Todtsteltzer fort, der sich gerade einen Weg durch einen Berg von Leichen bahnte, um wieder an Hazels Seite zu kämpfen. Es dauerte einen Augenblick, bis Owen bemerkte, daß es nicht die Hazel war, die er kannte, und noch einen weiteren, bis er entdeckte, daß es eine ganze Reihe von Hazel d’Arks zu geben schien. Und dann rief plötzlich jemand in den hinteren Reihen der Angreifer: »Rückzug!« Andere Stimmen nahmen den Ruf auf, allesamt Imperiale Sturmtruppen, und plötzlich schmolz die Zahl der Angreifer vor Owen zusammen. Alles wandte sich zur Flucht. Wohin Owen auch blickte, überall war es das gleiche Bild. Die Überreste der riesigen Streitmacht lösten sich auf, und alle rannten um ihr Leben. Der unbewegliche Fels in der Brandung, die Verteidiger Nebelhafens, hatte die Wucht des Angriffs gebrochen. Rasch verwandelte sich der Rückzug in eine panische Flucht, und innerhalb weniger Sekunden war niemand mehr da, der kämpfen wollte. Die Verteidiger stießen heisere Jubelrufe aus. Owen drehte sich zu Hazel um und blinzelte verwundert, als er entdeckte, daß sie nur noch eine Person war. Sie erwiderte seinen Blick mit einem breiten Grinsen, und Owen beschloß, keine Fragen zu stellen. Noch nicht. Außerdem war er nicht sicher, ob er die Antwort überhaupt hören wollte. Die Verteidiger riefen seinen und Hazels Namen, aber lauter noch den von Jakob Ohnesorg. Er war ihr Held. Sie salutierten vor ihm mit erhobenen Schwertern, und ihre Augen leuchteten vor Bewunderung. Sie wären ihm selbst in die Hölle gefolgt. Und in diesem Augenblick eröffneten die Imperialen Kampfwagen das Feuer aus den Disruptorkanonen. Nun da sie nicht länger befürchten mußten, die eigenen Leute zu treffen, konnten sie gefahrlos schießen . Die Energiewaffen rissen blutige Lücken in die dicht gedrängten Reihen der Verteidiger, die sich daraufhin zur Flucht wandten. Ohnesorgs Stimme erhob sich über den allgemeinen Lärm. »Halt, meine Freunde! Wir können diese Maschinen schlagen!« Owen schob sich durch die Menge und packte Ohnesorg am Arm. »Seid Ihr verrückt? Ihr könnt doch nicht im Ernst glauben, daß wir mit Schwertern gegen die Imperialen Disruptorkanonen kämpfen können! Wir müssen uns zurückziehen und eine neue Verteidigungsstellung finden!« »Er hat verdammt recht«, sagte Hazel, die plötzlich an Owens Seite stand. »Was Ihr vorhabt, ist reiner Selbstmord, Ohnesorg.« »Bitte verzeiht«, erwiderte Jung Jakob. »Ihr habt natürlich vollkommen recht. Ich habe mich für einen Augenblick hinreißen lassen.« »Na prima«, sagte Owen. »Dann haltet jetzt die Klappe und lauft.« Die Verteidiger zogen sich vor den angreifenden Kampfwagen zurück, doch es war eine geordnete Bewegung, keine wilde Flucht. Sie strömten durch die engen Straßen und Gassen Nebelhafens in dem sicheren Bewußtsein, daß die gewaltigen Maschinen ihnen nicht würden folgen können. Die Kanonen der Wagen schwenkten von einer Seite zur anderen in dem Bemühen, eine Gruppe von Rebellen zu finden, die einen Schuß wert war, doch die Verteidiger hatten ihre Lektion gelernt, und sie teilten sich in immer kleinere Gruppen auf, während sie sich weiter zurückzogen. Und so eröffneten die Imperialen Kampfwagen schließlich das Feuer auf die Gebäude und Häuser am Stadtrand, und Schauer von Ziegelsteinen und Mörtel flogen durch die Luft, während die Überreste in Flammen aufgingen. Schreie und Rufe wurden laut, und Menschen verschwanden unter einstürzenden Häusern, und schon bald gab es nichts mehr außer einem Haufen brennender Trümmer, wo vorher die Straße gewesen war. Die gewaltigen Kampfwagen rückten unaufhaltsam über den Schutt hinweg vor. Als die Imperialen Sturmtruppen sahen, daß ihre Kampfwagen siegreich waren, formierten sie sich in ihrem Schutz neu, und aus dem anfänglich geordneten Rückzug der Verteidiger wurde schließlich doch noch wilde Flucht. Owen und Hazel blieben stehen und blickten sich um. Die Kampfwagen rollten mit brüllenden Kanonen auf sie zu, während Nebelhafen Straße um Straße dem Erdboden gleichgemacht wurde. Oben am Himmel schwebten die Barken wie große Sturmwolken. Owen streckte eine Hand nach Hazel aus, und sie ergriff sie. Beide hatten den gleichen Gedanken. Ihre vereinigten Bewußtseine griffen nach draußen und in die Höhe. Plötzlich machte eine der Antigravbarken mitten in der Luft einen Satz, als wäre sie von einer gewaltigen, unsichtbaren Faust gepackt worden. Die Maschinen brüllten auf und über-hitzten, als eine unheimliche Macht das Schiff aus dem Himmel riß und auf die vorrückenden Kampfwagen schleuderte. Die gewaltige Explosion zerriß die Nacht, und die aus den ineinander verkeilten Wracks aufschießenden Flammen erleuchteten die nahe gelegenen Straßen . Die Angreifer mußten sich einmal mehr zurückziehen, wollten sie nicht Gefahr laufen, von herabfallendem, geschmolzenem Metall erschlagen und verbrannt zu werden. Die Wrackteile wurden von der Wucht der Explosion Hunderte von Metern weit davon-geschleudert, und doch blieben die Verteidiger davon unberührt. Die Trümmer fielen unmittelbar vor ihnen zu Boden, als würden sie von einer unsichtbaren Macht geschützt. Die Rebellen blieben stehen und drehten sich um, und sie jubelten und feierten das glückliche Geschick, das sie wieder einmal gerettet hatte. Und niemand außer John Silver wußte, wem sie ihr Leben zu verdanken hatten. Er beobachtete, wie Owen und Hazel aus ihrer Starre erwachten, bemerkte ihre ineinander verschränkten Hände – und grinste anzüglich. Hazel und Owen ließen einander los und mischten sich unter die jubelnde Menge. Silver beobachtete die beiden und fragte sich einmal mehr, wer oder was sie waren, und ob sie – rein theoretisch – irgendwann so mächtig werden konnten, daß sie zu einer noch größeren Gefahr für die Nebelwelt wurden, als es das Imperium je gewesen war. Er setzte sich in Bewegung, um die beiden einzuholen. Seine Gedanken bedrückten ihn. Gleichzeitig entwickelte er bereits die ersten Pläne, wie er auf eine solche Bedrohung reagieren konnte, sollte es notwendig werden. Und er dachte darüber nach, ob es vielleicht doch ein Fehler gewesen war, dem Todtsteltzer das Leben zu retten. Er hatte sich stets den meisten anderen Menschen ein wenig überlegen gefühlt, weil diese sich vor Espern fürchteten. Jetzt spürte Silver zum ersten Mal, wie solche Leute sich fühlen mußten. John Silver war nicht mehr oben auf der Spitze. Er war nicht einmal sicher, ob er die Spitze von seiner momentanen Position aus überhaupt noch sehen konnte. Mitten unter den zurückweichenden Imperialen Stoßtruppen befanden sich Tobias Shreck und sein Kameramann Flynn. Man hatte die beiden abgesetzt, damit sie Nahaufnahmen der siegreichen Invasion liefern konnten nur, daß die Dinge sich ein wenig anders entwickelt hatten. Im selben Augenblick, da deutlich wurde, daß die Dinge aus dem Ruder liefen, hatte Leutnant Ffolkes sich an Flyrm gewandt und ihm befohlen, seine Kamera einzuholen und abzu-schalten. Die Liveübertragung war zu Ende, angeblich wegen technischer Schwierigkeiten. Und um deutlich zu machen, wie ernst diese technischen Schwierigkeiten waren, drückte Ffolkes dem Kameramann eine Waffe in den Rücken und hielt sie dort, bis das Gerät wieder sicher auf Flynns Schulter gelandet war. Das einzelne rote Auge erlosch, und die Kamera war aus. Tobias protestierte, doch niemand hörte auf ihn. Er hatte nichts anderes erwartet, aber er mußte protestieren, weil man sonst vielleicht denken würde, er wäre mit den Jahren weich geworden. Weder Tobias noch Flynn zweifelten auch nur eine Sekunde daran, daß Ffolkes die Waffe benutzt hätte. Der Sicherheitsoffizier schäumte vor Wut über die Niederlage der Imperialen Sturmtruppen, und er erweckte ganz den Eindruck, als würde er seine Wut an jedem abreagieren, der dumm genug war, ihm in den Weg zu kommen. Und so kam es, daß Tobias und Flynn sich zusammen mit den Sturmtruppen zurückzogen, bis Ffolkes den Befehl erhielt, sich irgendwo anders unbeliebt zu machen. Nach seinem Verschwinden filmten sie ein paar großartige Szenen mit der ab-stürzenden Barke und mußten anschließend rennen wie die Teufel, als geschmolzenes Metall wie glühender Hagel aus dem Himmel fiel. Während sie durch den Schnee außerhalb der Stadtmauern in vorübergehende Sicherheit trotteten, bemühten sich Tobias und Flynn um einige Interviews von den geschlagenen Sturmtruppen, doch sie gaben ihr Vorhaben rasch wieder auf. Die negati-ven Antworten hatten sich rasch von obszönen Flüchen zu Morddrohungen gesteigert. »Ich frage mich, wohin sie uns als nächstes schicken«, sagte Flynn nach einer Weile. »Irgendwohin, wo die Dinge sich ein ganzes Stück besser entwickeln, sollte man jedenfalls meinen«, entgegnete Tobias. »Immer vorausgesetzt, es gibt einen solchen Ort.« »Den gibt’s bestimmt. Wenn du mich fragst, hatten die Verteidiger hier lediglich einen Haufen Glück, das ist alles.« »Ich weiß nicht«, sagte Flynn. »Wie groß waren die Chancen, daß eine Imperiale Barke ausgerechnet auf die Imperialen Kampfwagen stürzt?« Tobias blickte Flynn an. »Was willst du damit andeuten? Glaubst du, die Rebellen haben sie irgendwie zum Absturz gebracht? Vergiß es. Die Rebellen besitzen keine Waffen, die so etwas könnten. Und wenn du meinst, das sei das Werk von Espern gewesen, dann laß dir sagen, daß selbst der berüchtigte Esper Investigator Topas keine Barke zum Absturz bringen könnte. Esper sind einfach nicht stark genug für so etwas. Selbst ohne Legion, das sie nach und nach in den Wahnsinn treibt.« »Wir sind hier auf der Nebelwelt, und du redest über Nebelhafen«, widersprach Flynn. »Ich habe alles mögliche über Nebelhafen gehört. Freiwillig wäre ich niemals hierhergekommen .« »Sicher, Nebelhafen steckt voller Überraschungen«, gestand Tobias. »Hast du gesehen, wer die Rebellen angeführt hat? Es war Jakob Ohnesorg, und er sah ganz genauso aus wie in den alten Holos. Aber wenn das Jakob Ohnesorg sein soll, wen haben wir dann als Anführer der Rebellen auf Technos III gesehen? Der Mann sah viel älter und mitgenommener aus. Ich kann nicht glauben, daß er in so kurzer Zeit von Technos III nach hier gekommen sein soll. Jedenfalls nicht, ohne daß das Imperium Wind davon bekommen hätte.« »Vielleicht ist einer von beiden ein Doppelgänger?« vermutete Flynn. »Oder ein Klon.« Er verzog das Gesicht. »Gleichgültig, wer oder was dieser Ohnesorg ist – es gibt eine Menge, was man uns verschwiegen hat.« »Was genaugenommen nichts Neues ist«, bemerkte Tobias. »Wenn wir ihm wieder begegnen, können wir ihn vielleicht um ein Interview bitten. Ich könnte jeden Preis dafür verlangen. Garantiert beste Sendezeit.« »Die herrschenden Schichten würden dir niemals gestatten, so etwas auszustrahlen. Sonst wären sie bald nicht mehr die herrschenden Schichten.« Tobias grinste. »Wo es einen Geldbeutel gibt, da gibt es auch einen Weg.« In der Schwarzdorn-Taverne, mitten im Gewirr der Straßen und Gassen des Diebesviertels, bemühten sich Vertreter der Espervereinigung nach besten Kräften, auf dem laufenden zu bleiben. Ständig trafen neue Boten mit Nachrichten aus allen Ecken der Stadt ein. Die Ratsmitglieder – ohne Albert Magnus – brüteten noch immer über der großen Karte von Nebelhafen. Ihre Mienen wurden immer düsterer. Selten kamen gute Nachrichten. Esper markierten die Positionen der Antigravbarken und Schlitten als kleine schwarze Schatten, die über der Karte schwebten. Fliegende Verteidiger wurden als hellrote Punkte dargestellt, die stets nach kurzer Zeit und ohne Vorwarnung verschwanden. Niemand mußte nach dem Grund dafür fragen. An den Stadtgrenzen, wo die Imperialen Streitkräfte die Mauer eingerissen hatten, tauchten weitere Schatten auf. Sie bewegten sich unaufhaltsam auf das Zentrum zu, trotz der verzweifelten Anstrengungen der Verteidiger, sie aufzuhalten oder wenigstens den Vormarsch zu verlangsamen. Einzig und allein in der südwestlichen Ecke der Karte kamen die Schatten nicht voran, und nach und nach erreichten Neuigkeiten über einen unerwarteten Sieg den Rat. Chances Kinder lagen zusammengekauert auf Decken in einer Ecke des Raums. Sie plapperten leise vor sich hin, während Chance zwischen ihnen umherging und sie versorgte. Er beruhigte die Kinder, gab ihnen hier und da Bonbons, und wenn er eines von ihnen zu lange vernachlässigte, neigte es dazu, in Alpträume zu versinken und laut und erbärmlich zu schreien oder zu weinen. Die Repräsentanten der Espervereinigung gaben sich die größte Mühe, die Position des Schwarzdorns und der darin versammelten Menschen mittels ihrer überlegenen mentalen Fähigkeiten zu verschleiern; doch selbst ihre Macht reichte nicht aus, um die Kinder von Abraxus vor dem nicht enden wollenden, entsetzlichen Schrei Legions zu schützen. Es nagte an ihren Seelen wie ein Hund am Knochen. Niemand wußte, wie die Kinder es verkrafteten, doch der Ausdruck in ihren kleinen Gesichtern, ihr verzweifeltes Weinen und die ausgemergelten , verkrümmten Körper auf den schmutzigen Decken waren Antwort genug auf die nicht gestellte Frage. Chance flehte den Rat um Erlaubnis an, den Kindern Beruhigungsmittel verabreichen zu dürfen, doch er wurde immer und immer wieder abgewie-sen. Die Kinder wurden gebraucht. Einige Esper teleportierten mit wichtigen Nachrichten herein und waren gleich wieder verschwunden, und die Luft strömte jedesmal mit einem Knall in das dabei entstehende Vakuum. Statische Entladungen zuckten über die Körper der Esper und entluden sich schmerzhaft am nächsten Metall. Mit jedem Sprung riskierten sie ihr Leben. Legions Schrei störte sie in ihrer Konzentration. Einige verschwanden auf Nimmerwieder-sehen, nachdem sie sich entmateralisiert hatten. Manche kamen in Stücken in der Taverne an, andere entsetzlich verstümmelt. Einer hatte sich halb in der Wand materialisiert. Er war noch immer dort. Niemand wußte, wie man ihn befreien konnte, ohne die Wand einzureißen. Zum Glück war er bereits tot, also legte man lediglich ein Tuch über sein Gesicht, um das Starren der blinden Augen und den verzerrten Mund zu verbergen, und ignorierte ihn. Ein Mann materialisierte mitten in der Luft und krachte in einem Gewirr heraushängender Eingeweide zu Boden. Sein Sprung hatte ihn von innen nach außen gestülpt. Zum Entsetzen aller schien er nicht einmal sterben zu wollen. Donald Royal schlug ihm mit einem erlösenden Hieb den Kopf ab. Die Ratsmitglieder und die Repräsentanten der Espervereinigung bemühten sich nach Kräften, eine planvolle Verteidigung auf die Beine zu stellen, doch alles geschah so rasch, daß ihnen nichts anderes übrigblieb, als auf die Aktionen des Imperiums zu reagieren und Schadensbegrenzung zu betreiben. Nach und nach wurden alle heiser vom ständigen Brüllen, und die Müdigkeit stand jedem ins Gesicht geschrieben. Cyder sorgte da-für, daß stets frischer Kaffee und heißes Würzbier bereitstand und leitete alles an Informationen weiter, was sie von ihren eigenen Verbindungsleuten hereinbekam. Sie bemühte sich, nicht an Katze zu denken und was aus ihm geworden sein mochte. Über ihr ließ das Donnern vorbeifliegender Barken die Taverne in den Grundmauern erzittern. Die Imperialen hatten keine Ahnung, wie nah sie dem Zentrum des Rebellenwider-stands gekommen waren. Kast und Morgan zerrten ihren Gefangenen durch das Chaos der Schlacht zu Investigator Razor, der gedankenverloren in den Trümmern dessen stand, was einmal die nordöstliche Stadtbefe-stigung gewesen war. Er beobachtete, wie seine Truppen tiefer und tiefer in die brennende Stadt vordrangen und jeden Widerstand erstickten. Razor wartete, bis die beiden Marineinfanteristen mit ihrem Gefangen auf Armeslänge an ihn herangekommen waren, bevor er sich zu ihnen umwandte und ihre Anwesenheit zur Kenntnis nahm. Sein düsteres Gesicht war gelassen wie immer, doch in seinen Augen brannte ein brutales Feuer, das selbst zwei so hartgesottene Burschen wie Kast und Morgan einen Schauder über den Rücken jagte. Sie verbeugten sich hastig vor dem Investigator und schlugen ihren Gefangenen, bis er es ihnen gleichtat. Schweigend betrachtete Razor den Mann eine Weile. Der Gefangene war gut gekleidet, obwohl seine Kleidung im Augenblick zerrissen und schmutzig und mit seinem eigenen Blut besudelt war. Sein Gesicht war zerschlagen und geschwollen. Ganz offensichtlich hatten Kast und Morgan ihn nicht gerade mit Samthandschuhen angepackt. »Und wen haben wir da?« erkundigte sich Razor. »Einen Verräter und Informanten, Sir«, meldete Kast fröhlich. »Sein Name lautet Artemis Daley. Er behauptet, jemand zu sein, der in Nebelhafen die Fäden zieht. Er hat versprochen, uns mit nützlichen Informationen zu versorgen, wenn wir die Gebäude und Grundstücke in Frieden lassen, die ihm gehören oder an denen er interessiert ist. Er hat sich sogar bereit erklärt, uns eine Karte mit diesen Besitztümern zu zeichnen. Ist das nicht äußerst hilfreich? Unter einem gewissen Druck hat er sich dann auch noch erboten, uns eine weitere Karte zu zeichnen, die uns ganz genau zeigt, wo der Rat von Nebelhafen sich gegenwärtig versteckt hält. Als Gegenleistung für sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit, sozusagen . Also haben wir ihn zu Euch gebracht, Sir . Wenn er ist, wer er zu sein behauptet, und wenn er weiß, was er zu wissen behauptet, dann könnte er tatsächlich nützlich sein. Und bevor Ihr darüber nachdenkt, Sir, meinen Freund hier und mich zu belobigen oder uns wo-möglich sogar zu befördern, dann möchten wir sagen, daß wir nur unsere Pflicht getan haben, Sir.« »Aber die Gehaltserhöhung würden wir trotzdem nehmen, Sir«, fügte Morgan hinzu. »Oder einen Orden, falls welche verliehen werden.« »Ihr habt Euch wacker geschlagen«, lobte Razor. »Und jetzt schweigt.« Er wandte sich an den Gefangenen, und ein schwaches Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. Der Gefangene wurde, wenn das überhaupt möglich war, noch nervöser als zuvor. Razor trat näher. »Ich kenne Euch, Artemis Daley. Ihr seid in den Akten. Ihr macht alle möglichen Geschäfte – egal ob illegal oder nicht. Ein mittelgroßer Fisch in einem ziemlich kleinen Teich. Ihr habt uns in der Vergangenheit die eine oder andere Information verkauft . Nichts von wirklicher Bedeutung, trotzdem ausreichend, um Euch zu einem von uns zu machen. Also, redet, Artemis. Verratet mir, wo sich meine Feinde verstecken.« »Wir… wir müssen uns noch über den Preis verständigen, Euer Ehren«, stammelte Daley. Er hatte Mühe, seine Stimme unter Kontrolle zu halten. »Ich bin schließlich ein ehrenwerter Geschäftsmann, der nur versucht, in schweren Zeiten einen kleinen Profit herauszuschlagen. Ich habe kein Interesse am Krieg, Sir. Trotzdem darf ein Mann in meiner Position sich nicht dazu hinreißen lassen, wertvolle Informationen einfach so wegzugeben . Es könnte publik werden. Mein Ruf wäre ruiniert. Ich bin sicher, Ihr versteht, was ich meine.« »Ich verstehe genau, was Ihr meint«, entgegnete Razor. Er warf einen Blick zu Kast. »Bringt ihn um.« »Wartet! Wartet!« Daley wollte zurückweichen, doch Kast und Morgan hatten ihn sicher im Griff. Sie zwangen ihn auf die Knie. Daley zitterte so heftig, daß Schweißtropfen von seiner Stirn in den Schnee fielen. »Wartet, Euer Ehren! Erlaubt mir, Euch… eine kleine Kleinigkeit als Zeichen meines guten Willens zu geben. Der Rat… Ihr findet ihn im Diebesviertel. Er versteckt sich in der Schwarzdorn-Taverne.« Er blickte Razor hoffnungsvoll an. »Ich würde Euch mit Freuden eine Karte zeichnen, Euer Ehren, aus der ersichtlich wird, wo genau diese Taverne zu finden ist, aber es ist ein wenig schwer zu zeichnen, wenn man auf den Knien rutschen muß…« »Wir besitzen unsere eigenen Karten«, unterbrach ihn Razor. »Außerdem haben wir alles, was wir von Euch wollten.« Er nickte Kast und Morgan zu. »Statuiert ein Exempel an diesem Verräter.« Kast und Morgan nickten fröhlich und zerrten Daley davon. Daley trat und zappelte, aber das verlangsamte den Schritt der beiden Soldaten noch nicht einmal. »Das könnt Ihr doch nicht machen! Ich bin ein wichtiger Mann in Nebelhafen! Ich habe Euch doch alles gesagt, was Ihr wissen wolltet! Ich habe Euch alles…« Er brüllte weiter, bis Morgan ihm den Knauf seiner Waffe über den Schädel zog, und selbst dann noch murmelte er leise Proteste. Erst als Kast und Morgan ihn am nächsten Laternenmast aufhängten, verstummte er. Sie traten zurück und sahen zu, wie Daley an seinem Strick zappelte. Razors Lächeln war bitter. Er hatte keine Zeit für Verräter. Er beobachtete geduldig, wie der Mann starb und fragte sich, wie lange es wohl noch dauern mochte , bis die Agenten des Chojiro-Clans endlich mit ihm Kontakt aufnehmen würden. Die Menschen im Schwarzdorn bemerkten erst , daß das Imperium ihr Versteck gefunden hatte, als Disruptorstrahlen von den Antigravbarken direkt über ihnen herabhämmerten. Das Schieferdach flog auseinander, und das Obergeschoß der Taverne verwandelte sich von einem Augenblick zum andern in eine Flammenhölle , die sämtliche Zimmer erfaßte. Die wenigen, die sich dort oben aufhielten, verbrannten bei lebendigem Leib. Die Energiestrahlen fraßen sich in den Boden und erreichten schließlich den darunterliegenden Schankraum, wo sie von einem psionischen Schild abgelenkt wurden, den die Esper darin buchstäblich in allerletzter Sekunde errichtet hatten. Chances Kinder hatten unmittelbar vor Beginn des Angriffs eine Warnung ausgestoßen . Die Esper im Schwarzdorn gehörten zu den stärksten Begabungen ganz Nebelhafens . Gemeinsam wehrten sie den Beschuß der Disruptorkanonen ab; aber selbst sie konnten den Schwarzdorn nicht vor der Vernichtung retten. Die Balkendecke des Schankraums begann zu schwelen und färbte sich rasch schwarz. Das gesamte Haus erzitterte unter der Wucht des Beschusses. Steine zersprangen, und ein feiner Staub aus Mörtel rieselte herab. Schnell wurde es ungemütlich heiß. Die Esper konnten es nicht verhindern. Sie waren vollauf damit beschäftigt, den Disruptorbeschuß abzuwehren. Donald Royal bellte Befehle und organisierte die Leute. Er ließ die hintere Treppe mit Tischen und anderem Mobiliar ver-barrikadieren, für den Fall, daß die Flammen von oben durch die geschlossene Tür brechen sollten. Cyder schaffte Eimer mit Wasser heran, um plötzlich aufflackernde Brandherde bekämpfen zu können. Chances Kinder weinten und schrien jetzt beinahe ununterbrochen, doch er wagte nicht, ihnen Beruhigungsmittel zu geben. Vielleicht mußten sie schon bald um ihr Leben rennen. Ein paar Leute drehten durch und rannten zum Ausgang. Royal brüllte ihnen hinterher, doch sie wollten nicht hören. Sie rannten nach draußen – und wurden im gleichen Augenblick von Energiestrahlen zerrissen, da sie das Haus verließen. Weitere Antigravbarken schwebten heran und verstärkten die ohnehin schon beeindruckende Feuerkraft der Imperialen Luft-einheiten über der Taverne. Jedes Haus rings um den Schwarzdorn war längst zu einem schwelenden Trümmerhaufen geworden. Tote Männer und Frauen lagen in den Straßen, die Leichen geschwärzt vom fortgesetzten Feuersturm. Im Innern des Schwarzdorns brach ein dicker Holzbalken aus seinen Verankerungen unter der Decke und krachte wie ein Riesenhammer herab. Lois Barron wich nicht schnell genug aus und wurde unter dem Balken begraben. Blut sprudelte aus ihrem Mund, während sie mit schwachen Händen versuchte, den Balken zur Seite zu drücken. Es war offensichtlich, daß sie starb, und trotzdem bemühten sich die anderen verzweifelt, Lois zu befreien. Schließlich rührte sie sich nicht mehr. Der Zwerg Castle saß neben der Toten und hielt ihre Hand. Er schien alles andere ringsum vergessen zu haben. McVey und Donald Royal blieb keine Zeit zum Trauern. Sie waren die letzten verbliebenen Angehörigen des Rats von Nebelhafen, und sie hatten viel zu tun. Wenn irgend jemand einen Ausweg aus dieser Falle finden konnte, dann sie. In diesem Augenblick wurde der psionische Schild schwächer und zeigte erste Risse. Selbst die stärksten Esperbegabungen Nebelhafens hatten Schwierigkeiten, unter dem Einfluß von Legions fortwährendem Schrei in den Köpfen zu funktionieren. Ihre Kräfte verbrauchten sich, und das gleiche galt für ihre Körper. Blut lief ihnen aus Nasen und Ohren. Der unentwegte Ansturm des gewaltigsten ESP-Blockers, den das Imperium jemals geschaffen hatte, löschte ihre Bewußtseine Stück für Stück aus. Die Risse im psionischen Schild wurden breiter. Dünne Energielanzen schossen durch die Decke des Schankraums und spießten hier und da Leute auf wie Insekten auf Nadeln. Und dann traf ein einzelner breiter Strahl den stärksten der Esper, und der Schild brach endgültig zusammen. Im gleichen Augenblick wurde Johana Wahn aktiv. Sie errichtete den Schirm aufs neue. Sie hatte eigentlich gehofft, daß ihre Hilfe nicht nötig sein würde. Zweifellos würde Legion nun, da sie ihre Gegenwart enthüllt hatte, seine gesamte Aufmerksamkeit auf sie richten, und Johana war nicht ganz sicher, ob sie dieses unnatürliche Ding schlagen konnte. Trotzdem: Sie tat, was sie tun mußte, und sie nahm den gesamten Druck auf sich, während ringsherum ein Esper nach dem anderen zusammenbrach und starb. Bald schon war die Anspannung beinahe unerträglich. Trotz all ihrer Fähigkeiten war Johana Wahn kein wirklicher Gegner für die vielen Gehirne, aus denen Legion zusammengesetzt war. Falls sie und die anderen im Schankraum des Schwarzdorns überleben wollten, dann würde sie mehr sein müssen als nur Johana Wahn. Und so griff sie in sich hinein, suchte nach der hell strahlenden Stelle, wo sie einst in der dunklen Zelle von Silo Neun von der Mater Mundi berührt worden war. Sie rief nach dem Überesper, Unserer Mutter Aller Seelen, er solle herbeikommen, um sich einmal mehr durch sie zu manifestieren, und um mit ihr als Werkzeug alle Esper Nebelhafens zu einem gewaltigen Kollektiv zu vereinen, das Legion und das verhaßte Imperium hinwegfegen würde. Sie rief, und niemand antwortete. Johana schrie, ein bitterer Schrei der Wut und Verzweiflung, der einen Augenblick lang sogar Legion übertönte. So weit Johanas Be-wußtsein auch reichte – sie fand nirgends eine Spur von Mater Mundi, sondern nur die hellen Funken der Esper von Nebelhafen, die einer nach dem anderen erloschen, und das gräßliche Ding, das sich Legion nannte und jetzt nach und nach seine gesamte Aufmerksamkeit auf Johana richtete. Die Mater Mundi hatte Johana Wahn verlassen. Johana hielt trotzdem durch, getrieben von purer Willenskraft. Sie mußte durchhalten. So viele Menschen waren von ihr abhängig. Die kurze Begegnung mit Mater Mundi hatte Johana zu einem der stärksten Esper werden lassen, den das Imperium je gesehen hatte; doch selbst sie vermochte das Ding namens Legion lediglich aufzuhalten. Der Schmerz war beinahe unerträglich; aber Johana kämpfte weiter. Falls auch noch die letzten Mitglieder des Rates starben, würde jeglicher Widerstand rasch in sich zusammenbrechen, und das verhaßte Imperium hätte gewonnen. Johana richtete ihre Gedanken nach innen. Sie unterbrach sämtliche Verbindungen zur Außenwelt und fokussierte all ihre Kraft auf die Erhaltung des psionischen Schirms. Sie hörte nicht länger die Schreie der Menschen, die in den Straßen rings um die Schwarzdorn- Taverne starben. Die Disrupterkanonen der Imperialen Barken brachten Tod und Zerstörung, doch Johana durfte sich nicht ablenken lassen. Die Aufrechterhaltung des psionische Schildes war das einzige, was jetzt noch zählte. Johana wußte, daß die Anstrengung sie umbringen würde, doch es war ihr gleichgültig. Nach dem Entsetzen und dem Schmerz, dem sie in Silo Neun ausgesetzt gewesen war, hatte sie sich geschworen, lieber zu sterben, als noch einmal in die Hände des Imperiums zu fallen. Blut rann stetig aus ihren Ohren und ihrer Nase und spritzte bei jedem mühsamen Atemzug aus ihrem Mund. Ein Teil der Schmerzen verging allmählich, während Johanas Bewußtsein sich nach und nach abschaltete. Sie starb, Stück für Stück, und sie bemerkte es noch nicht einmal. Ihr Gesicht war das eines grinsenden Totenschädels. Und trotzdem kämpfte sie weiter, weigerte sich aufzugeben, weigerte sich, auch nur einen Zoll zu weichen. Langsam gewann sie Einsicht in ihren Gegner und erkannte, wer oder was Legion war – und woraus es gemacht worden war. Aus den Gehirnen von Menschen, die Johana vielleicht gekannt hatte, und aus den Würmern des Wurmwächters. Und Legion sah Johana und erkannte sie ebenfalls. Die Würmer erinnerten sich an Johana und an das, was sie getan hatte, und sie hatten Angst vor ihr. Johana lachte innerlich, und es war ein schreckliches, gnadenloses Lachen. Die angreifenden Streitmächte rückten auf breiter Front vor, wenn auch an einigen Stellen langsamer als anderswo. Es war, als würde jeder Mann, jede Frau und jedes Kind, jeder Einwohner Nebelhafens, der auch nur halbwegs eine Waffe halten konnte, die Barrikaden und Kreuzungen verteidigen oder als Heckenschütze aus Seitengassen und dunklen Fenstern auf die Angreifer feuern. Die Imperialen Truppen mußten um jeden Zoll Boden kämpfen, und sie bezahlten für jeden noch so kleinen Sieg mit Blut und Tod. Zurückweichende Verteidiger jagten Häuser und andere Bauwerke in die Luft und blockierten damit die Straßen, um den Vormarsch des Imperiums weiter zu behindern. Die Projektilwaffen der Rebellen verwirrten die Imperialen Truppen und schüchterten sie ein; sie waren es gewohnt, mit den vor-hersehbaren langen Pausen zu leben, die Disruptorgefechte nach sich zogen. Es dauerte eine Weile, bis sie lernten, hinter dem Schutz massiver Energieschilde vorzurücken, und von da an waren die Projektilwaffen unnütz. Inzwischen gab es keine kämpfenden Esper mehr, weder auf den Straßen noch am Himmel. Legion war zu stark für die meisten, bis auf ganz wenige Ausnahmen, und alle anderen waren tot. Die Verteidiger ließen sich weiter zurückfallen, Straße um Straße, während sie den generationenalten Plänen zur letzten Verteidigung der Stadt folgten. Doch die Pläne waren seit vielen Jahren nicht mehr aktualisiert worden . Wichtige Routen waren seither durch Straßenmärkte oder neue Gebäude blok-kiert, und einige Straßen existierten nur noch auf den Karten. Die Verteidiger kämpften verbissen, und sie wichen erst zurück, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gab. Langsam, aber unaufhaltsam näherten sie sich dem verwundbaren Herzen der Stadt. Verwundete und Flüchtlinge zogen sich auf die Leichter im Autumnusfluß zurück. Das ging schneller und war sicherer, als sich den Straßen anzuvertrauen. Die kohlebefeuerten Leichter tuckerten den eisigen Fluß hinauf und hinunter, und ihre stählernen Steven brachen das frische Eis an der Wasseroberfläche. Zu beiden Seiten des Flusses brannten Gebäude wie Höllenfeu-er . Der Autumnusfluß mäanderte durch die Stadt und passierte nacheinander Gildenviertel, Händlerviertel und Diebesviertel. Leichter fuhren hierhin und dorthin und suchten verzweifelt nach einem sicheren Landeplatz. Die Menschen an Bord riefen sich einander Fragen und Neuigkeiten zu, erkundigten sich besorgt nach vermißten Angehörigen oder nach dem Stand der Schlacht; doch die Antworten waren meist schon alt und überholt und selten gut. Auf den Docks entbrannten heftige Kämpfe, als die Spitzen der Imperialen Marineinfanterie versuchten, die Leichter zu entern. Sie wurden von Dockarbeitern mit Entermessern und Fanghaken zurückgeschlagen. Die Scheuerleute kannten jeden Zoll ihres Territoriums, und sie waren harte und entschlossene Kämpfer. Einige Leichter waren überladen mit Flüchtlingen und Verwundeten und wurden zu langsam: leichte Ziele für die Antigravbarken und – schütten am nächtlichen Himmel. Unfähig zu manövrieren, wurden sie von Disruptorfeuer zerrissen, und brennende Leichen trieben in den dunklen Fluten des Autum-nusflusses. Die größeren Leichter nahmen schwere Projektilwaffen an Bord und lehrten die Imperialen Flieger, einen respektvollen Sicherheitsabstand einzuhalten. Die Standardtaktik eines Schlittens war es, hereinkommendes Feuer mit Hilfe des Energieschirms abzufangen und anschließend den Schild zu senken und das Feuer zu erwidern, während die Energiewaffen des Feindes noch nicht wieder aufgeladen waren. Die Besatzungen der Schlitten rechneten nicht mit Waffen, die keine Nachla-dezeiten besaßen. Das Imperium verlor eine ganze Reihe Schlitten, bis sich die Nachricht herumgesprochen hatte. Doch das Geschenk des Todtsteltzers an Waffen und Munition war weit verstreut und deswegen überall knapp, wohingegen die angreifenden Truppen über unendliche Ressourcen zu verfügen schienen. Die Schützen an Bord der Leichter duckten sich hinter improvisierten Brüstungen und gaben sich alle erdenkliche Mühe, keine Munition zu verschwenden. Imperiale Marineinfanteristen marschierten durch die hart umkämpften Straßen Nebelhafens. Sie stiegen über die Leichen der Gefallenen und warfen Granaten in die wenigen Gebäude, die aussahen, als könnten sich noch Heckenschützen darin verborgen halten. Die besseren Bezirke der Stadt blieben selbstverständlich unberührt, und man postierte sogar Wachen, um Plünderer abzuschrecken. Wenn das Imperium erst die Kontrolle über Nebelhafen an sich gerissen hatte, würden diese Gebäude an die neuen, vom Imperium bestimmten politischen Führer gegeben werden. Doch überall sonst brannten die Häuser, und Flammen loderten in den nächtlichen Himmel wie Siegesfeuer. Kast und Morgan stiefelten fröhlich durch die Etappe. Sie taten ihr Bestes, um den harten Kämpfen aus dem Weg zu gehen und beschäftigten sich damit, gegnerische Heckenschützen zu jagen und jeden zu erschießen, der es wagte, sie zu ärgern. Sie töteten jeden, der auch nur den Anschein einer Gefahr erweckte, egal ob Mann oder Frau, und sie warfen Granaten durch Fenster, wenn ihre Beute versuchte, in Deckung zu gehen. Wie der Rest der Invasionstruppe waren auch sie nicht daran interessiert, Gefangene zu machen. Dazu war später noch Zeit, wenn die Stadt erst eingenommen war. Kast und Morgan nahmen sich die Zeit, hier und da unauffällig zu plündern, wenn sie niemand beobachtete; doch sie fanden nicht viel, selbst in den wenigen Häusern nicht, die bisher irgendwie vom Feuer und den Granaten verschont geblieben waren. Nebelhafen war nicht gerade für seinen Wohlstand berühmt, ausgenommen die besseren Viertel, und Kast und Morgan kamen nicht einmal in die Nähe dieser Bezirke. Und so stapften sie ohne besondere Eile durch die engen Straßen und Gassen und ignorierten die Leichen und den Gestank und die blutverschmierten Pflastersteine. Eine Hasche wanderte zwischen ihnen hin und her, bis sie leer war. Bei der erstbesten Gelegenheit wurde sie durch eine neue ersetzt. Der Wein war größtenteils lausig schlecht, aber Wein war Wein, oder? Die beiden Soldaten grölten Schlachtlieder und vulgäre Zoten, wenn sie nicht gerade plünderten oder Leute umbrachten; aber irgendwie wollte keine rechte Stimmung aufkommen. Bis sie ein Mädchen fanden , das sich in den Ruinen eines Hauses zu verbergen versuchte , welches die beiden bisher übersehen hatten. Das Mauerwerk war schwarz und versengt , sämtliche Fenster zersplittert, aber ansonsten war das Gebäude relativ unbeschädigt. Genau der richtige Platz für einen verängstigten Flüchtling, um sich darin zu verstecken was auch der Grund dafür war, warum Kast und Morgan es überhaupt durchsuchten. Das Mädchen mochte vielleicht fünfzehn Jahre alt sein. Es war zu Tode verängstigt und zitterte am ganzen Leib, und es starrte die beiden Soldaten aus weit aufgerissenen Augen und mit fle-hendem Gesicht an. Die Kleider des Mädchens waren zerrissen und rußgeschwärzt, und es sah ungefähr so appetitlich aus wie ein halb verbranntes Steak, doch Kast und Morgan waren nicht verwöhnt. Sie stießen die einzige Tür hinter sich zu und grinsten sich gegenseitig an. »Das hat uns die ganze Zeit über gefehlt«, sagte Kast, »‘ne Invasion is’ keine richtige Invasion, bevor man nich’ sein Ding irgendwo reingesteckt hat.« »Wer als erster?« fragte der mehr praktisch veranlagte Morgan. »Und damit du’s weißt: Nö, ich werf diesma’ keine Münze!« Also spielten sie Schere Stein Papier, bis Kast gewonnen hatte. Er nestelte an seinem Gürtel herum. Das Mädchen startete einen Fluchtversuch. Morgan fing sie spielerisch wieder ein und zog sie an sich. Sie kratzte ihm durchs Gesicht, suchte mit ihren Nägeln seine Augen. Morgan wirbelte sie herum und bog ihr die Arme auf den Rücken. Sie trat und wehrte sich immer noch, also drückte er sie so fest an sich, daß ihr die Luft ausging, und schleuderte sie Kast vor die Füße. Er kniete vor ihr nieder, grinste fröhlich, und sie spuckte ihm ins Gesicht . Er gab ihr fast beiläufig eine Ohrfeige, und die Wucht seines Schlags ließ sie rückwärts taumeln . Sie fand an der Wand Halt . Schwer atmend blickte sie gehetzt von Kast zu Morgan und wieder zurück. Blut und Schleim tropften ihr aus der Nase. Kast grinste sie an. »Wehr dich nur, soviel du willst, Kleines. Ich mag es, wenn ihr euch wehrt. Wenn du gut bist, ich meine wirklich gut, dann kriegst du hinterher auch ‘ne Belohnung. Wir lassen dich am Leben.« Und dann erstarrten die beiden Marineinfanteristen. Draußen auf der Straße hatte jemand ihre Namen gerufen. Sie warteten in der Hoffnung, der Rufer würde weitergehen; doch die Stimme erklang erneut, diesmal lauter. Das Mädchen spannte sich und wollte schreien; Morgan schlug erneut zu. »Verflucht«, stöhnte Kast. »Alle möglichen Leute hätten sie hinter uns herschicken können, aber es muß ausgerechnet der Sergeant Franke sein. Er würde uns das hier niemals durchgehen lassen. Er glaubt, er sei zum Offizier geboren, der Blöd-mann.« Morgan zuckte die Schultern, machte einen Schritt nach vorn und schnitt dem Mädchen mit einer ökonomischen Bewegung die Kehle durch. Es sackte an der Wand zusammen und umklammerte die klaffende Wunde mit den Händen. Blut sprudelte zwischen den Fingern hervor; dann fiel das Mädchen zu Boden. Kast fluchte lästerlich und schloß seinen Gürtel . »Mach dir nichts draus«, tröstete ihn sein Freund Morgan. »Wir werden schon noch die eine oder andere Gelegenheit bekommen . Franke kann schließlich nicht überall sein .« Sie grinsten sich an und gingen fröhlich pfeifend auf die Straße hinaus. Alles in allem machte ihnen die Invasion eine Menge Spaß. Der Raumhafen im Technikerviertel lag in Schutt und Asche. Eine Zeitlang hatte die schwere Disruptorkanone aus dem abgestürzten Imperialen Raumschiff Dunkelwind die Angreifer in ihren Antigravbarken auf Distanz halten können. Auf kurze Entfernungen brauchte die Kanone keinen Feuerleitrechner, um ihre Ziele zu finden. Doch schon nach kurzer Zeit wichen die Angreifer in sichere Entfernung zurück und funkten die Unerschrocken um Hilfe an. Der Imperiale Raumkreuzer sandte sechs mit schweren Schilden ausgerüstete Pinassen, um die Kanone auszuschalten. Sie kamen brüllend aus der Nacht herab, zu schnell, um ein klares Ziel zu bieten, und zerstörten die Kanone in einer Explosion, die in ganz Nebelhafen zu hören war. Nachdem der Raumhafen keine Verteidigung mehr besaß, jagten die Pinassen über das Flugfeld und schossen die Schiffe auf den Landeplätzen ab. Und während sie damit beschäftigt waren, rückten die Barken gegen den Kontrollturm vor. Die Rebellenschiffe auf den Landeplätzen explodierten eins nach dem anderen. Feuerblitze erhellten die Nacht, und Rauch stieg in den Himmel. Merkwürdiges Licht flackerte auf und erlosch wieder, als die Hyperraumantriebe zusammenbrachen und ihre Energien freisetzten. Die Landeplätze waren jetzt stark radioaktiv verseucht, und das würde auch so bleiben, bis das Imperium industrielle Hochleistungsschrubber heranbrachte. Einzig und allein das Schiff des Todtsteltzers, die Sonnenschreiter II, überlebte im Schutz ihrer mächtigen Schilde, einem Produkt überlegener Hadenmann-Technologie. Die Pinassen merkten die Sonnenschreiter II für spätere Maßnahmen vor und zogen weiter. Es gab genügend andere Ziele, mit denen sie sich beschäftigen konnten. Der Kontrollturm leistete am längsten Widerstand. Er besaß eine gepanzerte Konstruktion und Fenster aus Stahlglas. Doch am Ende fiel auch er unter dem massierten Disruptorfeuer der am Himmel schwebenden Antigravbarken. Die Stahlglasfenster flogen nach innen, zerfetzt zu einem tödlichen Schrapnell, das jeden auf der Stelle tötete, der es gewagt hatte, im Turm zu bleiben. Um ganz sicherzugehen, daß niemand überlebte, setzten die Barken den Turm anschließend in Brand und überließen ihn allein seinem Schicksal. Nachdem sie mit ihrer Arbeit fertig waren, schwebten Barken und Pinassen majestätisch anderen Zielen entgegen. Überall auf dem Raumhafen lagen Tote: Bodenmannschaften, die ihre Schiffe für Notstarts vorbereitet hatten, ganze Scharen von Einwohnern, die gedacht hatten, der stark verteidigte Raumhafen sei der sicherste Ort auf dem Planeten, und wohlhabende Bürger, die horrende Summen gezahlt hatten, um von der Nebelwelt geschmuggelt zu werden. Die Schiffe des Imperiums hatten sie im Freien überrascht, wo es weit und breit kein Versteck und keine Fluchtmöglichkeit gegeben hatte. Sie hatten um Hilfe geschrien, die niemals kam, und waren am Ende gestorben. Zerstörte Raumschiffe brannten auf den von Rissen durchzogenen Landefeldern. Die Überreste des einstigen Kontrollturms flackerten hell wie eine riesige Kerze, und die Wände schmolzen in der gewaltigen Hitze wie Wachs. Der Raumhafen war gefallen. Jung Jakob Ohnesorg führte Owen, Hazel, Silver und seine Schar von Bewunderern in die Stadt zurück, auf der Suche nach Menschen, die seiner Hilfe bedurften. Die vom südwestlichen Stadtrand zurückgeworfenen Imperialen Angreifer suchten inzwischen nach einem leichteren Zugang zur Stadt. Niemand zweifelte auch nur eine Sekunde daran, daß sie ihn finden würden. Bald schon entdeckte Ohnesorg eine Straßenbarrikade, die unter dem Imperialen Ansturm zu fallen drohte, und rasch eilte er zur Unterstützung herbei. Die improvisierte Barrikade war aus Möbeln und anderen schweren Gegenständen errichtet worden, die man aus den umliegenden Häusern auf die Straße gezerrt, übereinandergestapelt und aneinander gebunden hatte, bis die resultierende Mauer gut ein Dutzend Fuß hoch stand. Kleinere Möbel waren zerbrochen worden, und ihre hölzernen Überreste bildeten gezackte Spitzen, die aus der Barrikade her-vorragten und die andere Seite daran hindern sollten, den Verteidigern zu nahe zu kommen. Eiserne Nägel waren zu Krähenfüßen verbogen worden, die Spitzen in Dung getaucht, und anschließend auf die Straße vor der Barrikade ausgestreut, wo die Sturmtruppen darauf treten mußten. Ohnesorgs kleine Armee ging hinter der Barrikade in Stellung und schoß mit Armbrustbolzen und Bleikugeln durch die Schießscharten auf jeden Angreifer, der mit einem Disruptor auf die Barrikade zielen wollte. Rasch wurde allen Beteiligten klar, daß nur ein Nahkampf das Schicksal der bedrohten Barrikade entscheiden konnte. Und weil die Barrikade die letzte Zufahrtsstraße ins Stadtzentrum blockierte, war ihre Kontrolle für beide Seiten von größter Bedeutung. Und so stürmten die Imperialen Truppen über die Straße heran, geschützt durch massive Energieschilde, und feuerten im Laufen blind ihre Disruptoren ab. Die Energiestrahlen rissen breite Lücken in die Barrikade und setzten jeden Verteidiger in Brand, der das Pech hatte, im Weg zu stehen. Aber zum Glück gingen die meisten Schüsse daneben, und die Barrikade hielt dem ersten Ansturm stand. Die Rebellen feuerten auf die Beine der Angreifer, die einzig ungeschützte Stelle der hinter Ener-gieschildern verborgenen Soldaten. Ganze Sektionen der vorrückenden Streitmacht brachen ein, als die Truppen übereinander fielen und zu Boden stürzten. Und trotzdem rückten sie weiter vor, bis sich beide Seiten an der Barrikade gegenüberstanden, und nur noch Mut und Verzweiflung und nackter Stahl über den Sieg entschieden. Owen und Hazel kämpften Seite an Seite, noch immer mental verbunden. Hazel brauchte kein Blut mehr und Owen keinen Zorn. Irgend etwas Neues war jetzt in den beiden am Werk, und dieses Etwas verlieh ihnen Kräfte und Schnelligkeit, die weit jenseits ihrer Vorstellungskraft lagen. John Silver hatte sein letztes Blut längst aufgebraucht, und nur noch Mut, Entschlossenheit und Pflichtgefühl hielten ihn auf den Beinen. Er hatte seine Furcht vor Owen und Hazel überwunden. Was auch immer die beiden sein mochten, sie waren ganz eindeutig die beste Waffe gegen die angreifenden Truppen, und so hatte Silver die Aufgabe übernommen, den beiden den Rücken freizu-halten. Wie es schien, brauchten selbst Götter hin und wieder jemanden, der ihre Schwachstellen schützte. Interessanterweise konnte sich Silver nicht dazu überwinden, auch nur einen Dreck um Jung Jakob Ohnesorg zu geben. An dem Mann war etwas, das Silvers Nackenhaare zu Berge stehen ließ, obwohl er keinen Grund dafür nennen konnte. Vielleicht lag es daran, daß der legendäre Rebell zu vollkommen schien. Auf jeden Fall sah er zumindest aus wie ein Gott, wie er dort oben auf der Barrikade stand, das Schwert mit beiden Händen schwang und dem Imperium trotzte. Der Kampf dauerte an. Überall vor, hinter und auf der Barrikade waren jetzt kleine Scharmützel im Gang. Owen und Hazel töteten jeden, der ihnen zu nahe kam. Sie brüllten ihre Schlachtrufe und wichen sogar Disruptorstrahlen aus, was eigentlich unmöglich sein sollte. Owens Shandrakor! erhob sich immer und immer wieder über den allgemeinen Lärm, und viele der Rebellen nahmen seinen Ruf auf. Inzwischen waren es fast genauso viele wie die, die Jakob Ohnesorgs Namen auf den Lippen hatten. Sie warfen die Imperialen Truppen zurück und stürmten am Ende selbst über die Barrikaden, um die Angreifer durch die Straßen zu jagen. Handgemenge überall, wohin das Auge sah. Die Masse der Kämpfenden wogte mal hierhin, mal dorthin und trampelte über die Toten und die Verwundeten zu Tode. Die Truppen des Imperiums sangen Kampflieder und hielten dem Ansturm stand, denn hinter ihnen standen ihre bewaffneten Offiziere, und in ihren Adern zirkulierten benebelnde Kampfdrogen. Zu beiden Seiten der umkämpften Straße schwelten und brannten Häuser, und trotzdem hatten Kinder und Leute, die für den Nahkampf zu alt waren, auf den Dächern Stellung bezogen und bombardierten die Angreifer mit Dachziegeln und Steinen und kochendem Wasser. Sie nahmen sich Zeit zum Zielen, und manch ein Marineinfanterist wurde durch ein unerwartetes Geschenk von oben schachmatt gesetzt. Tobias Shreck und sein Kameramann Flynn befanden sich mitten im dicksten Trubel. Sie zeichneten alles auf. Gegenwärtig waren sie in einen nahen Hauseingang geflüchtet und hielten die Köpfe gesenkt, während Flynns Kamera über den Kämpfenden schwebte und die besten Szenen festhielt. Tobias’ gemurmelter Kommentar wurde zunehmend heiser, doch er machte verbissen weiter. Er wußte, wenn es ihm irgendwie gelang, diese Aufnahmen an seinen Zensoren vorbeizuschmuggeln, dann würden die Nach-richtenagenturen einen ganzen Stapel neuer Preise und Auszeichnungen erfinden, nur um sie Tobias und Flynn zu verleihen. Das hier war genau das richtige Material. Ffolkes war zunehmend sturer geworden im Hinblick auf das, was sie filmen durften und was nicht, und so hatten die beiden Reporter ihn mit dem Ruf: »Seht nur, dort drüben!« abgelenkt und waren im gleichen Augenblick in verschiedene Richtungen davongerannt. Als Ffolkes sich endlich darüber klargeworden war, wen von beiden er verfolgen oder wen er erschießen sollte, war es längst zu spät gewesen. Tobias und Flynn hatten sich anschließend mit Leichtigkeit wiedergetroffen und waren aufgebrochen, um die Schauplätze der schwersten Kämpfe zu suchen. Es dauerte nicht lange, bis sie ein paar gefunden hatten. Und von diesem Zeitpunkt an waren sie vollauf damit beschäftigt gewesen, die Köpfe einzu-ziehen und Schüssen und anderen Angriffen auszuweichen, während sie von einem Brennpunkt zum anderen gerannt waren und Flynns Kamera alles aufgenommen hatte. Soldaten und Rebellen ignorierten Tobias und Flynn gleichermaßen , da sie offensichtlich keiner Partei angehörten , doch Kugeln, Disruptorstrahlen und einstürzenden Häusern war das egal. Tobias hätte am liebsten die Rebellen angefeuert, die in der Unterzahl und schlecht ausgerüstet waren und sich trotzdem nicht geschlagen geben wollten; aber das durfte er nicht riskieren – jedenfalls nicht, wenn er den Film, den er unter Lebensgefahr drehte, jemals im Imperium zeigen wollte. Also achtete er peinlich genau darauf, daß sein gemurmelter Kommentar neutral blieb, und ließ im übrigen die Bilder für sich selbst sprechen. Der junge Meisterdieb namens Katze eilte über die Dächer und trug seinen Teil zur Verteidigung Nebelhafens bei. Er hatte alle von Cyder stammenden Botschaften abgeliefert, und genaugenommen hätte er inzwischen schon auf dem Weg zurück in den Schwarzdorn sein können, doch er konnte der Versuchung einfach nicht widerstehen. Nicht, daß er sich je als gewaltliebenden Menschen betrachtet hätte, doch die gnadenlose Zerstörung seiner Stadt hatte eine Wut in ihm erweckt, die er nicht mehr länger beherrschen konnte. Und so bewarf er die Soldaten unten in den Straßen mit Ziegeln und Steinen und allem, was er in die Hände bekam – jedenfalls wenn er nicht gerade Leute zurückriß, die ihrerseits Steine und Ziegel und alles mögliche warfen und von ihrem Enthusiasmus beinahe über den Rand der Dächer getrieben worden wären . Sie kannten sich auf den Dächern eben nicht so gut aus wie Katze. Katze überwachte gerade die fachmännische Zerlegung eines gemauerten Schornsteins zwecks Gewinnung neuer Wurfge-schosse, als sein Blick zufällig auf das Ende der Straße fiel. Dichter schwarzer Rauch hing in der Luft, der von aufsteigender heißer Luft und den Verwirbelungen vorbeifliegender Antigravbarken in diese und jene Richtung getrieben wurde. Plötzlich teilte sich der Rauch und zeigte Katze ein halbes Dutzend Imperialer Marineinfanteristen, die ganz am Ende der Straße eine tragbare Disruptorkanone in Stellung brachten. Ihr Plan schien offensichtlich. Sobald die Kanone erst feuerbereit war, mußten die Kanoniere nur noch ihre Männer zu-rückrufen, dann konnten sie schießen. Die Kanone würde die Barrikade und jeden in ihrer Nähe mit einem einzigen Schuß in Stecke reißen. Die Verteidiger hätten nicht den Hauch einer Chance. Katze sprang noch im selben Augenblick auf und rannte über die steilen Dächer davon. Da er taubstumm war, hatte er keine Möglichkeit, die Verteidiger unten in den Straßen zu warnen, und bis er den Leuten auf den Dächern klargemacht hätte, was er wollte, wäre es zu spät. Also mußte er allein handeln. Leise bezog er über den Soldaten Position, während sie den Zusammenbau der tragbaren Kanone beendeten und die Zielerfassungsrechner hochfuhren. Sie hatten ihre Vorbereitungen bereits fast abgeschlossen, und Katze hatte nicht die leiseste Idee, wie er sie aufhalten konnte. Wenn er Steine oder andere Gegenstände auf sie schleuderte, würde er sie nur ablenken, und falls sie Disruptoren besaßen, würden sie ihn rasch vom Dach geschossen haben. Falls er auf sie heruntersprang, würde das Überraschungsmoment vielleicht reichen, einen oder zwei zu überwältigen, aber der Rest würde ihn zweifelsohne niederstrecken. Auf der Suche nach Inspiration blickte sich Katze verzweifelt auf dem Dach um. Seine Augen leuchteten auf, als er einen schiefen Schornstein nicht weit vom Rand des Dachs entfernt entdeckte. Er ragte über die Dachkante hinaus, und ein verirrter Energiestrahl hatte eine Ecke herausgebrannt . Er sah aus, als genüge ein leichter Stoß, um ihn auf die Straße stürzen zu lassen. Katze überprüfte noch einmal die Position der Soldaten und ihrer Kanone. Genau unter dem Schornstein . Perfekt. Katze grinste und stemmte die Schulter gegen die Ziegel. Er druckte mit aller Kraft, doch der Schornstein gab nicht einen Millimeter nach. Er versuchte es erneut, diesmal mit Anlauf, und seine Füße rutschten auf dem schlüpfrigen Dach aus. Mit einemmal umgab ihn dichter schwarzer Rauch. Der Wind hatte gedreht. Katze ging in die Knie und hustete krampfhaft. Er rang nach Luft. Der Rauch war von glühender Asche durchsetzt, und Katze zog die Kapuze seines weißen Thermoanzugs über den Kopf, damit kein Funke in seine Haare kam. Unten auf der Straße war die Kanone inzwischen beinahe feuerbereit . Voll stiller Wut lehnte Katze sich mit dem Rücken gegen den Schornstein, stemmte die Stiefel gegen die stabilsten Dachziegel und spannte sich mit all seiner Kraft. Hinter ihm gab das Gemäuer widerstrebend nach. Katzes Gesicht war schmerzverzerrt, während er sämtliche Energie in Beinen und Rücken freisetzte. Der Schmerz wurde stärker, und der Schornstein wollte immer noch nicht kippen. Katzes Herz drohte, ihm in der Brust zu zerspringen, und Schweiß strömte ihm übers Gesicht… und plötzlich brach der gemauerte Kamin ab und fiel. Es geschah ohne jede Vorwarnung. Im einen Augenblick nichts, und im nächsten schon ein lautes Krachen von brechenden Ziegeln und Mörtel, und der ganze verdammte Schornstein fiel in die Tiefe und riß Katze mit hinab. Während des Sturzes drehte sich Katze reflexhaft, und suchte nach Vorsprüngen, an denen er sich festhalten konnte. Aus den Augenwinkeln erhaschte er einen flüchtigen Blick auf die erschrockenen Gesichter der Geschützmannschaft, die zu ihm hinaufschauten. Dann krachten die Ziegel wie ein Hammer auf sie hernieder, und sie wurden unter den Trümmern begraben. Katzes suchende Hände fanden eine hölzerne Fensterlade, und es gelang ihm, sich daran festzuhalten. Einen Augenblick lang hing er mit seinem gesamten Körpergewicht an einer einzigen Hand, doch dann riß ihn der Schwung seines Sturzes herum, und es war ein leichtes für ihn, durch das offene Fenster in den darunterliegenden Raum zu segeln. Katze rollte sich auf dem Boden ab und krachte gegen die hintere Wand, wo er liegenblieb, bis er wieder einigermaßen zu Atem gekommen war. Nachdem sein Puls sich wieder ein wenig beruhigt hatte, beschloß Katze, daß es an der Zeit war, in den Schwarzdorn und seine Sicherheit zurückzukehren. Er wollte nicht, daß Cyder sich seinetwegen Sorgen machte. Alter Streit und alte Zwistigkeiten waren vergessen, als die Rebellen sich draußen in den Straßen Nebelhafens einem gemeinsamen Feind entgegenstellten. Eingeschworene Todfeinde kämpften Seite an Seite und hielten sich gegenseitig die Rük-ken frei. Es schien, als wäre inzwischen jeder, der auch nur halbwegs laufen und eine Waffe halten konnte, in den Straßen, um eine Stadt zu verteidigen, deren Bedeutung den Rebellen erst klargeworden war, nachdem man sie ihnen zu nehmen drohte. Selbst Owens Feinde aus dem ehemaligen Spionagenetz der Todtsteltzers leisteten ihren Beitrag, wie sich herausstellte. Zwar waren sie Geschäftsmänner, keine Krieger, aber ohne Waffengewalt und Entschlossenheit wären sie nicht zu dem geworden, was sie heute waren. Und vielleicht erinnerten sie sich auch an die idealistischen jungen Männer, die sie einst gewesen waren. Vielleicht regten sich in ihnen längst vergessen geglaubte Ideale. Neeson der Bankier und Robbins der Immobilienhai kämpften Seite an Seite, und ihre Schwerter blitzten, als sie sich wieder an ihr altes Geschick im Umgang mit Waffen erinnerten. Stacey der Rechtsanwalt kämpfte mit einem eleganten Rapier, und Conelly und McGowan von den Docks hackten mit Äxten eine blutigen Schneise durch die Feinde. Sie alle kämpften gut und tapfer und für Männer ihres Alters und in ihren behaglichen Stellungen mit überraschendem Erfolg. »Verdammt, das tut vielleicht gut!« bemerkte Robbins in einer ruhigen Phase zwischen den Kämpfen. »Ich fühle mich wieder wie in alten Zeiten, als wir noch jung waren und die Welt verändern und das Imperium stürzen wollten. Und all das völlig gratis!« Robbins lachte. »Das waren glückliche Zeiten. Alles war so einfach. Ich hatte sowieso schon angefangen , mich in meinem Beruf als Geschäftsmann zu langweilen.« Die Schwarzdorn-Taverne war ein lodernder Trümmerhaufen. Das obere Stockwerk ein flammendes Inferno , das Dach verschwunden, verschlungen von Feuer und Rauch, die in den Nachthimmel stoben. Drei Antigravbarken schwebten über der Taverne, und ihre Disruptorstrahlen hämmerten immer und immer wieder auf den Schwarzdorn herab. Flammen leckten über die Außenmauern, und große Risse taten sich auf. Im Innern herrschte nichts als Chaos, Panik und Rauch. Johana Wahn stand mitten im ehemaligen Schankraum und hatte die Arme ausgebreitet wie eine Gekreuzigte. Ihre mentalen Kräfte waren das einzige, was die tödlichen Disruptorstrahlen aufhielt. Blut rann in stetigem Strom aus ihrem Mund, ihrer Nase und ihren Ohren. Ihr Gesicht war totenbleich, und ihre wilden Augen blickten in eine unendliche Ferne. Johana starb, und jeder ringsum wußte es. Sie war der einzige Schutz, den die Gäste des S chwar z dorn noch hatten, und die Anstrengung ließ sie Stück um Stück sterben. Donald Royal hatte die wenigen Überlebenden in Gruppen eingeteilt, die mit Decken und Wassereimern bewaffnet jeden Brand im Keim erstickten, der im Schankraum auszubrechen drohte. Der Notfall hatte dem alten Mann neue Kräfte verliehen, und er wuselte herum wie jemand, der nicht halb so alt war wie er. Ratsmitglied McVey hatte Chances Kinder zu einer kleinen Gruppe versammelt, die sich von den Wänden der Taverne fernhielt . Donald Royals Partnerin Madeleine Skye stand im Eingang und hielt einen Disruptor in der Hand. Imperiale Truppen hatten längst die Tür aus den Angeln geschossen und versuchten seit einiger Zeit, Granaten durch die so entstandene Lücke zu schleudern. Skye hatte die erste rechtzeitig gesehen und sie im gleichen Augenblick wieder hinausgeworfen, da sie gelandet war. Anschließend hatte sie an der Tür Posten bezogen, um jeden zu entmutigen, der das gleiche noch einmal versuchen wollte . Draußen auf der anderen Straßenseite beobachtete eine größere Gruppe von Marineinfanteristen geduldig den Eingang. Sie waren bereit, sich um jeden zu kümmern, der herauszukommen wagte. Keiner der Angreifer war daran interessiert, Gefangene unter den Gästen des Schwarzdorns zu machen. Hinter der Theke wurde Cyder nach und nach ziemlich betrunken. Ihre Taverne war nur noch ein Trümmerhaufen; sie saß in einem brennenden Haus in der Falle, und Katze war nirgends zu sehen. Sie hoffte nur, daß er in Sicherheit war, doch insgeheim zweifelte sie daran. Katze hätte schon längst wieder zurück sein müssen. Wahrscheinlich war er in einen Kampf geraten… Sie hatte ihm immer und immer wieder gesagt, daß er sich in nichts hineinziehen lassen sollte… Cyder schenkte sich einen weiteren Drink ein. »Meint Ihr nicht, daß Ihr inzwischen genug habt?« fragte Donald Royal. »Zur Hölle, nein!« antwortete Cyder. »Ich kann immer noch klar denken.« »Und wenn wir plötzlich flüchten müssen? Ihr wärt viel zu betrunken.« »Flüchten? Wohin denn? Die Taverne ist von Soldaten eingeschlossen. Wir sind im gleichen Augenblick tot, da wir den Kopf durch die Tür stecken. Selbstverständlich werden wir auch sterben, wenn wir hier bleiben. Wenn uns die Rammen nicht kriegen, dann der Rauch. Oder diese Wahnfrau bricht zusammen, und die Antigravbarken der Imperialen legen alles in Schutt und Asche. Habe ich noch was übersehen?« »Es besteht immer die Möglichkeit, daß noch irgend etwas geschieht«, entgegnete Royal. »Irgendein glücklicher Umstand, irgendeine Gelegenheit. Wir müssen bereit sein, sie beim Schopf zu packen…« Cyder schüttelte den Kopf. »Dazu ist es längst zu spät, Donald. Wir gehen nirgendwo mehr hin…« Sie brach ab, runzelte die Stirn und schnitt schließlich eine Grimasse. »Hört Ihr das Singen auch?« fragte sie. Genau in diesem Augenblick brach eine Außenwand der Taverne ein. Die Ziegel polterten durcheinander, und draußen auf der Straße war ein Haufen toter Soldaten zu sehen. Flammen rasten auf die Bresche in der Mauer zu, wo sie dann von einer unsichtbaren Macht aufgehalten und zur Seite gelenkt wurden. Und dort, direkt vor der Bresche, standen singend Investigator Topas und die Frau, die einst unter dem Namen Typhus-Marie bekannt gewesen war. Die beiden machtvollsten Sirenen, die es je im Imperium – oder besser außerhalb davon – gegeben hatte. »Hab’ ich Euch’s nicht gesagt?« Donald Royal grinste Cyder an. »Also schön, Leute! Wir verschwinden von hier! Packt alles Notwendige ein, und dann nichts wie raus durch das Loch in der Mauer. Madeleine, Ihr helft mir mit Johana Wahn. Cyder, stellt diese verdammte Flasche weg, oder ich trete Euch in den Arsch, daß Euch die Ohren wackeln.« Inzwischen waren die Flammen überall. Die Luft war unerträglich heiß. Energielanzen krachten durch die Decke, als Johanas Schild zu bröckeln begann. Donald packte sie am Arm und zerrte sie zur Lücke in der Wand. Inzwischen rannen ihr wahre Blutströme übers Gesicht, und bei jedem Atemzug spritzte Blut aus ihrem schmerzverzerrten Mund. Johanas Haut schimmerte in einem leichenfarbenen Blauweiß, und ihre Hand in der von Donald Royal war kalt und feucht. Sie sah aus wie ein Leichnam, den man aufgewärmt und wieder hatte erstarren lassen; aber irgendwie hielt sie ihren psionischen Schild noch immer aufrecht und schützte die Rebellen, die aus der brennenden Taverne flüchteten. Ihre Schritte waren steif und unsicher, und Donald mußte sie mit brutaler Gewalt zum Weitergehen zwingen. Sie war nicht mehr imstande, mit ihm oder irgend jemand anderem zusammenzuarbeiten, nicht einmal, wenn es um die Rettung ihres eigenen Lebens ging. Ihre gesamte Welt war auf die einfache Notwendigkeit geschrumpft, den Schild zu erhalten, selbst wenn sie dabei sterben mußte. Donald schob und zerrte sie zu dem Loch in der Wand, und er schleuderte sie fast in die kalte Nacht hinaus. Hastig kletterte er hinterher und hustete krampfhaft den Rauch hinaus. Er fühlte sich alt und müde, und in seinem Kopf drehte sich alles, doch er ließ sich nicht gehen. Noch nicht. McVey half Chance, seine Schutzbefohlenen wieder auf die Beine zu bringen, und gemeinsam führten sie die halb wahnsinnigen Kinder zwischen sich durch das Loch in der Wand hinaus auf die Straße. Chance zählte die Kinder immer und immer wieder durch, um sicherzugehen, daß er auch ja keines vergessen hatte. Sie weinten und schrien oder schluchzten einfach nur bebend, während Legions nicht enden wollender Schrei durch ihre Köpfe schnitt wie glühender Draht. McVey blieb im Loch stehen und zählte alle durch, während die letzten Rebellen an ihm vorbeihasteten. Einer fehlte. McVey zwang sich so nah an die Öffnung, wie er nur konnte, und starrte in den brennenden Raum dahinter . Der Zwerg Iain Castle kauerte noch immer neben Lois Barrons Leichnam, der zerschmettert unter dem herabgestürzten Deckenbalken lag . Er hielt Lois’ tote Hand in der seinen und schaukelte sanft vor und zurück . McVey rief seinen Namen, und Castle drehte sich geistesabwesend zu ihm um . »Iain! Kommt hier herüber! Laßt Lois liegen! Ihr könnt nichts mehr für sie tun .« McVey brüllte sich heiser, um das Tosen der Flammen und die Motoren der Antigravbarken über ihren Köpfen zu übertönen. »Ich lass’ sie nicht zurück!« brüllte Castle zur Antwort. »Ich lass’ sie nicht allein hier liegen!« »Sie ist tot! Und wenn Ihr nicht macht, daß Ihr da raus-kommt, seid Ihr bald genauso tot!« McVey widerstand dem Impuls, vom Loch zurückzuweichen, obwohl die unvorstellbare Hitze seine Haut auf dem ungeschützten Gesicht und den Händen Blasen werfen ließ. »Iain! Bitte! Ich will Euch nicht auch noch verlieren!« Castle nickte zögernd, rappelte sich auf und taumelte durch den rauchgeschwängerten Schankraum auf das Loch in der Wand zu. Er stapfte geradewegs durch die Flammen, als würde er sie gar nicht bemerken, und stolperte mit brennenden Kleidern auf die Straße hinaus. McVey riß sich den Umhang von den Schultern und hüllte Castle darin ein, um das Feuer zu ersticken. Neben ihm sank Johana Wahn unvermittelt zu Boden, als wäre auf einen Schlag alle Kraft aus ihr gewichen. Ihr Mund erschlaffte, und ihre Augen sahen nichts mehr. Nicht weit von ihr entfernt sangen Investigator Topas und die Typhus-Marie noch immer im Duett, und ihre Stimmen verbanden sich mit ihrem ESP zu einem Schild, der die Rebellen schützte. Ihre Stimmen hoben und senkten sich in einstudierten Harmonien, und ein psionischer Energiesturm knisterte auf ihren Befehl hin durch die Straßen und hielt die Imperialen Streitkräfte auf Abstand. Donald Royal bemerkte plötzlich, daß seine Partnerin fehlte. Sie war nicht mit nach draußen gekommen. Ringsherum rannten Leute durcheinander, doch nirgends war auch nur eine Spur von Madeleine Skye zu sehen. Donald schob sich durch die Menge und packte McVey am Arm. »Wo steckt Madeleine? Ist sie nicht mit Euch nach draußen gekommen?« »Ich habe sie nicht gesehen! Ich hatte meine eigenen Probleme!« McVey befreite sich aus Royals Griff, und Donald blieb allein zurück und starrte auf die brennende Taverne. Er ging auf das Loch in der Mauer zu und hielt wegen der gewaltigen Hitze die Hände schützend vors Gesicht. Der Schankraum war mittlerweile nur noch ein Flammenmeer, und dichter schwarzer Rauch quoll aus der Bresche. Donalds Herz zog sich schmerzvoll zusammen, als ihm klar wurde, daß Madeleine noch immer dort drinnen sein mußte. Immer und immer wieder rief er ihren Namen, doch es kam keine Antwort. Donalds Mund wurde zu einem schmalen Strich. Er wußte, was er zu tun hatte. Er zog seinen Umhang vors Gesicht und schickte sich an, durch das Loch zu stapfen. Nach wenigen Schritten blieb er wieder stehen. Die Hitze war einfach zu stark für ihn. Er versuchte es erneut und nahm all seinen Mut und seine Entschlossenheit zusammen, um sich gegen die Flammen voranzuzwingen; doch sein alter Körper wand sich und zuckte trotz aller Willenskraft vor der schrecklichen Hitze zurück. Er wollte einfach nicht weiter. Flammen leckten an seinem Umhang empor, und der Stoff fing Feuer. Plötzlich wurde er von fremden Händen nach hinten gezerrt, und andere Hände klopften auf seine Schultern und über seinen Leib, um die Flammen zu ersticken. Donald wehrte sich verzweifelt. »Laßt mich los, verdammt! Madeleine ist noch immer da drin!« »Wenn sie wirklich noch da drin ist, dann ist sie inzwischen tot!« erwiderte Gideon Stahl, der Raumhafendirektor, und hielt den alten Mann mit entschlossenem Griff fest. Donald stellte seine Gegenwehr ein. »Wenn sie tot ist, dann will ich auch sterben. Sie war meine Tochter, in jeder erdenkli-chen Hinsicht. Sie ist alles, was mir noch geblieben ist.« »Ihr dürft hier nicht sterben«, widersprach Stahl. »Ihr werdet noch gebraucht. Ihr seid ein Ratsmitglied und ein alter, respektierter Kämpfer, dessen Name noch immer Menschen mobili-siert. Wagt es ja nicht, jetzt einfach aufzugeben, Donald Royal! Ihr habt uns allen jahrelang erzählt, was für ein Held Ihr einst gewesen seid. Jetzt beweist es endlich, verdammt noch mal! Beweist es auf eine Art und Weise, die zählt . Ihr könnt nicht wieder in die Taverne zurück. Niemand kann das.« »Früher hätte ich es gekonnt«, entgegnete Donald Royal. »Als ich noch ein Held war. Als ich jung war.« Und dann zersplitterte eines der Fenster, und eine Gestalt sprang inmitten eines Feuerballs durch die Scheibe. Sie prallte auf das Kopfsteinpflaster der Straße , rollte sich ab, sprang auf und schleuderte ihren brennenden Umhang beiseite . Madeleine Skye klopfte mit schwarzen und verbrannten Händen über ihre schwelende Kleidung. Sie war zwar ein wenig angesengt, aber sie lebte noch und schien weitgehend unverletzt. Donald sprang vor, nahm sie in die Arme, und sie drückte ihn fest an sich. »Ich hab’ in all dem Feuer und dem Rauch ein wenig die Orientierung verloren«, erklärte sie schließlich atemlos. »Ich wußte nicht mehr, wo zur Hölle ich war, ganz allein in diesem Loch. Dann hab’ ich dich rufen hören. Du hast mir damit nach draußen geholfen, Donald. Ich bin dir was schuldig.« »Nein, bist du nicht«, widersprach Royal. »Du bist Familie.« Cyder schwankte betrunken umher und beobachtete, wie ihre Taverne niederbrannte. Noch immer hielt sie eine Flasche von ihrem guten Brandy in der Hand. Der Schwarzdorn war ihr Zuhause und ihre Zuflucht gewesen. Cyders Gesicht blieb kühl und unbeteiligt. Ihre Augen waren trocken, und ihr Mund war ein entschlossener Strich. So leicht gab sich Cyder nicht geschlagen. »Meine wundervolle Taverne!« sagte sie schließlich. »Du solltest mich reich machen. Reich, reich, reich!« Johana Wahn brach endgültig zusammen. Ihre Kräfte hatten sie nun endgültig verlassen. Entschlossenheit und Willenskraft konnten sie nicht mehr weiter tragen, und sie verlor das Be-wußtsein. Der psionische Schild brach zusammen, und die Disruptorstrahlen der Antigravbarken krachten nun ungehindert in die Taverne. Schließlich brach das Gebäude auseinander . Die Wände fielen in sich zusammen, und die Decke stürzte ein. Flammen schossen triumphierend in den nächtlichen Himmel hinauf. Das Lied von Topas und Marie schützte die Rebellen vor dem Feuer und den umherfliegenden Trümmern. Innerhalb von Sekunden war vom Schwarzdorn nur noch ein verkohltes Gerüst übrig, aus dem meterhohe Flammen schlugen. Stahl kniete neben Johana Wahn nieder, tastete nach ihrem Puls und hob eine Augenbraue. »Erstaunlich. Sie weilt noch immer unter den Lebenden. Chance, bringt sie von hier weg. Bringt sie zusammen mit Euren Kindern in die Gildenhalle der Espervereinigung. Dort wird man sich um Euch kümmern. Verrücktes Stück Weib. Das verdammt noch mal tapferste Ding, das ich in meinem ganzen Leben gesehen habe.« Er stand auf und erhob seine Stimme über den allgemeinen Lärm. »In Ordnung, alles verteilt sich! Ihr kennt unseren zweiten Treffpunkt! Wir treffen uns dort in exakt einer Stunde von jetzt an! Keine Ausflüchte! Und jetzt setzt Euch in Bewegung!« Und so gingen alle auf verschiedenen Wegen davon, halfen denen, die Hilfe benötigten und trugen die, die nicht mehr laufen konnten. Sie gingen in kleinen Gruppen zu zweit oder dritt und folgten den Pfaden, die der Rat vor Jahren für den Notfall ausgearbeitet hatte. Sie verschwanden im dunklen Labyrinth der Straßen und Gassen und waren sicher, daß keine Imperialen Truppen ihnen folgen konnten, ohne sich innerhalb weniger Augenblicke hoffnungslos zu verlaufen . Niemand redete von Kapitulation. Sie waren weder gebrochen noch geschlagen. Schließlich hatten sie immer gewußt, daß dies ein Kampf auf Leben und Tod werden würde. Bald schon waren alle verschwunden mit Ausnahme von Investigator Topas und der Typhus-Marie. Noch immer knisterte ihr Lied ringsum und erstickte Legions Schrei. Noch immer hielt das Lied die Truppen auf Distanz und deckte den Rückzug ihrer Freunde und Verbündeten. Sie waren die beiden machtvollsten Sirenen, die das Imperium je hervorgebracht hatte, und sie würden nicht weichen. Und dann plötzlich ließ der Druck nach. Die Antigravbarken schwebten nach getaner Arbeit weiter, und die Truppen zogen sich zurück. Topas und Marie hörten auf zu singen, um ihre Kräfte zu schonen. Die Welt ringsum war noch immer ein Chaos aus Flammen, Schreien und Kampfgetöse; doch dieser spezielle Teil der Welt schien mit einemmal merkwürdig still und ruhig. Als hätte irgendeine neue Macht die Bildfläche betreten. Topas und Marie blickten sich an. Hinter ihnen ertönte ein langsamer Applaus. Die beiden Frauen wirbelten herum und sahen sich einem großen, finsteren Mann in der Uniform eines Investigators gegenüber, der sie gelassen von der anderen Straßenseite her beobachtete. Topas runzelte die Stirn. Sie hätte eigentlich hören sollen, wie er sich näherte, selbst in all diesem Lärm und Chaos. Sie hätte wissen müssen, daß er gekommen war. Sein Schwert und der Disruptor hingen noch immer an seiner Hüfte, doch in einer Hand hielt er das Ende einer stählernen Kette, deren anderes Ende um den Hals eines nackten Mannes lag. Der Mann schien halb verhungert. Er war über und über mit Schmutz bedeckt, und seine nackte Haut zeigte deutliche Spuren von Mißhandlungen. Die linke Hälfte seines Schädels war chirurgisch entfernt worden, und das Gehirn darunter lag offen und war nur durch ein klares Stück Stahlglas geschützt. Zahlreiche Stecker waren überall in dem grauen Gewebe verteilt, die durch silberne Leihingen miteinander verbunden waren. »Ein hübscher Bursche, nicht wahr?« fragte der finstere Mann mit der Kette in der Hand. »Er gehört mir. Gestatten: Investigator Razor, zu Euren Diensten. Man hat mich geschickt, um Euch in die Arme des Imperiums zurückzubringen. Man wird Euch lehren, wieder die richtigen Lieder zu singen. Erspart mir Eure Proteste, meine Damen. Sie würden nichts ändern. Ihr habt in dieser Angelegenheit kein Mitspracherecht mehr. Diese erbärmliche Kreatur an meiner Kette besitzt keinen Namen mehr, lediglich eine Funktion. Es ist ein lebender ESP-Blocker. Eines der besonderen Projekte des Hohen Lords Dram, glaube ich. Diese Kreatur lebt und kann Befehle ausführen, und damit ist sie weitaus stärker und praktischer als die üblichen ESP-Blocker in ihren Schachteln. Dieser Blocker hier ist stark genug, um selbst unter Legions Einfluß zu funktionieren, und er arbeitet unauffällig genug, daß Ihr unsere Annäherung nicht bemerkt habt. Ich fürchte, Ihr werdet feststellen, daß die Macht Eurer Lieder vergangen ist, meine Damen. Also laßt Euer Gezeter und kommt lieber gleich mit. Euer Leben in diesem Elend hier ist zu Ende. Von jetzt an gehört Ihr wieder dem Imperium.« Topas zog das Schwert. »Lieber sterbe ich.« Razor zog ebenfalls blank. »Das können wir arrangieren. Ich erhalte zwar einen Bonus, wenn ich Euch beide lebendig zu-rückbringe; aber Geld hat mir noch nie viel bedeutet. Wenn es sein muß, wird man sich mit einer lebenden Sirene und einer toten Verräterin zufriedengeben. Außerdem wollte ich schon immer wissen, wer von uns beiden besser ist.« Er ließ die Kette fallen, doch der lebende ESP-Blocker blieb, wo er war. Er würde keinen Schritt ohne Befehl gehen. Die Typhus-Marie wich vor Topas zurück und schüttelte den Kopf. »Ich kann dir nicht helfen, Topas«, sagte sie. »Es tut mir leid. Ich werde nie wieder töten. Auf gar keinen Fall.« »Das geht schon in Ordnung«, antwortete Topas und rückte gegen Razor vor. »Halte dich einfach im Hintergrund, damit du nichts von seinem Blut abkriegst.« Und dann schossen Topas und Razor gleichzeitig vor und prallten zusammen. Funken stoben im Nebel, und Rauch wirbelte auf, als ihre Schwerter aufeinanderprallten. Sie finteten und schwangen ihre Waffen mit beinahe übermenschlicher Kraft und Schnelligkeit, zwei Investigatoren auf dem Höhepunkt ihrer Fähigkeiten und ihres Geschicks. Sie umkreisten einander und bedachten sich mit Schlägen, die die Verteidigung jedes anderen Kämpfers einfach beiseite gefegt hätten, während sie nach den Schwachstellen des Gegners suchten. Sie waren stark und schnell und wunderbar, und keiner von beiden wollte auch nur einen Zoll weichen. Doch am Ende war Razor der ältere von beiden, und er wurde nicht von rohem Haß und dem verzweifelten Wunsch nach Rache angetrieben, wie sie durch Topas’ Adern strömten. Langsam und erbarmungslos, Fuß um Fuß, Schritt um Schritt trieb sie ihn zurück, zwang ihn immer weiter in die Defensive, und Razor erkannte mit einemmal, daß er dem Tod gefährlich nahe war. Sein Stolz ließ ihn länger kämpfen, als eigentlich gut gewesen wäre; doch der Schmerz und das Blut der ersten kleineren Wunden, die ihm Topas’ Klinge zugefügt hatte, brachte ihn wieder zu Verstand. Er nutzte seine letzte Energie zu einem Ausfall und bedachte Topas mit einem Hagel von Schlägen, bis sie mit dem Rücken zur Typhus-Marie stand; dann erhob er die Stimme zu einem donnernden Befehl. »Marie! Kode Delta drei! Töte Topas!« Marie begann zu taumeln, als die einprogrammierten Kontrollworte in ihr Unterbewußtsein drangen. Die Espervereinigung hatte sich die größte Mühe gegeben , alle Spuren der Imperialen Konditionierung zu entfernen; doch einige Dinge waren so tief in ihrem Unterbewußtsein vergraben, daß nur ein andere Hirntech sie hätte finden können. Marie schrie auf, als die Programmierung die Oberhand über ihren Willen gewann und ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse rücksichtslos beiseite fegte. Die alte konditionierte Typhus-Marie erwachte wieder. Ihr Gesicht erschlaffte, und plötzlich sah jemand anderes aus ihren Augen. Und noch während Topas staunend erkannte, was da vor sich ging, trat die Typhus-Marie einen Schritt vor und schlug ihr mit geübter Hand ins Genick. Topas ging in die Knie. Sie drohte , das Bewußtsein zu verlieren, und das Schwert fiel ihr aus den unvermittelt kraftlos gewordenen Fingern. Marie beugte sich vor und schlug erneut zu, und Topas lag rettungslos im aufgewühlten Schnee. Razor stand für einen Augenblick einfach nur da , während er nach Luft rang und darauf wartete, daß sein Puls sich wieder beruhigte. Dann steckte er das Schwert weg und untersuchte Topas. Er fühlte ihren Puls und runzelte die Stirn. Dann sah er zu Marie hoch. »Investigator Topas lebt noch. Ich hatte dir befohlen, sie zu töten!« »Ich kann nicht«, antwortete Marie. »Ich kann niemanden mehr töten.« »Du wirst mir gehorchen!« befahl Razor. Er erhob sich, richtete sich zu seiner vollen Größe auf und funkelte sie von oben herab an. »Töte Investigator Topas!« Marie zitterte am ganzen Leib, doch sie machte keinerlei Anstalten, etwas gegen Topas zu unternehmen. Zwei Gegensätze bekämpften sich in ihrem Kopf, und keine der beiden Seiten wollte nachgeben. Schließlich seufzte Razor, nahm die Typhus-Marie bei der Hand und schüttelte den Kopf. »Keine Sorge, Marie. Sie werden dich erneut brechen, und dann wirst du wieder jeden töten, den wir dir zu töten befehlen. Und du wirst dabei sogar lächeln. Was Topas angeht – sagen wir einfach, die Hexe ist im Kampf gegen mich gefallen .« Er legte die Hand ans Schwert… und in diesem Augenblick traf ihn die Stahlkugel aus Katzes Schleuder mitten zwischen die Augen. Razors Kopf flog nach hinten, seine Augen drehten sich nach innen, und er stürzte zuckend in den Schnee. Katze fiel lautlos aus der Dunkelheit über den Dächern und eilte zu Topas. Er rüttelte sie heftig an der Schulter, doch sie reagierte nicht. Katze machte ein unglückliches Gesicht. Es war offensichtlich, daß sie mehr Hilfe benötigte, als er ihr geben konnte. Irgend jemand zupfte ihn am Ärmel, und Katze wirbelte herum. Der nackte Mann kauerte neben ihm. »Bitte«, flüsterte der lebende ESP-Blocker. »Bitte töte mich. Laß mich nicht so weiterleben.« Katze zog das Messer und schob es dem Mann ins Herz. Der nackte Mann zuckte zusammen und bemühte sich, Katze anzulächeln. Blut sprudelte aus seinem Mund. Katze zog das Messer wieder heraus, reinigte es an seinem Hosenbein und steckte es weg. Das Töten fiel ihm von Tag zu Tag leichter. Er wußte nicht, ob ihm gefiel, was dieser… Krieg aus ihm machte. Er beschloß, später darüber nachzudenken, und konzentrierte sich auf das, was vor ihm lag. Razor regte sich bereits wieder , und Katze überlegte, ob er ihn ebenfalls töten sollte. Er entschied sich dagegen; er wollte Razor nicht zu nahe kommen. Der Mann war schließlich ein Investigator. Er blickte von Topas zu Marie und wieder zurück. Er konnte nicht beide retten. Und Topas war zwar genaugenommen nicht sein Freund, aber er vertraute ihr doch ein verdammt gutes Stück mehr als der Typhus-Marie. Sie hatte schon einmal versucht, ihn umzubringen, damals, als sie zur Nebelwelt gekommen war, und nun, da ihre Konditionierung wieder erwacht war, konnte niemand sagen, was sie als nächstes tun würde. Also wandte er ihr fast ohne jedes Bedauern den Rücken zu, wuchtete sich Topas über die Schulter und verschwand rasch in den alles verbergenden Schatten. Razor kam langsam wieder zu sich. Er setzte sich auf und zuckte unwillkürlich zusammen, als er den bösartigen Schmerz zwischen den Augen bemerkte. Er legte eine Hand auf die schmerzende Stirn und zwang sich auf die Beine. Offenbar wurde er alt. Seine Instinkte hätten ihn warnen müssen, daß noch ein dritter Mann im Spiel war. Fast wäre er über den toten ESP-Blocker gestolpert. Razor fluchte kurz. Der Hohe Lord Dram würde bestimmt nicht erfreut sein, daß er den Prototypen gleich beim ersten Einsatz verloren hatte. Außerdem war Topas verschwunden. Razor zuckte die Schultern. Er hatte immer noch die Typhus-Marie. Razor vernahm das Geräusch sich nähernder Schritte und blickte die Straße hinab. Er sah einen Trupp Marineinfanteristen, die sich durch den Nebel näherten. Sie würden ausreichen, um ihn zur Herausforderung zurück zu eskortieren. Und dann würden die Hirntechs des Schiffes sich mit dem Verstand der Typhus-Marie auseinandersetzen und alles aus ihr heraussaugen, was sie wissen mußten. Marie hatte ganz eng mit der Ratsversammlung zusammengearbeitet, und sie wußte ohne Zweifel eine Menge nützlicher Dinge: einschließlich jenes Ortes, an dem sich der verstreute Rat wieder versammeln würde. Razor nahm die Typhus Marie beim Arm und führte sie mit sich davon. Sie begleitete ihn ohne Widerstand, und wenn sich hinter ihren starren Augen so etwas wie Angst regte, dann sah es zumindest niemand. Owen Todtsteltzer, Hazel d’Ark und Jung Jakob Ohnesorg kämpften unvermindert weiter gegen eine unglaubliche und unaufhaltsame Übermacht, und Owen für seinen Teil wurde der ganzen Sache allmählich müde. Er wurde es müde zu kämpfen, ohne daß ein Ende in Sicht war; er wurde des Anblicks von Feinden müde, die fielen, nur um durch neue ersetzt zu werden; er wurde des niemals enden wollenden Schmerzes in Rücken und Armen müde, und er wurde des Gestanks von frisch vergossenem Blut und freiliegenden Eingeweiden müde, während irgendein weiteres armes Schwein durch seine Waffe fiel. Owen hatte an unzähligen Orten in ebenso unzähligen Schlachten gekämpft, und er hatte Verwundungen überlebt, die jeden geringeren Mann getötet hätten. Er war schon so oft der drohenden Niederlage entgangen, und nun fing wieder alles von vorne an. Owen hatte sich nie nach dieser Art von Leben gesehnt. Er hatte nie ein Held und Führer und die Hoffnung der Menschheit sein wollen. Er war ein Gelehrter, kein Kämpfer. Und trotzdem ging er immer wieder dorthin, wo er gebraucht wurde, und immer und immer wieder warf er sich mitten ins dichteste Schlachtgetümmel, weil es außer ihm niemanden gab… Er war der Todtsteltzer, und er würde das Gesicht nicht vor der Schlechtigkeit des Imperiums abwenden, genausowenig wie vom Leid der Unschuldigen. Er würde sich der Übermacht seiner Gegner stellen und wieder einmal im letzten möglichen Augenblick triumphieren… oder vielleicht doch nicht. Gleichwie, er war die ganze Sache verdammt leid. Owen stand Rücken an Rücken mit Hazel und hieb alles nieder, was sich ihm entgegenstellte. Er war auf dem Gipfel seiner im Labyrinth des Wahnsinns gewonnenen Fähigkeiten: Er war schnell, stark und tödlich weit über das menschliche Maß hinaus, und zum ersten Mal fragte er sich, ob das genug war. Die Flut der Angreifer schien kein Ende nehmen zu wollen. Ohnesorg und der Rest der kleinen Rebellenstreitmacht waren im Kampfgetümmel davongespült worden, und Owen und Hazel waren wie schon so oft wieder auf sich allein gestellt. Und so machtvoll sie auch sein mochten, sie waren nur zu zweit, und das Imperium hatte eine Armee. Marineinfanteristen stürmten aus allen Richtungen heran, endlose Wellen kampfbereiter Männer, vorangetrieben von Offizieren, die ihnen sofort in den Rücken schießen würden, sollten sie sich zur Flucht wenden. Die Soldaten warfen sich gegen Owen und Hazel, wie ein Ozean gegen einen starrsinnigen Felsen an der Küste brandet, und Stück für Stück schliff der Feind den Felsen ab. Owen und Hazel brannten langsam aus. Ihre eigene übermenschliche Energie verzehrte sie von innen heraus. Sie waren zu stark und zu schnell, und sie verlangten einfach zu viel von ihren lediglich menschlichen Körpern. Jeder einzelne ihrer Muskeln schmerzte inzwischen, jeder Nerv schrie, und ihre Lungen brannten vor Not nach mehr und mehr Sauerstoff . Der menschliche Körper war einfach nicht dazu geschaffen, derartige Belastungen auszuhalten. Die Veränderung, die das Labyrinth des Wahnsinns an ihnen vorgenommen hatte, ließ sie durchhalten, heilte ihre Wunden und ermöglichte es ihnen, selbst dann noch auf den Beinen zu bleiben und zu kämpfen, als sie von der gewaltigen Übermacht eigentlich schon lange hätten bezwungen sein sollen; doch die Anstrengung brachte sie nach und nach um, und sie wußten es. Sie waren schließlich nicht dumm. Owen und Hazel wären augenblicklich davongelaufen, hätte es nur einen Fluchtweg gegeben oder einen Ort, zu dem sie hätten rennen können. Doch die Soldaten waren überall, und mittlerweile gab es in ganz Nebelhafen keine sichere Zuflucht mehr. Und so kämpften die beiden weiter wie Maschinen. Der Wille zu überleben war das einzige, was sie noch auf den Beinen hielt. Leichen stapelten sich rings um sie herum und engten ihre Bewegungsfreiheit zusehends ein. Owen dachte sehn-süchtig an die Macht, die er gegen das Gildenhaus eingesetzt hatte, um die ehemaligen Spione seines Vaters zu disziplinie-ren. Er hatte das Haus durch reine Willenskraft geräumt und niedergerissen; doch jene Willenskraft wohnte längst nicht mehr in ihm. Er hatte sie in diesem anscheinend endlosen Kampf vollkommen aufgebraucht. Und noch während bewaffnete Männer heranstürmten und über die Leichen der Gefallenen kletterten, um sich auf den Todtsteltzer und seine Begleiterin zu stürzen, führte Major Chevron weitere Verstärkungen heran. Die letzten Verteidiger der Nordseite waren vor seinen Truppen gefallen, und er war auf dem Vormarsch in Richtung Stadtzentrum, als sein Vormarsch unvermittelt ins Stocken geriet und seine Streitkräfte nicht imstande waren, sich einen Weg durch den Flaschenhals zu bahnen, den Owen und Hazel entschlossen verteidigten. Chevron hätte seine Leute zurückbeordern und durch andere Straßen schicken können; doch als er sah, wer und was das Problem verursachte, hatte er sich dagegen entschieden. Inzwischen hatte jeder vom Todtsteltzer gehört, und große Belohnungen zusammen mit noch größeren Privilegien erwarteten den Mann, der den Todtsteltzer in die Knie zwang. Chevron warf seine Männer nach vorn und wartete geduldig, daß seine Hunde des Krieges die Platzhirsche rissen. Wenn Owen und seine Hexe schließlich fallen würden, konnte er vortreten und ihnen den Gnadenstoß versetzen, und das wäre es gewesen. Er würde im Triumph durch die brennenden Straßen Nebelhafens marschieren und den Kopf des Todtsteltzers auf einem Spieß vor sich hertragen, und niemand würde daran zweifeln, wer der wahre Held bei der Eroberung Nebelhafens war. Die schiere Übermacht zwang Hazel und Owen immer weiter zurück, Schritt um Schritt, bis sie schließlich in einer Sackgas-se steckten, die nur einen einzigen Ausgang besaß, und dieser Ausgang war von den angreifenden Marineinfanteristen versperrt . Hohe Steinwände ragten zu drei Seiten in den Nachthimmel empor, und Owen und Hazel hatten keine andere Wahl, als sich zum letzten Gefecht zu stellen und zu sterben. Die Marineinfanteristen rückten weiter vor, trunken von Blut und Tod und vollgepumpt mit Designer-Kampfdrogen, und sie scherten sich einen Dreck um die toten Kameraden, über die sie klettern mußten, um zu ihren Feinden zu gelangen. Owen Todtsteltzer und Hazel d’Ark kämpften jetzt Seite an Seite, mit dem Rücken zur Wand, und ihre Kräfte versagten nach und nach. Sie spürten die Wunden nicht und auch nicht das eigene Blut, mit dem ihre Kleidung durchtränkt war. Chevron beobachtete das Geschehen aus sicherem Abstand, schnitt eine ungeduldige Grimasse und gab dann Kast und Morgan ein Zeichen, die tragbare Disruptorkanone in Stellung zu bringen. Auf diese Weise würde die Angelegenheit zwar ekelhafter, aber dafür um so sicherer enden. Die beiden Marineinfanteristen brachten die Kanone rasch in Position, richteten sie auf den Hinterhof und aktivierten die Dioden, die den Status der Aufwärmsequenzen anzeigten. Kast und Morgan waren von Chevrons Truppen aufgelesen worden, als sie von Norden her in Richtung Zentrum vorrückten. Sie hatten sich freiwillig gemeldet, die tragbare Kanone zu schleppen. Teilweise, weil sie auf diese Weise weiter vom eigentlichen Kampfgeschehen entfernt waren, aber größtenteils, weil sie sich mit einer Disruptorkanone zwischen sich und den überlebenden Rebellenkämpfern doch um einiges sicherer fühlten. Die Einnahme Nebelhafens hätte eigentlich ein Spaziergang werden sollen; doch anscheinend hatten die Rebellen vergessen, einen Blick ins Drehbuch zu werfen. Sie wußten offensichtlich nicht, daß sie längst geschlagen waren. Also hielten Kast und Morgan die Köpfe unten und beschäftigten sich mit der Kanone, machten sie scharf und schußbereit und blickten schließlich fragend zu Chevron. Der Major rief seinen Leuten, sich zurückfallen zu lassen, damit die Kanone freies Schußfeld hatte, doch sie hörten ihn nicht. In ihren Köpfen waren nur Drogen und der Geruch des Sieges. Chevron brüllte erneut, und seine Stimme überschlug sich fast vor Wut, weil seine Männer nicht hören wollten. Dann drehte er sich zu Kast um Morgan um und nickte entschlossen. Die beiden sahen zu ihren Kameraden in der Schußlinie, schauten sich nachdenklich an, und schließlich zuckte Morgan die Schultern. Kast betätigte den Abzug der Kanone. Ein dicker Energiestrahl fuhr brüllend in die Menge und löste alles in seine Bestandteile auf, was ihm im Weg war. Die Marineinfanteristen wurden zur Seite gewirbelt wie brennende Blätter in einem Sturm. Owen und Hazel ahnten mehr, als sie sahen, was dort auf sie zukam, und dann wurden sie bereits von dem heulenden Energiestrahl getroffen. Sie errichteten ihre psionischen Schilde erst im allerletzten Augenblick, doch die Zeit war zu knapp gewesen, und der Schild bremste die tödliche Energie lediglich ab. Die Wucht reichte immer noch, um Hazel von den Beinen zu reißen und durch die steinerne Wand in ihrem Rücken zu schmettern wie eine Kanonenkugel. Owen warf sich zur Seite, und der Energiestrahl streifte ihn nur. Dennoch wurde er gegen die Wand zu seiner Linken geschleudert, so daß das Mauerwerk vom Boden bis zur Spitze riß. Der Strahl erlosch, und Owen sank beinahe ohnmächtig zu Boden. Er hatte das Gefühl, als läge er hier schon eine Ewigkeit. Seine gesamte linke Seite war taub. Langsam rollte er sich auf die andere Seite und bemühte sich, die Beine unter den Körper zu schieben. Sein Kopf hämmerte, und er schmeckte Blut im Mund. Die Welt ringsum schien mit einemmal ungewöhnlich still geworden zu sein. Die Geräusche der Schlacht waren weit entfernt . Es schien fast so, als hielte die Welt den Atem an, um abzuwarten, was als nächstes geschah. Owen erhob sich auf ein Knie, schwankte schwach und zwang sich schließlich auf die Beine, indem er sich an der beschädigten Wand abstützte . Teile toter Soldaten, zerrissen, verbrannt und miteinander verschmolzen, lagen überall auf der Straße verteilt und markierten so den Weg, den der Strahl der Kanone genommen hatte. Zwei Marineinfanteristen und ein Offizier standen hinter der auf Owen gerichteten Kanone, die sich laut summend für den nächsten Schuß auflud. Die drei Soldaten schienen auf etwas hinter Owen zu starren, und er drehte sich langsam um. Er entdeckte das Loch in der Wand, wo Hazel gestanden hatte, und er wußte sofort, was das zu bedeuten hatte. Er legte den Kopf in den Nacken und stieß einen Schrei voller Wut und Schmerz aus, der von den Wänden ringsum widerhallte. Hoch über ihm schwebte eine Kamera und filmte alles. Tobias Shreck und sein Kameramann Flynn waren auf ihren Streif-zügen auf Chevrons Soldaten getroffen, und da der Verband in Richtung Stadtzentrum unterwegs war, hatten sie sich ihm angeschlossen. Unglücklicherweise hatte sich Chevron als genauso unausstehlich erwiesen wie ihr offizieller Sicherheitsoffizier, Leutnant Ffolkes. Aber er ließ sie wenigstens in Frieden arbeiten, solange es gute Aufnahmen vom Vormarsch der Imperialen und ihren Siegen zu filmen gab – wie zum Beispiel die Gefangennahme und anschließende Exekution dieses höchst bekannten Verräters und Gesetzlosen: Owen Todtsteltzer. Tobias konnte sein Glück kaum fassen. Einer der großen Wendepunkte der Geschichte, und er war genau zum richtigen Zeitpunkt an Ort und Stelle. Er hatte den Todtsteltzer im gleichen Augenblick erkannt, als er ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Für viele Menschen im Imperium war der Todtsteltzer zum Inbegriff der Rebellion geworden, und inzwischen er war fast genauso berühmt wie der legendäre Rebell Jakob Ohnesorg. Aus der Nähe betrachtet, sah der Todtsteltzer vollkommen anders aus, als Tobias ihn sich vorgestellt hatte. Er war weder hochgewachsen noch breitschultrig; aber trotzdem hatte er etwas an sich – eine Aura von Größe und Erhabenheit. Irgendwie wußte man augenblicklich, daß man einem Mann gegenüberstand, der das Schicksal des Imperiums in Händen hielt. Und doch stand er nun hier: besiegt , auch wenn das Imperium eine ganze Armee dazu gebraucht hatte. Der letzte Widerhall seines verzweifelten Schreis war noch nicht verklungen, ein schreckliches, furchteinflößendes Geräusch, das Tobias einen Schauder über den Rücken jagte. Es war der Schrei eines mächtigen Tieres, des letzten seiner Art, gejagt und in die Enge getrieben. Und es war ein wilder Schwur, Tod und Verwüstung und Blut, der Schrei eines Mannes, der nichts mehr zu verlieren hatte. Der Todtsteltzer senkte den Kopf und starrte die Soldaten an, die gegen ihn aufmarschiert waren. Tobias stockte der Atem. Der Todtsteltzer, ein einzelner Mann in blutgetränkter Kleidung, war mit einemmal das gefährlichste und furchteinflößendste Wesen, das Tobias je gesehen hatte. Ihm war, als stünde er einem heraufziehenden Sturm im Weg, einer machtvollen, unaufhaltsamen Naturgewalt. Tobias schluckte mühsam, doch er wich nicht zurück. Er war hier, um zu sehen, wie eine Legende ihr Ende fand. Flynn regte sich unruhig neben ihm. »Was ist los mit dir?« erkundigte sich Tobias, ohne den Blick von der Szene abzuwenden. »Erzähl mir nicht, daß wir das alles nicht filmen?« »Jedenfalls bekomme ich nicht alles drauf«, antwortete Flynn leise. »Hier ist irgendeine Art von Energie, die die Systeme meiner Kamera stört. Ich will verdammt sein, wenn ich wüßte, was das ist. Ich habe so etwas noch nie im Leben gesehen; aber es scheint, als sei sie um den Todtsteltzer herum konzentriert.« »Behalt deine Spekulationen für dich, Flynn. Kommt das Bild deutlich durch oder nicht?« »Ja, aber…« »Dann geh auf Liveübertragung. Das gesamte Imperium wird das hier sehen wollen. Verdammt, wir haben vielleicht ein Schwein! Sie werden diese Aufnahmen noch in zwanzig Jahren wiederholen!« »Ich habe ihn«, sagte Flynn. »Der arme Bastard.« Owen Todtsteltzer blickte sich beinahe gelangweilt um. Er war gefangen in einem schmutzigen Hinterhof, umgeben von Toten und Sterbenden, und er stand einer Armee Imperialer Truppen mitsamt einer Disruptorkanone gegenüber. Es gab keinen Ausweg mehr für ihn. Wie es schien, hatten sich Chances Esper am Ende doch nicht getäuscht. Sie hatten ihm prophezeit, daß er allein sterben würde, weit weg von seinen Freunden, und alles, woran er geglaubt und für das er gekämpft hatte, würde verlorengehen. Allerdings hätte Owen hätte nicht geglaubt, daß es schon so bald geschehen würde – oder daß die Prophezeiung auch Hazels Tod mit einschloß. Er hatte es nie geschafft, ihr seine Liebe zu gestehen, und jetzt war es zu spät dafür. Er musterte die Männer vor sich und hob das Schwert. Blut troff von der Klinge. Owen hatte nicht die Absicht zu warten, bis die Kanone mit Nachladen fertig war. Ein letzter Akt des Trotzes, ein letzter Streich mit dem Schwert… Wenigstens würde er kämpfend untergehen, wie es sich für einen Todtsteltzer gehörte. Noch ein paar Sekunden, um halbwegs wieder zu Atem zu kommen und sich über die merkwürdigen Wendungen zu amüsieren, die sein Leben genommen hatte. Das Leben war so schön gewesen; aber nun war Hazel tot; die Sache war verloren, und er konnte nur noch versuchen, in Würde zu sterben. Owen würde so viele von den Bastarden mitnehmen, wie er nur konnte. Er grinste seine Feinde an, ein häßliches, humorloses Totenkopfgrinsen, und das Schwert in seiner Hand schien mit einemmal wieder ganz leicht. Und genau in diesem Augenblick hörte er, wie sich hinter ihm etwas bewegte. Mit hochgerissenem Schwert wirbelte er herum, wütend darüber, daß sie ihm nicht einmal die Höflichkeit erweisen wollten , ihm ins Gesicht zu sehen, wenn sie ihn töteten… und sein Unterkiefer fiel herab, als er sah, wie sich Hazel d’Ark mit schmerzverzerrter Miene durch die Bresche in der rückwärtigen Mauer arbeitete. Sie war über und über mit ihrem eigenen Blut bedeckt und kalkweiß im Gesicht; doch sie hielt immer noch das Schwert in der Hand, und sie besaß noch immer genügend Energie, um Owen spöttisch anzugrinsen. »Was ist los, Todtsteltzer? Du solltest doch inzwischen wissen, daß… ich nicht so leicht totzukriegen bin.« Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Mauer und sank auf die Knie. Sie zitterte am ganzen Leib. Owen kniete neben ihr nieder und nahm ihre Hand in die seine. Hazels Hand war so kalt wie die einer Leiche. Sie hatte aus Mund und Nase geblutet, und noch immer tropfte etwas davon von ihrem Kinn. In seinem Bewußtsein spürte Owen ihre Präsenz, doch sie war schwach und verblaßte wie eine flackernde Kerze in einem dunklen Raum. Hazel lehnte an der Mauer und hatte die Augen halb geschlossen wie ein Läufer nach einem langen Rennen. »Halt meine Hand, Owen. Ich hab’ Angst vor der Dunkelheit.« »Ich halte sie schon, Hazel.« »Dann halt sie hoch, damit ich es sehen kann. Ich spüre nichts mehr.« Owen hielt ihrer beider Hände vor Hazels Gesicht, und sie grinste mühsam. »Sag bloß nicht, daß wir sterben, Owen. Es gibt immer einen Ausweg. Du mußt nur genau genug hinse-hen.« Owen lächelte sie an. Er mußte die Lippen fest zusammen-pressen, damit Hazel nicht sah, wie sie zitterten. »Ich bin offen für jeden Vorschlag«, sagte er. Kast drehte sich zu Major Chevron um. »Disruptorkanone aufgeladen und schußbereit, Sir«, meldete er. »Worauf zur Hölle wartet Ihr dann noch, Idiot! Tötet sie. Tötet sie alle beide!« Morgan hämmerte auf den Knopf, und der beutegierige Energiestrahl fraß sich durch den kleinen Hinterhof. Hazel umklammerte Owens Hand so fest, daß es schmerzte – und in jenem Sekundenbruchteil, bevor der Energiestrahl die beiden traf, vereinigten sich ihre mentalen Kräfte und wurden zu einer gewaltigen Macht. In diesem einen winzigen Augenblick voller Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit band die pure Not die beiden enger zusammen als je zuvor. Die Zeit schien mit einemmal stillzustehen. Energie staute sich in Owen und Hazel auf, Energie aus einer unbekannten Quelle, die sowohl aus ihrem Innern, als auch aus der Umgebung zu kommen schien, entsprungen aus Liebe und Wut und der Weigerung, sich geschlagen zu geben, solange sie noch gebraucht wurden. Die Energie leuchtete strahlend hell auf und schoß aus ihnen hervor, schnell und tödlich und unaufhaltsam. Sie traf auf den Strahl der Disruptorkanone und verschlang ihn auf einen Schlag; doch es war noch nicht zu Ende. Sie raste auf die Kanone zu und brachte sie zur Explosion. Kast und Morgan starben , bevor sie auch nur schreien konnten. Sie wurden in Fetzen gerissen und verwandelten sich in verstreute Blutflecken, die mit Knochensplittern durchsetzt waren. Major Chevron starb als nächster. All seine Träume von Eroberung und Sieg wurden mitsamt seinem Körper zerfetzt. Und der Energiestrahl raste noch immer weiter. Er krachte in die Reihen Imperialer Marineinfanteristen. Sie starben alle. Hunderte von Männern hoben hilflos ihre Schwerter und Pistolen gegen eine unbesiegbare und unaufhaltsame Macht. Ihre Körper explodierten, und Blut und Knochen flogen durch die Luft. Schließlich war es vorbei, und eine lähmende Stille breitete sich in dem dunklen Hinterhof aus. Tobias Shreck und sein Kameramann Flynn schauten sich an. Ringsum herrschte Tod und Chaos, und die beiden hatten nicht einmal einen Kratzer abbekommen. Selbst Flynns Kamera war unversehrt. Sie schwebte über dem Hof und war auf Owen und Hazel gerichtet , die noch immer mit dem Rücken an der Mauer nebeneinander saßen. Flynn schüttelte langsam den Kopf. »Wieso sind wir nicht tot?« »Der Teufel soll mich holen , wenn ich das wüßte!»fluchte Tobias. »Entweder sehen sie uns nicht als Feinde an, oder wir sind einfach nicht wichtig genug, um sich mit uns zu beschäftigen.« Owen und Hazel saßen beisammen und blickten in die Runde. Als sie erkannten, daß die Gefahr fürs erste vorüber war, beruhigte sich ihr Atem allmählich wieder. Die Macht, die sie für kurze Zeit besessen hatten, war wieder verschwunden, und außer einer unendlichen Erschöpfung war nichts von ihr zu-rückgeblieben. Owen und Hazel hatten alles gegeben, was sie hatten geben können, und noch ein wenig mehr. Jetzt fühlten sich beide unendlich erschöpft. Owens Blick fiel auf Tobias und Flynn, die regungslos und allein inmitten eines Meers aus Eingeweiden und Blut standen. Er erhob sich unter Schmerzen und winkte die beiden zu sich heran. Flynn schien der Aufforderung nicht nachkommen zu wollen, doch Tobias zerrte ihn bis vor den Todtsteltzer. Aus der Nähe betrachtet, sah der Todtsteltzer weniger wie eine Legende aus, sondern eher wie ein ganz normaler Mensch. Genaugenommen sah er aus wie ein Mann, der eine übergroße Last zu tragen hatte, und der sich nur auf all das hier eingelas-sen hatte, weil ihm niemand die Arbeit hatte abnehmen wollen. Der Todtsteltzer deutete auf die Kamera, die über den beiden Nachrichtenleuten schwebte. »Bringt das Ding zu uns herunter. Ich habe etwas zu sagen.« Flynn rief die Kamera über das Komm-Implantat herbei und richtete sie auf Owen. Der Todtsteltzer nickte Tobias und Flynn zu, dann drehte er sich zum Objektiv. »Ich grüße Euch, Löwenstein, falls Ihr die Übertragung seht. Ich bin der rechtmäßige Lord Todtsteltzer, und ich komme live aus der Rebellenstadt Nebelhafen zu Euch. Ich dachte, ich sollte Euch wissen lassen, daß Eure Invasion den Bach runtergegangen ist. Sie hatte von Anfang an keine Chance. Eure Bande von berufsmäßigen Mördern hat den freien Männern und Frauen der Nebelwelt nichts entgegenzusetzen. Sobald wir hier mit Aufräumen fertig sind und das Durcheinander beseitigt haben, das Ihr angerichtet habt, werden wir kommen und Euch einen Besuch abstatten. Merkt Euch mein Gesicht, Löwenstein. Schon bald werdet Ihr erleben, wie Eure Streitkräfte aufgerieben werden und Euer Reich zerfällt und wie ich in Euren Thronsaal komme und Euch die Krone vom Kopf schlage und Euch so lange in Euren häßlichen Hintern trete, bis Ihr den Eisernen Thron freiwillig räumt. Ihr wart ein unglücklicher Fehler der Natur – eigentlich hättet Ihr niemals existieren dürfen. Ein Irrtum der Geschichte, was auch immer. Ich werde diesen Fehler bei der ersten sich bietenden Gelegenheit korri-gieren, meine Liebe. Wir sehen uns noch, Durchlauchtigste.« Er sah zu Flynn. »Das war alles. Ihr könnt jetzt gehen.« »Ich nehme nicht an, daß Ihr uns ein Exklusivinterview zu geben gedenkt?« erkundigte sich Tobias Shreck. Owen sah ihm in die Augen, und der Shreck setzte sich hastig in Bewegung. »Nein, ich habe es nicht wirklich geglaubt. Komm, Flynn, es wird Zeit, daß wir von hier verschwinden. Schließlich wollen wir die Geduld unserer Gastgeber nicht über Gebühr strapazieren.« Sie drehten sich um und rannten los. Die Kamera hüpfte hinter ihnen her. Owen grinste müde. Woher sollten die beiden auch wissen, daß er lediglich den starken Mann markiert und daß er dazu seine allerletzten Kräfte verbraucht hatte? Er wandte sich unsicher um und kehrte zur Mauer zurück, wo er sich erneut neben Hazel zu Boden sinken ließ. Sie hatte die Augen geschlossen, und ihr Atem ging extrem flach; doch sie spürte Owen neben sich und schlug die Augen halb auf. »Ja. Genau wie du gesagt hast, mein Hengst. Ich hab’ ja schon immer gewußt, daß dein Talent als Redner sich eines Tages für uns auszahlen würde.« »Wie fühlst du dich?« fragte Owen besorgt. »Müde. Aber zufrieden . Was zur Hölle haben wir da schon wieder heraufbeschworen? Eine Macht, die das Labyrinth uns geschenkt hat?« »Ich glaube eher nicht. Es fühlte sich mehr nach etwas an, das schon die ganze Zeit über in uns war. Das Labyrinth des Wahnsinns hat uns nur den Zugang dazu verschafft. Vielleicht lernt eines Tages die gesamte Menschheit, so etwas zu tun.« »Ja«, erwiderte Hazel. »Vielleicht. Aber ich bezweifle, daß wir dann noch da sind. Dieser Energiestoß hat uns völlig aus-gepumpt. Ich bin am Ende.« »Ich ebenfalls«, sagte Owen. »Schätze, unsere Zeit ist abgelaufen. Was jetzt kommt, kann nur noch schlimmer werden. Wenigstens hatten wir die Gelegenheit, der Eisernen Hexe einen Schrecken einzujagen. Hazel, da ist etwas… Etwas, das ich dir schon lange habe sagen wollen…« »Ich muß dir auch etwas sagen«, unterbrach sie ihn. »Meine Blutsucht… ist verschwunden. Ich kann es spüren. Dieser Energiestoß hat sie einfach aus meinem Kreislauf gespült. Ich bin am Ende also doch noch trocken geworden.« »Das freut mich zu hören. Hazel, was ich dir sagen wollte …« Und dann gingen seine Worte im Dröhnen von Antigravmo-toren über ihren Köpfen unter. Owen blickte nach oben und zwang sich wieder auf die Beine. Sechs Antigravbarken schwebten über dem kleinen Hinterhof, und ihre Disruptorkanonen waren auf ihn und Hazel gerichtet. Owen umklammerte den Griff seines Schwerts; doch er wußte, daß es diesmal keine Rettung mehr geben würde. Selbst ausgeruht und im Vollbesitz seiner Kräfte hätte er gegen die schweren Disruptorkanonen von sechs Barken wahrscheinlich keine Chance gehabt. Ein trotziges Grinsen erschien auf seinem Gesicht. »Wißt ihr Leute eigentlich, was das Sprichwort ›Mit Kanonen auf Spatzen schießen‹ bedeutet?« »Der Kampf ist vorbei, Todtsteltzer«, sagte eine laut-sprecherverstärkte Stimme von oben. »Allerdings müßt Ihr nicht hier sterben. Imperatorin Löwenstein hat uns ermächtigt, Euch ein Angebot zu unterbreiten. Ergebt Euch, und man wird Euch am Leben lassen. Unsere Wissenschaftler könnten sehr viel lernen, indem sie Euch studieren.« »Sag ihnen, sie sollen sich zur Hölle scheren, Todtsteltzer«, murmelte Hazel hinter ihm. »Meine Mutter hat mich nicht großgezogen, damit ich als Laborratte ende. Wahrscheinlich werden sie uns vivisezieren, sobald sie die Gelegenheit dazu haben. Oder ihre verdammten Hirntechs beschäftigen sich mit dem, was in unseren Schädeln steckt und sorgen dafür, daß wir die Seiten wechseln. Wir dürfen das nicht zulassen, Owen.« »Unsere Sensoren zeigen an, daß Ihr ernsthaft verwundet seid, und Eure Begleiterin liegt im Sterben«, sagte die verstärk-te Stimme. »Wir können Euch beide retten. An Bord der Herausforderung befindet sich eine Regenerationsmaschine. Eure Begleiterin muß nicht sterben, Todtsteltzer. Es liegt allein an Euch.« »Owen…«, begann Hazel. »Es tut mir leid, Hazel«, entgegnete er. »Ich bin noch nicht soweit, uns beide sterben zu lassen.« Er blickte zu den Antigravbarken hinauf und warf sein Schwert in den Dreck. »Ich ergebe mich. Kommt und holt uns. Aber beeilt Euch. Ich glaube nicht, daß Hazel d’Ark noch viel Zeit bleibt.« »Du verdammter Dummkopf!« stöhnte Hazel. Er blickte sie an und lächelte bedauernd. »Das bin ich doch immer, wenn es um dich geht.« Hazel versuchte, ihre Pistole zu ziehen; doch ihre Finger wollten ihr nicht gehorchen. Owen setzte sich wieder neben sie und lauschte andächtig, wie sie ihn verfluchte, bis die Imperialen Truppen eintrafen und beide in Gewahrsam nahmen. In der Nähe des von außer Kontrolle geratenen Bränden taghell erleuchteten Zentrums von Nebelhafen leisteten Jung Jakob Ohnesorg und John Silver zusammen mit ihrer kleinen Rebellenstreitmacht den vorrückenden Imperialen erbitterten Widerstand. Der Vormarsch geriet ins Stocken. Die Luft war heiß und rauchgeschwängert, und das Prasseln der zahllosen Feuer erstickte fast den Lärm der Antigravbarken und das triumphierende Geheul Legions. Die Straßen waren von einem Ende zum anderen voller Kämpfer, und wer hier keinen Platz mehr fand, kämpfte in den Hinterhöfen und Sack-gassen. Der niedergetrampelte Schnee verwandelte sich in blutgetränkten Matsch, und überall lagen reglose Körper. Die Projektilwaffen des Todtsteltzers zeigten im Nahkampf ihren Wert, doch selbst mit ihrer Hilfe schwankte das Schlachtenglück hin und her, und keine der beiden Seiten war imstande, einen Vorteil zu erringen. Stahl krachte gegen Stahl, und die Kämpfer stießen in dem Gedränge beinahe mit den Nasen zusammen. Für Strategie oder Taktik oder auch nur für gute Beinarbeit war kein Platz, sondern nur für die harte, monotone Arbeit des Schlachtens und Zerlegens von Menschen. Jung Jakob Ohnesorg war mitten im dichtesten Getümmel. Sein mächtiger Körper ragte aus der Menge, und er schien unbesiegbar. Seine lauten, triumphierenden Kampfrufe erhoben sich trotzig über den allgemeinen Lärm, und jeder, der an seiner Seite kämpfte, fühlte sich in seiner Nähe doppelt so stark. Ohnesorgs Schwert hob und senkte sich wie eine Maschine, und er mähte sich einen Weg durch die feindlichen Streitkräfte in Richtung ihrer Befehlshaber und Offiziere . Er ließ sich weder aufhalten, noch gelang es irgend jemandem, ihn auch nur zu verlangsamen . Sein Mut und seine grimmige Entschlossenheit inspirierten die Rebellen zu immer größeren Anstrengungen, und sie stürzten sich ins Gewühl, als wären ihre Leben nichts wert . Mitten im dichtesten Getümmel war auch John Silver zu finden. Er war über und über mit Blut besudelt, sowohl aus seinen eigenen Wunden, als auch aus denen seiner Feinde. Trotzdem lag das Schwert noch sicher in seiner Hand, und er warf sich unermüdlich nach vorn. John Silver spürte längst keinen Schmerz und keine Erschöpfung mehr. Er wurde nur noch von seiner Weigerung getrieben, sich fallen zu lassen und zu sterben. Und dann, ganz langsam, Schritt um Schritt, zwangen die Rebellen die Imperialen Kräfte zum Rückzug und verweigerten ihnen den Zugang zum Stadtzentrum. Die Invasoren standen einer unbesiegbaren, unnachgiebigen Streitmacht gegenüber und zerbrachen daran. Schlachtrufe von Hunderten verschiedener Welten und aus Hunderten von Kulturen erhoben sich über den Kampflärm und vereinten sich zu einem markerschütternden Gebrüll der Wut, des Mutes und der Entschlossenheit, und die Angreifer hatten dem nichts entgegenzusetzen. Einige der Marineinfanteristen wandten sich zur Flucht und riskierten, von ihren eigenen Vorgesetzten erschossen zu werden, die verzweifelt durch ihre Kommlinks nach Verstärkungen riefen oder um Erlaubnis zum Rückzug bettelten. Doch der Befehl lautete, die Stellung zu halten. Die Antigravbarken waren auf dem Weg. Alle. Der taubstumme Dieb namens Katze saß auf einem auskühlenden Leichnam und starrte auf das, was von der Schwarzdorn-Taverne noch übrig war. Die Flammen erstarben allmählich, und durch den Rauch und Nebel war die geschwärzte, schwelende Ruine nur undeutlich zu erkennen. Sonst war nichts mehr übrig von dem einzigen Zuhause, das Katze jemals gekannt hatte. Von Cyder nirgendwo eine Spur. Bald würde Katze aufstehen und die Ruine durchsuchen, um zu sehen, ob eine der Leichen die ihre war; aber er hatte noch nicht den Mut dafür gefunden. Er glaubte nicht, daß er ein Leben ohne Cyder ertragen könnte. Sie war seine Liebe, seine einzige und große Liebe, und sie allein hatte seinem Leben Sinn verliehen. Sie konnte nicht dort drinnen sein. Von allen Leuten besaß allein sie genug Verstand, aus dem Schwarzdorn zu verschwinden, solange noch Zeit dazu war. Doch der Gedanke, eine verkohlte Leiche umzudrehen und Cyders Ringe an den schwarzen Fingern zu entdecken, war für Katze im Augenblick noch unerträglich. Und so saß er hier und starrte auf das, was vom Schwarzdorn übriggeblieben war, sah, wie es schwelte und rauchte, und wartete darauf, daß Investigator Topas wieder zu Bewußtsein kam. Katze hatte ihren bewußtlosen Körper über die Dächer getragen, weil er wußte, daß man ihn dort weder aufhalten noch herausfordern würde. Niemand kannte die Dächer so gut wie er. Das Kampfgetöse erreichte ihn nicht, und Legions Geheul machte ihm ebenfalls nichts aus, denn er konnte weder das ei-ne, noch das andere hören. Statt dessen konzentrierte er sich auf die vor ihm liegende Aufgabe und schaffte den Investigator zu einem sicheren Ort. Für Katze war der einzige sichere Ort stets die SchwarzdornTaverne gewesen. Den ganzen Weg hierher, während das Gewicht von Topas auf seinen Schultern mit jedem Schritt schwerer geworden war, hatte er in dem Gedanken Trost gefunden, daß Cyder schon wissen würde, was wegen Topas und wegen Maries Entführung zu unternehmen war. Doch der Schwarzdorn war nicht mehr, Cyder war nirgends zu sehen, und Katze hatte nicht die leiseste Ahnung, wie es weitergehen sollte . Er spürte, wie sich Topas an seiner Seite rührte und drehte sich zu ihr um . Er half ihr, sich auf die Leiche zu setzen – das war immer noch besser als im Dreck und Schneematsch auf der Straße zu hocken. Eine Weile hielt sich Topas den Kopf, und ihr Mund bewegte sich, ohne daß Katze einen Sinn erkennen konnte. Katze konnte von den Lippenlesen, doch Geräusche wie Ächzen oder Stöhnen waren ihm fremd. Nach einer Weile drehte sie sich zu ihm um und schaute ihn an. Ihre Augen waren dunkel und entschlossen. Sie fragte ihn, wo sie war, und er erklärte es ihr in seiner Zeichensprache. Sie verstand ihn nicht. Er deutete auf das Straßenschild, und da nickte sie. Er wollte ihr erzählen, daß er Marie zurückgelassen hatte; doch er wußte nicht, wie er das anstellen sollte. Topas mühte sich auf die Beine. Sie schwankte nur für ein paar Augenblicke und nur ganz schwach. Dann nickte sie Katze ihren Dank zu und stapfte durch den Nebel davon. Katze blickte ihr hinterher. Der Leichnam unter ihm wurde langsam kalt und ungemütlich; also stand er ebenfalls auf. Cyder war nicht tot. In dieser Hinsicht hatte er keinerlei Zweifel. Also sollte er sich besser aufmachen und nach ihr suchen. Und wenn er während seiner Suche den angreifenden Streitkräften hin und wieder einen Schlag versetzen konnte, um so besser. Katze drehte sich um und kletterte die Wand hinauf . Bald war er wieder auf den Dächern unterwegs. An Bord der Herausforderung hatte man Hazel und Owen in Ketten gelegt. Sie waren in den Raum gebracht worden, in dem Legion in seinem Tank schwamm. Investigator Razor war ebenfalls dort, zusammen mit der Typhus-Marie, um sicherzustellen, daß Owen und Hazel sich anständig benahmen. Kapitän Bartek war gekommen , um die Gesichter der beiden Gefangenen zu sehen, wenn sie erst erkannten, daß sie gegen ein Wesen wie Legion nicht den Hauch einer Chance hatten. Der große gläserne Tank, übersät mit Kabeln, Drähten und fremdartiger , unvertrauter Technik, war noch immer der einzige Gegenstand in der Halle. Legion schwebte friedlich in der dicken gelblichen Flüssigkeit – eine gewaltige fleischiggraue Masse ohne feste Gestalt oder erkennbaren Sinn. Die Gehirne Tausender toter Esper, mit Hilfe von fremdrassiger Technologie ineinander verwoben und kontrolliert – oder besser gesagt: beherrscht – von dem Kollektivbewußtsein, das die Würmer des Wurmwächters bildeten. Es stank entsetzlich in der Halle, und Owen verzog angewidert das Gesicht, während er aus zusammengekniffenen Augen auf das Ding im Tank spähte. Er wollte sich ein paar Schritte nähern, um einen genaueren Blick auf das Wesen zu werfen, doch Razor packte ihn am Arm und zog ihn zurück. Owen drohte, unter dem Gewicht seiner Ketten zu stürzen und stieß heftige Verwünschungen gegen Razor aus. Der Investigator schlug ihm leidenschaftslos in die Nieren, und Owen wäre um ein Haar erneut in die Knie gegangen; doch irgendwie gelang es ihm, auf den Beinen zu bleiben. Das Imperium hatte sein Versprechen gehalten. Man hatte Hazel in die Regenerationsmaschine gelegt, und sie war gesund und mit verheilten Wunden wieder herausgestiegen. Aber die Maschine hatte nichts an Hazels fast ätherischer Erschöpfung ändern können, die sie mit dem Todtsteltzer teilte, seit der Ausbruch mentaler Energie ihrer beider Leben gerettet hatte. Physisch waren sie so schwach und hilflos wie neugeborene Katzen. Das hatte Bartek jedoch nicht daran hindern können, ihnen sämtliche Waffen wegzunehmen und sie in so viele Ketten legen zu lassen, bis sie kaum noch stehen konnten. Sie hatten sogar Owens goldene Hadenmann-Hand entfernen wollen; doch sie hatten keinen Weg gefunden, wie das zu bewerkstelligen war. Sie hatten darüber gesprochen, ihm die Hand einfach abzuschneiden – nur für den Fall –, doch Bartek war begierig gewesen, den illustren Gefangenen seine Geheimwaffe zu zeigen. Außerdem konnten sie dem Todtsteltzer später immer noch die Hand abschneiden. Die Typhus-Marie trug keine Ketten. Die Kontrollworte in ihrem Gehirn hielten sie sicherer fest, als es jede Fessel vermocht hätte. Sie hatte noch kein Dutzend Worte von sich gegeben, seit sie an Bord der Herausforderung gekommen war. Sowohl Owen als auch Hazel hatten versucht, ein Gespräch mit ihr zu beginnen; doch Marie reagierte nur auf Imperiale Befehle und auf sonst gar nichts. Sie starrte mit leerem Blick auf das Ding im Tank und schien weder von seiner Erscheinung noch von dem widerlichen Gestank beeindruckt . »Also schön«, begann Kapitän Bartek und wandte sich an Owen und Hazel. »Was haltet Ihr von unserer wunderbaren Schöpfung?« Owen rümpfte die Nase. »Sieht aus wie eins der eher enttäu-schenden Erzeugnisse aus Gottes Enddarm. Riecht auch genauso, wenn Ihr mich fragt. Habt Ihr noch nie etwas von Luftreini-gern gehört?« Razor schlug zu, und Owen wäre fast gestürzt. Hazel trat den Investigator gegen das Knie – mehr erlaubten ihre Ketten einfach nicht. Razor schlug ihr ins Gesicht, so daß Hazel aus Mund und Nase blutete. Sie lehnte sich gegen Owen, und Owen lehnte sich gegen sie, und gemeinsam funkelten sie den Investigator machtlos an. Er lächelte nicht. Das war auch gar nicht nötig. Marie beobachtete die Szene ungerührt und mit leerem Gesichtsausdruck. Die Kontrollworte summten unablässig in ihrem Unterbewußtsein wie ein Schwarm wütender Bie-nen, und trotzdem war ein Teil von ihr noch in der Lage, klare Gedanken zu fassen. Sie behielt es für sich, versteckte es so tief in ihrem Innern, daß nicht einmal ein anderer Esper es erkennen konnte. Sie hatte sich selbst wie aus großer Entfernung dabei beobachtet, wie sie Investigator Topas niedergeschlagen hatte. Sie war hilflos in ihrem eigenen Körper gefangen gewesen. Sie ging davon aus, daß Topas tot war, sonst hätte man sie ebenfalls hergeschafft. Marie, die geschworen hatte, nie wieder einen Menschen zu töten, hatte ihre beste Freundin umgebracht. Das Entsetzen und die Gewissensqual bei dem Gedanken daran drohten sie zu überwältigen; doch auch das behielt sie für sich. Bartek packte ihren Arm und führte sie zum Tank. Sie folgte ihm ohne jeden Widerstand. »Hallo, Legion«, sagte Bartek. »Ich habe jemanden mitgebracht, den du sicher kennenlernen möchtest. Das hier ist die Typhus-Marie. Sie ist eine Sirene, und obendrein einer der mächtigsten Esper im gesamten Imperium.« Willkommen, Marie, sagte Legion mit seinen vielen Stimmen. Owen grunzte erschrocken, als der widernatürliche Chor in seinem Kopf ertönte. Das Geräusch war schwer und erstik-kend wie der Gestank von faulendem Obst. Hazel schüttelte den Kopf, als könne sie so die Stimmen vertreiben. Marie zeigte überhaupt keine Reaktion. Legion sprach mit vielen Stimmen zugleich, eine entsetzliche Harmonie aus männlichen und weiblichen Kehlen, aus jungen und alten, lebenden und toten. Und im Hintergrund hörten sie alle ganz, ganz schwach die Schreie von Tausenden von hilflosen Geistern, die dazu verdammt waren, in einer von Menschenhand erschaffenen, lebenden Hölle dahinzuvegetieren. I c h bin ja so froh, daß du kommen konntest, Marie, sagte Legion. Sie werden dein Gehirn aus deinem Schädel reißen und es zu einem Teil von mir machen. All deine Macht und deine Lieder werden mir gehören. Ich werde dafür sorgen, daß sie unten in den Straßen von Nebelhafen gehört werden, glaube mir. Schon jetzt jammern und zittern sie beim Klang meiner Stimme, aber mit deinen Liedern werde ich durch ihre Köpfe trampeln und mit meinen schmutzigen Fingern in ihren Seelen rühren. Sie werden alle nach meiner Melodie tanzen, oder sie werden einen schrecklichen Tod sterben. »Nun?« erkundigte sich Bartek nach einer Weile. »Sprich mit Legion, Marie .« »Wer ist das, den ich da höre?« fragte Marie, »Die Gehirne oder die Würmer darin?« Das wirst du bald selbst herausfinden. »Warum verletzt und tötest du deine Esperkameraden? Sie sind von deiner Art.« Weil es Spaß macht. Und weil ich es kann. Ich bin nicht wie sie. Oder wie du. So etwas wie mich hat es noch nie gegeben. Es gibt keine Grenzen für mein Wachstum, und es gibt keine Grenzen für meine Macht. Nenn mich Legion. Ich bin groß, und ich bin viele. Eines Tages werden alle Esper ein Teil von mir sein. Dieser Tank wird mich nicht für immer festhalten. Und die Menschheit sollte auf der Hut sein vor dem Tag, an dem ich mich befreie. Alles Leben sollte auf der Hut sein. Die Typhus-Marie sah ihre Zukunft vor ihrem geistigen Auge und die Zukunft der Menschheit. Wut und Verzweiflung koch-ten in ihr hoch. Die Konditionierung des Imperiums wurde beiseite gefegt, als hätte sie niemals existiert . Neue Macht erstrahlte in ihr, eine wilde, potente Macht, und mit einemmal war in der Halle etwas Wunderbares, hell und strahlend und vollkommen, und Marie war sein Fokus. Die Mater Mundi, Unsere Mutter Aller Seelen. Maries Gesicht war ein einziger Ausdruck der Verzückung, und ihre Augen leuchteten wie die Sonne. Investigator Razor erkannte augenblicklich die drohende Gefahr. Er riß das Schwert mit unglaublicher Geschwindigkeit hoch; doch eine unsichtbare Macht packte ihn und schleuderte ihn lässig zur Seite wie ein lästiges Insekt. Legion jagte in seinem Tank vor und zurück. Die gewaltige Macht, die sich in der Halle aufbaute, versetzte es in Angst und Schrecken. Die Mater Mundi streckte ihre geistigen Fühler aus, und alle überlebenden Esper Nebelhafens wurden auf einen Schlag zum Werkzeug ihres Willens . In diesem Augenblick kamen Tausende von Be-wußtseinen zusammen und waren eins, geführt von der Mater Mundi, fokussiert durch die Typhus-Marie. Marie richtete ihren gnadenlosen Blick auf Legion, und Legion fühlte nichts als Furcht. Psionische Energie knisterte in der Luft und raste durch sämtliche Korridore und Abteile der Herausforderung. Maschinen überluden und explodierten; Arbeitsstationen versagten ihren Dienst und schalteten sich ab, und im gesamten Schiff sanken Besatzungsmitglieder auf die Knie und packten sich an die Köpfe, als unvertraute Gedanken durch ihre Bewußtseine rasten. Ein heilloses Chaos brach aus. Kapitän Bartek in Legions Halle erkannte, was geschah, und schrie auf. Unten auf dem Planeten und in den Straßen Nebelhafens kam alles zum Erliegen. Psionische Energie hämmerte durch die Luft wie die Rache Gottes, und die angreifenden Truppen brachen bewußtlos zusammen und fielen an Ort und Stelle zu Boden. Ihr Geist schaltete sich lieber ab, als ins Angesicht der Mater Mundi zu blicken. Die Esper Nebelhafens standen wie versteinert da und sahen nichts von alledem. Sie waren ganz in dem kollektiven Wesen aufgegangen, das die Mater Mundi beschworen hatte. Ihre gesamte Macht und ihr gesamter Wille waren in einer einzigen Person fokussiert, die sich gegen das Ding namens Legion aufbäumte. Doch all die tausend Rebelle-nesper der Nebelwelt reichten nicht. Legion und die Mater Mundi standen sich gegenüber, ein jeder konzentriert auf die Zerstörung des anderen, und weder Legion noch die Mater Mundi waren imstande, die Oberhand zu gewinnen. Sie waren sich ebenbürtig. Patt. Owen und Hazel waren in dem Zusammenprall unheimlicher Energien völlig in Vergessenheit geraten. Plötzlich spürten sie, wie in ihnen eine neue Vitalität erwachte. Irgend etwas in ihnen zog Kraft aus den psionischen Energiestürmen, die durch das Schiff rasten. Sie fühlten sich mit einem Mal wieder stark und gesund. Ihre Ketten rissen und fielen von ihnen ab. Owen drehte sich nach Razor um; doch der Investigator hatte die Halle bereits verlassen. Hazel schaute zu Kapitän Bartek. Der Kapitän der Herausforderung stand hilflos da, still und regungslos wie eine Statue . Irgend etwas wollte nicht, daß er sich in die Dinge einmisch-te . Owens und Hazels Bewußtseine griffen nach draußen. Sie wurden von irgendeiner Art Instinkt auf eine andere Ebene der Realität gezogen, und dort wurden sie Zeugen des Kampfes zwischen der Mater Mundi und Legion. Zwei gewaltige Armeen aus massiertem Willen standen sich gegenüber, verwikkelt in eine Schlacht, die nur einer überleben konnte. Legion war deutlich kleiner als die Mater Mundi; doch es be-saß keine Schranken oder körperlichen Fesseln, während die Mater Mundi sich in der Typhus-Marie manifestierte, die einen heiligen Eid geschworen hatte, niemals wieder zu töten. Owen und Hazel konzentrierten sich. Im Hintergrund, von den beiden kämpfenden Wesenheiten unbemerkt, vernahmen sie Stimmen, die nach ihrer Freiheit schrien: Tausende toter Esper, aus denen Legions ›Körper‹ bestand. Sie wurden von den Würmern des Wurmwächters kontrolliert. Owen trat näher heran. Ihr müßt eure Fesseln abstreifen, sagte er mit einer Stimme, die keine Stimme war. Das Imperium mißbraucht euch, um eure eigenen Artgenossen zu töten. Das wissen wir, antwortete eine große Ansammlung flüsternder Stimmen. Aber es gibt nichts, das wir dagegen unternehmen könnten. Die Würmer sind in unseren Gehirnen. Legions Technologie gibt ihnen Macht über uns. Befreit uns! Bitte! Das können wir nicht, antwortete Hazel. Ihr seid bereits tot. Sie haben eure Gehirne herausgeschnitten und eure toten Körper weggeworfen. Ihr seid nur noch Geister, gefangen in einer Maschine. Schreie, verzweifeltes Heulen und das Weinen Tausender verlorener Seelen, die keine Augen mehr hatten, mit denen sie weinen konnten. Was können wir tun? Was können wir nur tun? Es gibt nur noch eins, was ihr tun könnt, antwortete Owen Todtsteltzer. Ihr müßt wirklich sterben. Legion wird euch niemals gehen lassen, und ihr werdet niemals Frieden finden. Ihr habt seine Worte selbst gehört. Legion will alles Leben vernichten oder es zu einem Bestandteil von sich selbst machen. Denkt an die Millionen gefangener Seelen, die in Legions Griff gefangen sein werden und die dann das gleiche wie ihr ertragen müssen! Wir wollen aber nicht sterben! Niemand will sterben, sagte Hazel. Aber manchmal bleibt einem einfach keine andere Wahl, wenn irgend etwas von dem, wofür man gelebt hat, noch eine Bedeutung haben soll. Nichts kann euch aufhalten, sagte Owen. Aber wollt ihr wirklich bis in alle Ewigkeit als Legions Sklaven leben? Hört endlich auf, unbedingt weiterleben zu wollen. Sterbt endlich. Und nehmt Legion mit euch. Und vielleicht erinnerten sich die vielen tausend Esper-Gehirne in diesem Augenblick an das, was sie einst gewesen waren, an die Dinge, an die sie geglaubt und für die sie ge-kämpft hatten – an jene Dinge, für die sie jederzeit ihr Leben gegeben hätten, wäre es notwendig gewesen. Vielleicht waren sie ihrer mentalen Versklavung auch einfach nur müde und wollten nun endlich ihre Ruhe. Und vielleicht waren sie in genau diesem Augenblick wieder die Männer und Frauen von einst, fest entschlossen, das Richtige zu hm. Was auch immer der Grund sein mochte, die Gehirne, aus denen Legion bestand, hörten auf, sich an ihr Leben zu klammern und starben. Auf der mentalen Ebene strömte ein grelles Licht aus Legions astralem Leib, als Tausende von Männern und Frauen ausbrachen und sich endlich ihre Freiheit nahmen, indem sie starben. Und hinter ihnen blieb nichts weiter zurück als eine dunkle, wabernde Masse, gebrochen und hilflos: die zitternden, sich windenden Würmer des Wurmwächters. Die Mater Mundi zertrat sie, wie man Würmer zertrat: mit dem Absatz. Und dann war nichts mehr. Investigator Razor beobachtete von der Brücke aus, wie Legion starb. Jedes der zahlreichen Aufnahmegeräte zeigte, wie die Lebensfunktionen der Kreatur eine nach der anderen auf Null fielen. Die graue Masse in ihrem Tank hatte einfach aufgehört zu leben, ohne daß ein äußerer Grund dafür erkennbar geworden wäre. Der Todtsteltzer. Verdammt soll er sein! Razor wandte sich den restlichen Konsolen zu. Die Hälfte der Instrumente arbeitete nicht, und ständig erreichten ihn neue Hiobs-botschaften. Der größte Teil der Brückenbesatzung war in Katatonie gefallen, und der Rest stand kurz davor. Razor packte den Ersten Offizier an der Schulter und schüttelte ihn, bis der Mann halbwegs wieder zu sich gekommen war. »Da Kapitän Bartek nicht anwesend ist, übernehme ich hiermit die Befehlsgewalt über dieses Schiff«, sagte Razor langsam und deutlich. »Ich will jeden bewaffneten Mann unten in der Halle, wo Legions Tank steht. Tötet alles, was Ihr dort findet.« »Das haben wir bereits versucht, Sir«, antwortete der Erste Offizier. »Niemand kommt auch nur in die Nähe der Halle. Irgend etwas… hindert uns daran.« Razor dachte fieberhaft nach. Ringsherum regten sich nach und nach die Leute wieder und erwachten aus ihrer Besin-nungslosigkeit. Nach Legions Tod konnte es nicht mehr lange dauern, bis die überlebenden Esper der Nebelwelt herausfanden, daß ihre Kräfte zurückgekehrt waren. Und dann würden sie alle für das bezahlen, was sie angerichtet hatten. Die Esper würden die Bodentruppen auslöschen und ihre Aufmerksamkeit anschließend auf die Herausforderung richten. »Fahrt sämtliche Systeme hoch«, befahl Razor tonlos. »Bereitet Euch darauf vor, den Planeten zu sengen.« »Sir?« fragte der Erste Offizier ungläubig nach. »Unsere Leute sind noch immer dort unten, Sir.« »Nach Legions Tod haben sie kaum noch eine Chance. Sie sind schon so gut wie tot. Unsere Befehle lauten, die Nebelwelt für das Imperium einzunehmen. Wenn ich ein riesiges Toten-feuer anzünden muß, um diesem Befehl nachzukommen, dann werde ich das tun. Fahrt sämtliche Disruptorkanonen hoch. Auf meinen Befehl fangt Ihr an zu feuern. Und hört nicht auf damit, solange auf diesem elenden Planeten auch nur noch ein lebender Fleck zu sehen ist.« Das war der Augenblick, in dem an Bord sämtliche Lichter ausgingen. Einige lange Sekunden lang herrschte tiefste Finsternis, bis die Notaggregate ans Netz gegangen waren und die Brücke in dunkelrotes Licht tauchten. Der Erste Offizier überprüfte seine Instrumente . Als er sich wieder Razor zuwandte, stand in seinen Augen nackte Angst . »Sämtliche Hauptsysteme sind ausgefallen, Sir. Praktisch alles bis auf die Lebenserhaltungssysteme. Irgendeine… unbekannte Macht hat alle Maschinen einfach abgeschaltet. Wir sind hilflos, Sir.« Investigator Razor ließ sich schwer in den Kommandantensitz fallen und überlegte, wie er diese Geschichte nur seiner Imperatorin erklären sollte. Alles war ruhig und still in der Halle, in der Legions Tank stand. Sowohl Legion als auch die Mater Mundi waren verschwunden. Legions grauer fleischiger Körper war reglos an den Boden des Tanks gesunken. Owen und Hazel standen beisammen und gewöhnten sich allmählich daran, wieder in ihren eigenen Köpfen zu sein. Und die Typhus-Marie, die ebenfalls endlich wieder sie selbst war, beugte sich zu Kapitän Bartek hinunter, der auf dem Boden saß und mit leeren Augen ins Nichts starrte. »Keine Sorge«, sagte Owen zu ihr. »Ich habe bereits nachge-sehen. Da drin ist niemand mehr zu Hause. Was auch immer er gesehen haben mag, sein Verstand konnte nicht damit umgehen.« »Verdammt!« fluchte Hazel. »Ich hatte mich schon so darauf gefreut, den Mistkerl umzubringen.« »Das Töten ist vorüber«, sagte die Typhus-Marie und richtete sich wieder auf. »Laßt uns nach Hause gehen.« »Klingt wie ein verdammt guter Vorschlag«, stimmte ihr Owen zu. »Wollen doch mal sehen, ob wir nicht eine Rettungskapsel requirieren können. Ich bezweifle, daß irgend jemand an Bord in der Stimmung ist, uns diese Bitte abzuschla-gen.« Sie verließen die Halle. Kapitän Bartek saß reglos auf dem Boden und starrte auf den toten grauen Klumpen in dem gläsernen Tank. Hinterher: Die Überlebenden von Nebelhafen feierten. Die wenigen Imperialen Marineinfanteristen, die nicht schnell genug zu ihren Pinassen fliehen konnten, wurden gejagt und getötet. Niemand war in der Stimmung, Gefangene zu machen. Die Toten wurden irgendwo aufgestapelt. Man würde sich später darum kümmern. Rettungsmannschaften wurden gebildet, die in den eingestürzten Häusern nach Überlebenden suchten. Nebelhafen hatte es wieder einmal geschafft. Sicher, sie mußten eine ganze Menge Häuser neu aufbauen oder restaurieren; doch der größte Teil der Stadt war unbeschädigt geblieben. Es war schon verdammt schwer, einen Nebelweltler umzubringen. Weil jeder, der die ersten Tage in Nebelhafen überlebt hatte, mit so ziemlich allem fertig wurde, was der Rest des Universums gegen ihn aufbieten konnte. Die verbliebenen Ratsmitglieder hatten sich in der Gildenhalle eingefunden und koordinierten die Rettungsarbeiten. Außerdem sorgten sie dafür, daß der psionische Schild an Ort und Stelle blieb, bis die Herausforderung aus dem Sonnensy-stem verschwunden war. Niemand verspürte Lust, noch ein Risiko einzugehen. Und die anderen in der Halle: sie feierten, als gäbe es kein Morgen mehr. Wahrscheinlich auch deswegen, weil die meisten von ihnen nicht damit gerechnet hatten, es könne noch ein Morgen für sie geben. Espergeschnatter erfüllte die große Halle, und es war beinahe laut genug, um auch von Nicht-Espern gehört zu werden. Ein paar Prahlhänse tanzten an der Decke, doch keiner der Nicht-Esper fühlte sich verletzt oder bedroht. Für den Augenblick wenigstens hatte der Sieg alle geeint. Jung Jakob Ohnesorg war der Mann der Stunde. Jeder wollte neben ihm stehen oder in seiner Nähe sein, wollte ihm auf den Rücken klopfen oder ihm den nächsten Drink spendieren. Er war nur allzu gern bereit, über seinen Anteil bei der Verteidigung der Stadt zu berichten , und seine Zuhörer ließen keine Bescheidenheit zu. Jeder hatte die eine oder andere Geschichte oder Anekdote über die Heldentaten und wagemutigen Kabi-nett-Stückchen des legendären Rebellen beizutragen. Owen Todtsteltzer und Hazel d’Ark saßen in einer Ecke der Halle und tranken einen halbwegs schmackhaften echten Wein, während sie mißtrauisch die Partyhäppchen musterten, die man auf einem improvisierten Büfett zusammengetragen hatte. Ihre ungeahnten Fähigkeiten waren zusammen mit der Mater Mundi wieder verschwunden, und sie fühlten sich im großen und ganzen wie völlig normale Menschen. Ihre Wunden waren verheilt, und die bleierne Erschöpfung war ebenfalls gewichen; aber sie hatten das Gefühl, als brauchten sie beide noch eine ganze Weile, um mit den übernatürlichen Wundern zurechtzu-kommen, die sie vollbracht hatten . Ihre Heldentaten bei den Straßenkämpfen waren nicht unbeobachtet geblieben, und einige Leute machten sich tatsächlich die Mühe, die beiden zu suchen und ihnen zu danken und zu gratulieren, wenn auch insgesamt betrachtet die meisten es vorzogen, den überlebensgroßen Jakob Ohnesorg zu ihrem Idol zu erheben. An Ohnesorgs Seite stand Donald Royal. Der alte Bursche schien zu neuer Kraft und neuem Leben erwacht zu sein. Die Schlacht hatte ihn revitalisiert, und er fühlte sich wieder wie in jungen Jahren. Damals war er ein großer Held gewesen, und außerdem hatte er sich nie wirklich mit einem friedlichen Leben anfreunden können. Jetzt fühlte er sich endlich wieder wie er selbst, volltrunken bis zum Rand, und er war fast hundertprozentig sicher, daß er am nächsten Tag bitter würde dafür zahlen müssen… aber darüber würde er nachdenken, wenn es soweit war. Die Leute brüllten seinen Namen und den von Jakob Ohnesorg, und sie prosteten ihm zu wie in den alten Zeiten. Ohnesorg legte den Arm um Donalds Schulter, und für den Rest des Abends waren die beiden unzertrennlich. Madeleine Skye hielt sich in Donalds Nähe und redete sich unaufhörlich ein, daß nicht nur ihre Eifersucht daran schuld war, daß sie dem legendären professionellen Rebellen noch immer nicht so recht über den Weg traute. An der Theke auf der anderen Seite machten Cyder und Katze sich ernsthaft über die Champagnerbestände her. Sie tranken stets nur das Beste – insbesondere wenn jemand anderes die Rechnung unterschrieb. Und je weiter sich der Pegel in der dritten Flasche dem Boden näherte, desto melancho-lischer wurde Cyder wegen des Verlustes ihrer schönen Taverne. »Wir bauen einen neuen Schwarzdorn«, versprach sie Katze mit einem schwachen Lallen in der Stimme . »Für eine Weile können wir vom Geld der Versicherung leben, und ich werde ein paar sichere Dinger für dich organisieren. Nach dieser Geschichte muß es jede Menge leichte Beute geben. Die Wachen sind mit anderen Dingen beschäftigt. Die alte Mannschaft reitet wieder. Ach, was zur Hölle. Vielleicht sind wir beide auch gar nicht für ein ehrbares Leben geschaffen.« John Silver kam herbei, um Hazel und Owen seinen Dank auszusprechen. Er war in so viele Verbände gewickelt, daß er sich kaum bewegen konnte, doch er machte einen fröhlichen Eindruck. Owen beschloß, diplomatisch zu sein, und entschuldigte sich für einen Augenblick, so daß Hazel und Silver sich ungestört unterhalten konnten. Nachdem er gegangen war, standen sich die beiden eine Weile schweigend gegenüber und starrten sich nur fest in die Augen. »Ich nehme nicht an, daß ich dich überreden kann, in Nebelhafen zu bleiben?« begann Silver schließlich die Unterhaltung. »Nein. Ich gehe dahin, wo die Rebellion mich braucht, und hier braucht sie mich nicht mehr.« »Brauchst du vielleicht ein wenig Wampyrblut für unterwegs? Ich könnte dir…« »Nein danke. Ich brauche es nicht mehr.« »Das dachte ich mir. Du scheinst mich auch nicht mehr zu brauchen.« »Es hat gutgetan, dich wiederzusehen, John; aber du bist meine Vergangenheit. Ich habe mich seit damals verändert, und du kannst mir nun nicht mehr folgen. Was wirst du als nächstes tun?« »Ich helfe beim Wiederaufbau des Raumhafens – wenn er denn wieder aufzubauen ist.« »Der Untergrund von Golgatha wird euch alles an Technik liefern, was ihr braucht.« Sie nippte an ihrem Wein als Zeichen, daß sie das Thema zu wechseln gedachte. »Du weißt nicht zufällig, was aus Chance und seinen Kindern geworden ist, oder?« »Oh, denen geht’s soweit ganz gut«, antwortete Silver leichthin. »Kerle wie er fallen immer auf die Füße. Die Espervereinigung kümmert sich um die Kinder. Sie befinden sich irgendwo hier im Haus. Ich schätze, die Verantwortlichen fühlen sich ein wenig schuldig, daß sie die Kinder jemandem wie Chance überlassen haben, und wenn auch nur aus dem Grund, daß sie nicht an die dunkle Seite des ESP erinnert werden wollten.« Er sah sich um. »Owen kommt zurück. Ich verschwinde jetzt besser, glaube ich. Paß auf dich auf, Hazel.« »Du auch, John. Nach allem, was ich von dir gehört habe, hast du da draußen in den Straßen gekämpft wie ein richtiger Held.« Silver grinste. »Ja. Ich weiß überhaupt nicht, was in mich gefahren war.« Er verbeugte sich vor ihr, winkte und verschwand im Gewühl der Feiernden. Nicht weit entfernt unterhielten sich Investigator Topas und die Typhus-Marie leise miteinander. Keine von beiden machte sich viel aus Parties – schon aus Prinzip nicht –, doch nach dem Tod so vieler Menschen fühlten beide eine Sehnsucht nach dem Trost in der Menge . Als die Tausenden von Esperbewußtseinen in Legion gestorben waren, hatten sie sich durch die Verbindung zur Mater Mundi hindurch gegenseitig gesehen, und die kalte Hand des Todes war über ihre Seelen gestrichen . Also waren sie zur Halle der Espervereinigung gekommen, um sich ein wenig an der Gegenwart von Freunden zu wärmen. »Ich weiß trotzdem immer noch nicht, ob ich das Richtige getan habe«, sagte die Typhus-Marie und starrte in ihr Wein-glas. »Selbstverständlich hast du das«, entgegnete Topas brüsk. »Jeder, der an Bord der Herausforderung starb, mußte einfach sterben – gleichgültig, ob es die unschuldigen Esperbewußtseine waren, die Legion in seinem Innern gefangenhielt, oder die Imperialen Schlächter, die gekommen waren, um uns alle umzubringen. Mich persönlich interessiert die Mater Mundi viel mehr. Wie fühlt man sich, wenn sie sich in einem manifestiert?« Marie runzelte die Stirn. »Ich weiß es nicht so genau. Ich fange schon an, es zu vergessen. Ich glaube, mein Verstand beschützt mich vor Dingen, die zu begreifen ich noch nicht bereit bin. Ich fühlte mich… irgendwie größer, realer . Als wäre mein ganzes bisheriges Leben nichts als ein Traum gewesen, aus dem ich für kurze Zeit erwacht bin . Ein Teil von mir sehnt sich danach zurück, und der Rest hat allein bei dem Gedanken daran Angst… Außerdem macht mir diese Geschichte mit den Kontrollworten Sorgen. Der Kontakt mit der Weltenmutter löschte die Kontrollworte aus, die Razor aktiviert hatte, aber wer weiß schon, was die Imperialen Hirntechs sonst noch alles tief in mir verborgen haben?« »Mach dir darüber Sorgen, wenn es soweit ist«, erwiderte Topas. »So wie wir dem Imperium heute hier auf der Nebelwelt in den Hintern getreten haben, können wir meiner Meinung nach ruhig davon ausgehen, daß wir eine ganze Weile Ruhe vor Imperialen Agenten haben werden. Außerdem bist du um einiges stärker geworden. Als sich die Mater Mundi in dir manifestierte, hat sie dich zugleich verändert. Deine Macht ist gewachsen. Ich kann es spüren. Wenn ich dich mit meinem ESP ansehe, dann ist es, als würde ich direkt in die Sonne starren.« »Ich weiß«, antwortete die Typhus-Marie. »Noch etwas, weswegen ich mir Sorgen mache.« »Zur Hölle! Du wärst wahrscheinlich nicht glücklich , wenn es nichts gäbe , worüber du dich sorgen könntest, wie? Es liegt in deiner Natur!« »Stimmt«, gestand Marie. Johana Wahn beobachtete aus sicherer Entfernung, wie die beiden Sirenen sich unterhielten; aber sie spürte eher so etwas wie Taubheit, anstatt Eifersucht. Sie kam noch immer nicht über die Tatsache hinweg, daß die Weltenmutter diesmal durch eine andere Person in Erscheinung getreten war. Johana hatte in den Straßen Nebelhafens um Hilfe gerufen, und die Mater Mundi hatte ihre Schreie ignoriert. Allmählich begann Johana Wahn zu begreifen, daß sie einen neuen Sinn in ihrem Leben finden mußte und daß sie nicht die Erwählte war, für die sie sich die ganze Zeit über gehalten hatte. Ratsmitglied McVey saß neben Gideon Stahl, der schmollend vor der Punschbowle hockte. Der ehemalige Direktor des Raumhafens ärgerte sich mächtig über die Tatsache, daß es keinen Raumhafen mehr gab, dessen Direktor er sein konnte. »Nun kommt schon, Stahl«, sagte McVey. »Nachdem Magnus und Barron tot sind und Castle vor Trauer um den Verstand zu kommen droht, und nachdem Donald Royal jedem, der es hören will oder nicht, erzählt, daß sein Schicksal ihn dazu auserkoren hat, an der Seite Jakob Ohnesorgs zu kämpfen, wohin auch immer er von hier aus gehen mag, bleiben nur noch wir beide als Ratsherren von Nebelhafen übrig. Und wir haben einen ganzen Rattenschwanz von Arbeit vor uns, wenn wir diese Stadt wieder auf Vordermann bringen wollen. Ich kann es jedenfalls nicht allein, Gideon.« Stahl seufzte traurig. »Vermutlich habt Ihr recht. Aber ich war gerne Raumhafendirektor. Es war der einzige Beruf, in dem ich jemals gut gewesen bin.« »Es war der einzige Beruf, in dem Ihr einen ganzen Haufen Geld beiseite schaffen konntet.« Stahl blickte McVey scharf an. »Das habt Ihr gewußt?« »Selbstverständlich.« »Und warum habt Ihr dann nie etwas gesagt?« »Weil Ihr ein guter Raumhafendirektor wart. Es war eine harte Arbeit, und niemand anderes im Rat hat sie gewollt. Also, wie steht es? Werdet Ihr mir beim Wiederaufbau Nebelhafens helfen oder nicht? Denkt nur an all die Arbeitsverträge und die vielen Bauarbeiten , die Ihr leiten würdet. Ein Mann , der seine fünf Sinne beisammen hat, könnte ein Vermögen dabei verdienen.« »Schon gut, Ihr habt mich überredet«, erwiderte Stahl. »Wann fangen wir an?« Wieder zurück auf die andere Seite des Raums war Neeson der Bankier gekommen, um Owen seine Aufwartung zu machen. Neeson sah müde und mitgenommen aus; doch er wirkte überraschend zufrieden. »Ihr seht aus, als wärt Ihr im Krieg gewesen«, sagte Owen. »Da habt Ihr verdammt recht«, erwiderte Neeson. »So viel Spaß hatte ich schon seit Jahren nicht mehr. Ihr müßt wissen, daß ich als Söldner angefangen habe. Euer Vater führte mich in die Welt des Geschäftemachens ein. Er meinte, jemand mit meinen Instinkten würde es als Bankier weit bringen. Wenn er gewußt hätte, wie recht er damit behalten sollte! Aber egal. Ich bin gekommen, um Euch zu sagen, daß meine Geschäftspartner und ich uns entschlossen haben, das alte Todtsteltzer-Informationsnetz wieder aufleben zu lassen.« »Woher dieser plötzliche Sinneswandel?« spottete Hazel. »Nun, zum einen wegen dem Edelmann an Eurer Seite«, antwortete Neeson. »Und zum anderen, weil jeder auf der Nebelwelt jetzt zur großen Rebellion gehört, ob er will oder nicht. Und letztlich, weil wir alle uns heute seit vielen Jahren zum ersten Mal wieder lebendig fühlen. Geschäfte schön und gut, aber es ist nichts besonders Aufregendes, wißt Ihr? Was für ein armseliges Leben, wenn das einzige Vergnügen im Kündigen von Hypotheken besteht! Nein, als Rebell hat man da viel mehr Spaß. Wir sehen uns später, Todtsteltzer.« Er nickte Owen und Hazel steif zu und wanderte davon auf der Suche nach Wein, Essen und einem weiteren Opfer, vor dem er mit seiner plötzlichen Gesinnungswandlung prahlen konnte. Kein Mensch ist begeisterungsfähiger als ein Konver-tierter im mittleren Alter. Neeson wurde von Tobias Shreck und seinem Kameramann Flynn ersetzt. Ihre Presseausweise hatten die beiden vor dem allgemeinen Gemetzel an den angreifenden Streitkräften bewahrt; doch jetzt waren sie auf der Nebelwelt gestrandet, bis sie sich eine Passage erbetteln oder durch Bestechung erschleichen konnten. »Hallo auch«, sagte Tobias. »Macht es Euch etwas aus, wenn wir uns zu Euch gesellen? Wir haben auch unsere eigene Hasche mitgebracht.« »Da spricht endlich einmal ein zivilisierter Mann«, sagte Owen. »Wenn ich Euch richtig verstanden habe, seid Ihr daran interessiert, uns verzweifelte Rebellen zu begleiten, wenn wir von hier aufbrechen?« »Da habt Ihr uns verdammt richtig verstanden«, antwortete Tobias. »Wo Ihr seid, sind die guten Storys. Außerdem haben wir schon alle anderen gefragt, und jeder hat nein gesagt.« »Also schön, meinetwegen«, sagte Owen. »Wenn Ihr nach einer guten Story sucht: Einige meiner Bundesgenossen planen eine Expedition zu einem Planeten namens Hakeldamach. Ich werde Euch mit ihnen in Kontakt bringen. Warum interviewt Ihr in der Zwischenzeit nicht Jakob Ohnesorg? Er ist der offizielle Held der Stunde.« Tobias und Flynn wechselten einen Blick; dann beugte sich Tobias vor und senkte die Stimme. »Seid Ihr sicher, daß der dort Jakob Ohnesorg ist?« Owen und Hazel verzogen keine Miene, doch auch sie beugten sich vor und senkten die Stimmen. »Wieso denkt Ihr, daß er es nicht sein könnte?« erkundigte sich Hazel. »Weil wir gesehen haben, wie er eine Rebellion auf Technos III angeführt hat, und das ist erst ein paar Wochen her«, antwortete Tobias. »Und er sah… ganz anders aus. Viel älter.« »Ein ganzes Stück älter«, stimmte Flynn zu. »Ich habe alles aufgenommen, und meine Kamera lügt nie.« »Viele Leute haben im Laufe der letzten Jahre von sich behauptet, Jakob Ohnesorg zu sein« entgegnete Owen vorsichtig. »Sagen wir einfach, dieser hier wirkt überzeugender als die meisten anderen.« Tobias blickte über die Schulter zu Ohnesorg, der noch immer von Gratulanten und hingerissenen Anhängern umgeben war. »Macht es Euch denn gar nichts aus, daß er den ganzen Ruhm für sich allein beansprucht? Ihr habt alle beide wenigstens genausoviel zum Sieg beigetragen wie er. Flynn hat das meiste davon auf Band.« Hazel zuckte die Schultern. »Nichts geht mir mehr auf die Nerven, als wenn ich von Autogrammjägern verfolgt werde. Soll er doch der Held sein, wenn es ihm soviel Spaß macht. Ich für meinen Teil habe mich nie sonderlich wohl in dieser Rolle gefühlt .« »Aufgepaßt«, sagte Owen. »Sieht so aus, als will unser Held eine Rede halten.« Die Ansprache, die daraufhin folgte, war eine Sensation. Kurz, knapp, präzise, inspiriert und witzig . Ein professioneller Redenschreiber hätte es nicht besser machen können. Jung Jakob Ohnesorg rührte das Blut der Volksseele auf, indem er ihre Taten bei der Verteidigung der Stadt pries, und er versprach ihnen für die Zukunft weitere Schlachten gegen die Ungerechtigkeiten des Imperiums. »Vorwärts nach Golgatha!« rief er, und alles jubelte und applaudierte. Hazel und Owen schlossen sich dem Applaus an, um nicht kleingeistig zu erscheinen; doch keiner von beiden war von Ohnesorgs Worten sonderlich beeindruckt. Für den Todtsteltzer und die ehemalige Piratin war er einfach zu gut, um echt zu sein. Doch alles in allem betrachtet, spürte Owen in sich einen wachsenden Optimismus. Zum ersten Mal schien der Lauf der Dinge seinen Vorstellungen zu folgen. Die Imperiale Invasion war abgewehrt; Nebelhafen war gerettet; seine eigene Mission war ganz offensichtlich ein gewaltiger Erfolg, und er hatte seinem eigenen Tod ins Gesicht gesehen und am Ende doch überlebt. Nicht, daß er jemals ernsthaft an die Prophezeiung der Kinder geglaubt hätte, doch es war ein gutes Gefühl, die Angelegenheit hinter sich zu wissen. Es war, als hätte er einen neuen Vertrag mit dem Leben abgeschlossen, und das Leben gefiel ihm im Augenblick ausgesprochen gut. Owen und Hazel standen beieinander und beobachteten die Menge, die sich heiser jubelte, und insgeheim waren beide hoch zufrieden. KAPITEL ZWEI VERLORENE UNSCHULD Sie nannten sie Shannons Welt, weil sie sein Traum und seine Vision war. Er hatte sich bis an den Rand des Bankrotts ver-schuldet, um diesen Traum zu verwirklichen, doch das Resultat war ein Vergnügungsplanet, der seinesgleichen suchte. Shannons Welt war reserviert für die Superreichen, für die mit den extrem guten Beziehungen und die Aristokraten, und für sonst niemanden. Die Koordinaten waren geheim und nur den oberen Zehntausend bekannt. Der neugierige Rest, der sich ohne Einladung durch Bestechung oder Erpressung den Weg zur Oberfläche hinab bahnte, wurde von den modernsten Sicherheitssystemen und Waffen in Empfang genommen und ins Jenseits befördert. Auf Shannons Welt gingen Träume in Erfüllung. Die gesamte Welt war lebendig. Ein Vergnügungsplanet, wie es keinen zweiten gab, ein Planet, wo selbst die erschöpftesten Seelen Ruhe, Trost und Zerstreuung finden konnten. Und dann geschah das Unvorstellbare. Hinterher sagte sich Shannons Welt vom Imperium los und unterbrach jede Form von Kontakt. Besucher wurden vernichtet, während sie noch im Orbit kreisten, ganz gleich, wer oder was sie waren. Die Imperatorin entsandte ein Schiff. Es kehrte niemals zurück. Sie schickte einen Imperialen Sternenkreuzer, dem es gelang, eine volle Brigade Marineinfanteristen auf der Oberfläche abzusetzen. Irgend etwas brachte sie um. Also versuchte es die Eiserne Hexe damit, eine ganze Reihe verdeckt arbeitender Agenten einzuschmuggeln. Nur ein einziger Mann kehrte von jener Welt wieder zurück, die einst der berühmteste Vergnügungsplanet im Imperium gewesen war. Er war von oben bis unten mit dem Blut anderer besudelt und vollkommen wahnsinnig geworden. Sein Verstand hatte nicht ausgehalten, was seine Augen gesehen hatten. Er starb kurz nach seiner Rückkehr, weil er nicht mehr weiterleben wollte. Und bevor er starb, taufte er den Planeten noch um auf den Namen Hakeldamach: Der Blutacker des Judas. Die Imperatorin Löwenstein stellte die Welt unter Quarantäne und stationierte einen Sternenkreuzer in einem entfernten Orbit, um sicherzustellen, daß, was auch immer dort unten lau-em mochte, nicht herauskommen konnte… und wandte sich anschließend anderen Dingen zu. Dank dem Verräter Owen Todtsteltzer und seiner wachsenden Anhängerschar hatte sie weitaus drängendere Probleme als einen Planeten, der plötzlich verrückt spielte. Und so hätten die Dinge auch bleiben können, wäre nicht ein gewisser Vincent Harker, das wichtigste strategische und militärische Gehirn des Imperiums, auf dem Planeten abgestürzt, der einst Shannons Welt geheißen hatte. In Harkers Kopf steckten Informationen, die sowohl für das Imperium als auch für die Rebellion lebenswichtig waren. Und so entsandte die Eiserne Hexe eine Kompanie ihrer Elitetruppen, um Harker zu retten. Die Truppen meldeten sich nie zurück. Danach waren die Rebellen am Zug. Eine kleine Schar von Rebellen beobachtete angestrengt die Instrumentenkonsolen an Bord des hastig umgerüsteten Frachtschiffs Wilde Rose, und jeder von ihnen hoffte inbrünstig, daß das neue Tarnsystem der Hadenmänner all das hielt, was es versprach. Die planetaren Verteidigungseinrichtungen waren stark genug, um jeden Energieschirm zum Zusammenbruch zu bringen, der von schwächeren Generatoren als denen an Bord Imperialer Sternenkreuzer erzeugt wurde. Und das Frachtschiff besaß wirklich nur rudimentäre Schilde. Entweder gelang es den Rebellen mit Hilfe der Technologie der Hadenmänner, die Satelliten im Orbit an der Nase herumzuführen, oder sie würden nicht einmal lange genug leben, um zu bemerken, daß sie tot waren. Der Tarnmechanismus war ein klobiger Kasten, der hinter ihnen provisorisch am Boden festgenietet worden war. Er bestand aus lauter scharfen Ecken und Kanten und unerwarteten Winkeln, und ständig leuchteten merkwürdige Lichter auf und erloschen wieder, ohne daß ein Grund dafür erkennbar gewesen wäre. Die Rebellen zogen es vor, den Apparat nicht näher in Augenschein zu nehmen. Allein die äußeren Umrisse taten ihnen in den Augen weh. Also starrten sie entschlossen auf die Instrumente und den großen Hauptschirm, auf dem der Planet langsam größer wurde: eine kalte, blaue und ziemlich unheimliche Kugel. An Bord der Wilden Rose befand sich Finlay Feldglöck, der Aristokrat, der zu den Rebellen übergelaufen war, der kühne Kämpfer mit der kalten Seele, der einst der Maskierte Gladiator gewesen war, der unbesiegte Champion der berühmten Arena von Golgatha. An Finlays Seite stand seine große Liebe, Evangeline Shreck, Tochter aus hohem Hause, die viele Jahre lang mit dem Geheimnis hatte leben müssen, daß sie in Wirklichkeit ein Nichts war nur ein Klon, geschaffen, um die von ihrem eigenen Vater sexuell mißbrauchte und am Ende ermordete Tochter zu ersetzen. Auf der anderen Seite von Finlay stand Julian Skye, der abtrünnige Esper, den Finlay aus den Verhörzellen tief unter der Erde Golgathas befreit hatte. Skye war einst einer der mächtigsten Esper des Imperiums gewesen. Er war ein mutiger Rebell; doch die Zeit in den blutbesudelten Händen der Imperialen Hirntechs hatte ihn gebrochen und verletzt – vielleicht sogar so schwer, daß er sich nie wieder davon erholen würde. Und schließlich war da noch Giles Todtsteltzer, der legendäre Erste Todtsteltzer, der mehr als neunhundert Jahre in Stasis verbracht und nach seinem Erwachen ein Imperium vorgefunden hatte, das er kaum noch wiedererkannt hatte. Allesamt waren sie Rebellen, Repräsentanten der Untergrundbewegung von Golgatha, und ihr Auftrag lautete, Vincent Harker zu finden, bevor das Imperium ihn zu fassen bekam. Außerdem an Bord: Tobias Shreck und sein Kameramann Flynn. Die beiden waren unterwegs zu einer Story, die dunkler und fremdartiger war als alles, was die beiden je erlebt hatten. Finlay stand vor der Instrumentenkonsole und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Warten war noch nie seine Stärke gewesen. Sein einziges Gebet hatte schon immer gelautet: Lieber Gott, bitte schick mich in Schlachten und Gefahren bis zum Hals. Einst war Finlay ein Meister der Mode gewesen, ein berüchtigter Stutzer und Dandy; doch das war nur eine Persona gewesen, die ihm dabei geholfen hatte, sein zweites Ich als Maskierter Gladiator und gefeierte Liebling der Arena zu tarnen. Jetzt war Finlay auf der Flucht vor genau der Gesellschaft, in der er sich früher so ungeniert bewegt hatte, nichts weiter als ein Rebell unter vielen und entbehrlich genug, um hinausgeschickt zu werden auf eine Mission, die viele als glatten Selbstmord betrachteten. Finlay war sechsundzwanzig Jahre alt, aber er wirkte zehn Jahre älter. Sein langes Haar war von einem derart blassen Blond, daß es fast farblos schien. Er trug es im Nacken zu einem praktischen Pferdeschwanz zusam-mengebunden und wirkte deswegen wie ein Söldner: kalt und gefährlich, aber im Grunde genommen gleichgültig gegenüber der Sache. Er hatte sich der Rebellion nur aus einem einzigen Grund angeschlossen: Nur auf diese Weise konnte er seine geliebte Evangeline beschützen. Finlay machte keinen Hehl aus seiner Abneigung gegenüber der Politik der Untergrundbewegung. Er war damit zufrieden, daß sie ihn mit Aufträgen überhäuften, bei denen er seinen Mut und sein Geschick im Umgang mit Waffen unter Beweis stellen konnte. Finlay Feldglöck war auf dem besten Weg, zur gefährlichsten aller Sorten von Männern zu werden: jener Sorte, die nichts mehr zu verlieren hatte. Allein Evangeline Shreck sorgte dafür, daß Finlay nicht wahnsinnig wurde und bei der Sache blieb, und beide wußten es. Evangeline Shreck hatte die meiste Zeit ihres Lebens in Furcht verbracht. Furcht davor, als Klon enttarnt und für das unverzeihliche Verbrechen exekutiert zu werden, erfolgreich die Rolle der Aristokratin gespielt zu haben. Furcht vor der perversen Liebe ihres Vaters. Furcht vor dem ständigen Allein-sein . Und dann war sie Finlay begegnet, und zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie einen Grund gehabt weiterzuleben. Sie wußte nicht, was sie tun würde, sollte Finlay sterben. Im Gegensatz zu ihm fand sie keinen Geschmack an Gefahr und Aufregung. Aber sie war ein Klon und schon allein deswegen eine wütende Verfechterin der Sache der Rebellen. Und wenn die vielen Spannungen in ihrem Leben sie auch zu zerreißen drohten, so war das ganz allein ihre Angelegenheit. Evangeline war schlank und elfenhaft, und ihr militärischer Umhang schlacker-te lose um ihren Körper wie ein Zelt. Sie besaß große, dunkle Augen – die Sorte, in der ein Mann ertrinken konnte –, einen festen, entschlossenen Mund und die unverwechselbare Aura einer Person, die Schmerz, Entsetzen und Verzweiflung überlebt hatte und die nicht daran zerbrochen war – noch nicht. Sie standen beisammen und betrachteten den großen hellen Planeten auf dem Hauptschirm. Nirgendwo ein Zeichen von Zivilisation, keinerlei Spuren, die auf die Anwesenheit von Menschen auf Shannons Welt hingedeutet hätten. Keine Städte, keine größeren Straßen , nichts, das groß genug gewesen wäre, um von den Sensoren der Wilden Rose erfaßt zu werden. Was auch immer dort unten lebte, es hielt sich versteckt und offen-barte sich nicht. Plötzlich seufzte Evangeline. »Alles sieht so unschuldig aus«, sagte sie. »So unberührt. Überhaupt nicht nach einem Blutacker. Was mag nur dort unten geschehen sein? Was ist so schrecklich, um einen Namen wie diesen zu rechtfertigen?« Finlay lächelte schwach. »Irgend etwas, das machtvoll und gemein genug ist, um jeden bewaffneten Mann zu töten, den die Eiserne Hexe bis heute dort hinuntergeschickt hat. Und es gibt Gott weiß nicht viel im Universum, das einer ganzen Armee bewaffneter Marineinfanteristen widerstehen könnte. Ich liebe Herausforderungen.« »Glaubst du… könnte es vielleicht so etwas wie das Gren-delwesen sein? Ich habe im Holo gesehen, was diese Kreatur am Hof angerichtet hat.« »Unwahrscheinlich«, sagte Tobias von hinten. »Nach dem Desaster von Grendel wurde jeder Planet des Imperiums nach verborgenen Schläfergruften abgesucht. Nicht einmal eine Vergnügungswelt wie diese ist dabei ausgenommen worden. Und falls irgend jemand weitere Schläfer gefunden hat – wie um alles in der Welt hätte er es geheimhalten sollen? Dafür gibt es im ganzen Imperium nicht genug Geld!« »Mach dir keine Gedanken, Liebste«, sagte Finlay zu Evangeline. Er legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie an sich. »Was auch immer dort unten lauern mag, ich werde dich beschützen.« »Warst du schon einmal hier?« fragte Evangeline. »Ich nicht. Ich habe von Shannons Welt gehört und wollte dorthin; aber Vater hatte etwas dagegen, mich aus den Augen zu lassen.« »Ich war schon fast überall«, antwortete Finlay, »aber auf Shannons Welt war ich auch noch nicht. Ich hatte immer zu viel zu tun. Außerdem klang es nicht nach der Sorte von Gegend, wo ich hingepaßt hätte. Viel zu friedlich. Ist das nicht eine Ironie? Die Welt sollte nach dem Willen ihres Besitzers der friedlichste, ungefährlichste und sicherste Ort im gesamten Imperium sein, und nun ist sie zu einem Alptraum geworden, der jetzt den Namen Blutacker trägt. Aber so ist das heutzutage eben in diesem Imperium. Nebenbei gefragt: Woher haben wir eigentlich die verdammten Koordinaten für diesen Planeten? Ich dachte immer, sie wären streng geheim und würden nur an Leute weitergegeben, die tatsächlich im Begriff stehen, die Welt zu besuchen?« »Die Koordinaten stammen von Valentin Wolf«, antwortete Evangeline mit sorgsam kontrollierter Stimme. »Bevor er uns verlassen hat, um die rechte Hand der Eisernen Hexe zu werden. Anscheinend war er schon einmal auf Shannons Welt. Hat ihm dort wohl nicht gefallen. Er meinte, wir sollten alles in die Luft jagen.« »Der verfluchte Wolf«, brummte Finlay und schürzte die Lippen zu einem Zwischending aus Grinsen und Fauchen. »Ich muß ihn finden und ihm meinen persönlichen Dank erweisen. Und wenn ich damit fertig bin, schneide ich ihm das Herz heraus und halte es in der Hand, bis es aufhört zu schlagen. Der Wolf hat meine Familie vernichtet. Er hat die Rebellion verraten und alles mit Füßen getreten, an das ich je geglaubt habe.« »Werdet nicht unfair«, mischte sich Tobias Shreck mit der beiläufigen Lässigkeit des erfahrenen Journalisten in die Unterhaltung ein. »Wir reden hier immerhin von dem Valentin Wolf, der selbst an einem Hof noch durch seine Degeneration hervorsticht, wo die Widerlichen und Abstoßenden zum Nor-malfall geworden sind. Von dem Mann, der noch nie eine Droge ausprobiert hat, ohne daß sie ihm nicht auch gefallen hätte. Eigentlich bin ich viel eher erstaunt, daß der Untergrund ihn überhaupt bei sich aufgenommen hat.« »Er hatte Geld und Beziehungen«, erklärte Evangeline, »und das zu einer Zeit, wo wir beides dringend benötigten. Außerdem kam Valentin Wolf mit ausgezeichneten Empfehlungen daher.« »Von wem?« fragte Tobias. »Von der Kaiserlichen Gilde der Pharmazeuten und Chemiker? Wenn man eine Viper an seiner Brust nährt, darf man sich nicht wundern, daß sie sich gegen einen wendet und beißt.« »Ich werde ihn töten«, wiederholte Finlay. »Ganz egal, wie weit er flieht oder was es mich kostet.« »Manchmal frage ich mich ehrlich, ob wir nicht zu sehr an Inzucht leiden«, sagte Tobias. »Hier stehen wir und sind im Begriff, den unbekannten Gefahren eines Planeten gegenüberzutreten, der den Namen Blutacker trägt, und Ihr denkt an nichts anderes, als Euch mit einem Mann zu duellieren, der Lichtjahre weit entfernt und höchstwahrscheinlich sowieso für immer aus Eurer Reichweite ist. Was soll ich nur davon halten?« »Ihr könnt das nicht verstehen«, entgegnete Finlay, ohne Tobias anzusehen. »Es ist eine Frage der Ehre.« »Natürlich nicht«, stimmte Tobias ihm zu. »Schließlich bin ich Journalist.« Im Verlauf seiner kurzen Karriere hatte Tobias Shreck ein bemerkenswertes Talent dafür entwickelt, stets zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein und ganz außerordentliche Berichte von ganz außerordentlichen Ereignissen abzuliefern: zuerst auf Technos III und anschließend auf der Nebelwelt. Seine Reportagen hatten ihm zwar keine neuen Freunde unter den Mächtigen und Einflußreichen geschaffen, aber seine Einschaltquoten schossen durch die Decke. Tobias war insgeheim sehr stolz darauf. Im Laufe seiner langen Karriere als Ausputzer für die Schweinereien, die der alte Gregor Shreck in seinem Kielwas-ser hinterlassen hatte, hatte Tobias oft davon geträumt, endlich einmal als richtiger Journalist zu arbeiten und von tatsächlichen Ereignissen zu berichten. Und nun, da er diese Gelegenheit hatte, lebte er seinen Traum. Und wenn er mehr als einmal unbehaglich nahe davor gestanden hatte, in den Hintern geschossen zu werden, nun, das war eben Berufsrisiko. Tobias grinste beim Anblick von Shannons Welt. Er würde der erste Journalist sein, der jemals seinen Fuß auf die legendäre Traumwelt setzte. Er würde der erste sein, der davon berichtete, was dort unten so schrecklich schiefgelaufen war. Das Leben war schön. Manchmal wenigstens. Sein Kameramann Flynn döste still auf einem Sitz neben Tobias. Die Kamera ruhte auf Flynns Schulter wie eine verträum-te Eule. Flynn war niemand, der einfach so ohne konkreten Anlaß aus dem Häuschen geriet. Außerdem schlief er stets, sobald sich eine Gelegenheit dazu bot. Ein exzellenter Kameramann, das war Flynn, und ein zuverlässiger Kamerad obendrein. Tobias hoffte nur, daß Flynn nicht schon wieder Damen-unterwäsche unter seiner Kleidung trug. Unmittelbar vor Tobias stand Julian Skye und starrte mit ausdruckslosen Augen auf den Hauptschirm. Tobias wußte nicht so recht, was er von dem jungen Esper halten sollte. Einst war er offensichtlich ein hübscher Mann gewesen, bevor sich die Imperialen Verhörspezialisten an ihm zu schaffen gemacht hatten. Sie hatten viel Schaden angerichtet, sowohl an Skyes Körper, als auch an seiner Seele, bevor Finlay Feldglöck ihn hatte befreien können. Das meiste war inzwischen verheilt, doch die gebrochenen Knochen in Skyes Gesicht waren schief und krumm zusammengewachsen, und ein Teil der Gesichts-muskulatur war durch Nervenschädigungen gelähmt. Skye trug eine ziemlich auffällige Perücke. Sie verdeckte die Stahlplatte über dem Loch, welches die Hirntechs in die Rückseite seines Schädels gebohrt hatten, um direkt an das Gehirn heranzukommen. Vor seiner Gefangennahme hatte Skye im Untergrund den Ruf genossen, einer der wildesten und tollkühnsten Agenten im Feld zu sein. Doch die Zeit in den Verhörzellen hatte seinen Mut gebrochen, und obwohl es nicht dazu gekommen war, daß er im Staub gekrochen und alles und jeden verraten hatte, so wurde er doch von der Gewißheit verfolgt, daß es lediglich eine Frage der Zeit gewesen wäre. Finlay hatte ihn gerade noch rechtzeitig gerettet, und Julian hatte sich seither an ihn ge-klammert. Er fühlte sich nur sicher, wenn Finlay in der Nähe war. Finlay – das mußte man ihm zugute halten – hatte sich seinerseits bemüht, Julians Mut und Selbstvertrauen wieder aufzubauen, wo immer es ging, und den Jungen nicht von sich abhängig zu machen; doch die Wunden waren tief, und Julian fand ständig neue Ausreden und Entschuldigungen, um in Finlays Nähe bleiben zu können. Er hatte sich sogar freiwillig zu dieser Mission gemeldet, ja gedrängt, obwohl alle davon überzeugt waren, daß es ein Selbstmordkommando war. Niemand wußte so genau, was Evangeline Shreck davon hielt. Tobias behielt alle drei im Auge, nur für den Fall. Da bahnte sich eine Geschichte an, und die wollte er auf keinen Fall versäumen. Tobias behielt auch den legendären Ersten Todtsteltzer Giles unauffällig im Auge. Der erste und größte seiner Linie, der erste Oberste Krieger des Imperiums, doch das war neunhundert Jahre her. Der Mann, der den Dunkelzonen-Projektor eingesetzt und tausend Sonnen in einem einzigen Augenblick zum Verlöschen gebracht hatte, und der die Bewohner unzähliger Welten in der sternenlosen Nacht und Kälte hatte sterben lassen. Milliarden waren in Verzweiflung und Not gestorben, und ein einziger Mann trug die Verantwortung dafür. Giles war groß, aber nicht breit gebaut, obwohl sich an seinen Armen kräftige Muskeln wölbten. Er steckte in abgewetzten Fellen und Lederkleidung, die ihn wie ein Barbar aussehen ließen. Das lange graue Haar war nach Söldnerart zu einem Zopf geflochten. Der Erste Todtsteltzer sah aus wie ein Mann Mitte Fünfzig, und er hatte ein hartes, entschlossenes Gesicht mit einem schmalen Strich von Mund über dem silbernen Kinnbart. Seine Augen waren von überraschend hellem Grau, und ihr Blick war fest und selbstbewußt. Der Erste Todtsteltzer sah ganz wie ein Mann aus, der keine Kompromisse einging: eine Erscheinung aus der Vergangenheit, als das Imperium noch ein stolzes und ehrenwertes Unterfangen gewesen war, dem stolze und ehrenhafte Männer gedient hatten. Giles Todtsteltzer, der größte Held und zugleich der größte Verräter seiner Epoche, der damals wie heute vor nichts zurückwich, das seinen Sinn für Gerechtigkeit und Ehre kompromittierte. Jedenfalls wurde das von ihm behauptet. Tobias wußte nur eins mit Sicherheit: Der Mann sah aus wie der Tod auf zwei Beinen, wie er dort saß, so gelassen und ruhig, als wäre er auf dem Weg in den wohlverdienten Urlaub. Giles Todtsteltzer jagte Tobias eine Heidenangst ein, und Tobias war es egal, ob die anderen es merkten oder nicht. Tobias sah auf den Schirm. Der mysteriöse Planet kam ständig näher, und selbst die Vorstellung von dem, was sie auf Shannons Welt erwartete, wirkte auf Tobias weniger beunruhigend als der Anblick des Ersten Todtsteltzers. »Ihr alle wißt mehr über Shannons Welt als ich«, sagte er leichthin, als hätte er nie in seiner Rede innegehalten. »Wenn man den Gerüchten Glauben schenken darf, dann soll es dort unten sehr erholsam gewesen sein. Keine Sorgen, kein Streß… fast therapeutisch . Ein Ort, wo man all seine Sorgen und sein Unglück vergessen konnte. Laut den Aufzeichnungen befanden sich 522 Menschen auf Shannons Welt, als die Kommunikation zusammenbrach . Niemand weiß, was aus ihnen geworden ist . Von den Besuchern fehlt seither jede Spur .« »Aber was soll denn auf einem Vergnügungsplaneten schon schiefgehen?« fragte Evangeline. »Dort unten gab es nichts, was ihnen hätte gefährlich werden können. Außerdem wissen wir, daß die Besucher gegen jeden Angriff von außerhalb geschützt waren. Die planetaren Verteidigungsanlagen sind immer noch in Betrieb.« »Wir schleichen gerade an ihnen vorbei«, bemerkte Finlay Feldglöck. Giles knurrte unvermittelt und setzte sich aufrecht hin. Alle sahen ihn überrascht an. »Vergnügungswelten, pah! Nichts als ein weiteres Zeichen dafür, wie verweichlicht das Leben im Imperium heutzutage geworden ist. Man braucht harte, beses-sene Streiter, um ein Imperium stark zu halten . Wir hatten zu meiner Zeit ebenfalls Vergnügungsplaneten; aber das waren Orte, wo man seinen Mut und sein Geschick unter Beweis stellte, ein Feld der Prüfungen, auf dem man stärker und ge-witzter wurde. Valhallas, wo man sich nach Herzenslust austo-ben konnte, wenigstens so lange, wie das Herz mitmachte . Keine Scheinkämpfe, nein, sondern echte Kämpfe auf Leben und Tod. Das ist der Punkt. Man konnte sterben, wenn man nicht so stark und schnell war, wie man von sich glaubte. Die Schwachen starben, und die Starken wurden stärker. Es war gut für die gesamte Rasse. Damals gab es in der Menschheit keinen Platz für die Schwachen. Wir hatten ein Imperium zu schmieden und zu beschützen. Und heute sitzt Ihr in Euren Arenen und seht anderen dabei zu, wie sie kämpfen und sterben, und Ihr seid ganz aufgeregt, wenn Ihr ein wenig Blut zu sehen bekommt. Kein Wunder, daß der Eiserne Thron korrupt ist. Das Blut ist zu dünn geworden, und Ehre ist nur noch ein Wort.« »Nicht für alle von uns«, widersprach Finlay Feldglöck. »Ich meine nicht Duelle wegen verletzter Gefühle, Jüngel-chen. Ich meine die Ehre als Maßstab des Lebens. Ein kalter, unbeugsamer Meister, dem man zu dienen hat, noch vor der Familie, dem Thron oder persönlichen Interessen. Eine Verpflichtung, die man bis zum Tode auf den Schultern trägt, wenn man nicht vorher unter ihrer Last zerbricht. Ich habe alles aufgegeben, was ich je besessen habe; ich habe alle meine Träume verraten, um der Pflicht zu folgen. Könnt Ihr vielleicht von Euch behaupten, daß Ihr das gleiche tun würdet?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Finlay mit tonloser Stimme. »Ich glaube nicht, daß irgend jemand im voraus von sich behaupten kann, das zu wissen, bevor der Augenblick nicht gekommen ist. Aber ich werde ganz sicher tun, was nötig ist, und zur Hölle mit den Konsequenzen. Das habe ich schon immer getan.« »Müssen wir eigentlich so düster sein?« fragte Tobias. »Wir wollen schließlich nicht vergessen, Leute, daß wir alle kurz davor stehen, unermeßlich reich zu werden. Ganz gleich, wie diese Mission ausgeht. Die Sendeanstalten werden uns praktisch jeden Preis zahlen, wenn wir ihnen die Exklusivberichte über die mysteriöse Welt Shannons verkaufen. Die Leute sind schon seit Jahrzehnten verrückt vor Neugier, wie es dort unten aussehen mag – und zwar schon, bevor alles aus dem Ruder lief. Wenn es uns sogar gelingen sollte, eine Erklärung für das alles zu liefern, dann können wir jeden Preis verlangen. Wir werden reich, reich, reich, Leute, das kann ich Euch sagen.« »Oder wir werden sterben«, fügte Flynn hinzu, ohne die Augen zu öffnen. »Wir sind nicht wegen des Geldes hierhergekommen«, er-klärte Evangeline. »Sprecht bitte nur für Euch selbst«, konterte Tobias. Julian Skye lauschte der Diskussion, doch er hatte nichts da-zu beizutragen. Er gab einen Dreck auf Shannons Welt oder auf das Geheimnis, das sie umgab. Er war nur deswegen hier, weil Finlay Feldglöck hier war. Außerdem hatte er seine eigenen Sorgen. Seine Kopfschmerzen hatten wieder eingesetzt, ein dumpfer, pochender Schmerz, der seinen ganzen Kopf ausfüll-te, bis er kaum noch klar denken konnte. Trotz all der Medikamente, die Julian schluckte, kam und ging der Schmerz, wie er wollte. Die Ärzte der Untergrundbewegung hatten ihr Bestes gegeben, und das hatte nicht gereicht. Die Schmerzen und das entstellte Gesicht waren noch die kleineren Geschenke der Imperialen Hirntechs. Sie hatten Julians Schädel geöffnet und Nadeln in sein Gehirn geschoben, und jetzt war er nicht mehr sicher, wer er überhaupt war. Sein Mut war zerbrochen, seine Selbstsicherheit dahin, und geblieben war nur noch der Schatten des Mannes von einst. Die Hirntechs verstanden ihren Job, und sie hatten ganze Arbeit geleistet. Ihre Methoden waren weit fortgeschritten, geheim – und nicht ungeschehen zu machen. Niemand konnte wissen, was sie mit seinem Gehirn angestellt und welche geheimen Kontrollworte sie ihm eingepflanzt hatten. Doch das war noch nicht alles. Julian wußte durchaus um die Möglichkeit, daß die Hirntechs bei ihrer Arbeit unterbrochen worden waren und sie nicht hatten beenden können. Daß sie nicht alles hatten tun können, um sicherzustellen, daß er am Leben bleiben würde. Manchmal, in den langen dunklen Stunden der Nacht, wenn der bösartige Schmerz in seinem Kopf jede Hoffnung auf Schlaf vertrieb und ihn zu einem weinenden Häuflein Elend schrumpfen ließ, fragte sich Julian, ob er nicht starb, Stück für Stück. Wenn die Schmerzen wirklich übermächtig waren, sehnte er sich förmlich nach dem Tod. Doch die Schmerzen hörten irgendwann auf – wie immer –, und er klammerte sich wieder an die wenigen Grunde, die ihn noch am Leben hielten. Er glaubte noch immer fest an die Rebellion, und er glaubte an Finlay Feldglöck; an jenen Mann, der sein Leben riskiert hatte, um ihn zu retten . Der Feldglöck hatte alles aufgegeben, um sich dem Untergrund anzuschließen. Wie konnte Julian hinter ihm zurückstehen? Also folgte Julian Skye dem Feldglöck, wohin auch immer seine Missionen ihn führten. Er war stolz darauf, in seiner Gesellschaft zu sein, und vielleicht hoffte er auch, ein wenig von der Selbstsicherheit und dem Mut des Mannes würden auf ihn abfärben. Julian bezog nicht wenig von seinem bißchen Stolz aus der Tatsache, daß er und Finlay ein gutes Team abgaben . Er war nicht sicher, was er von Finlays Geliebter Evangeline Shreck halten sollte. Auf der einen Seite liebte Finlay sie offensichtlich von ganzem Herzen, also mußte sie eine bemerkenswerte und ehrenhafte Frau sein. Doch auf der anderen Seite stellte Julian beschämt fest, daß er nicht selten eifersüchtig auf ihre Nähe zu Finlay war, eine Nähe, auf die Julian niemals hoffen durfte. Aber das war eben Liebe. Julian hatte nicht viel Erfahrung, was Liebe betraf, und der größte Teil davon war schlecht gewesen. Die einzige wirkliche Liebe seines jungen Lebens war SB Chojiro gewesen, die schwarzhaarige Frau, die sein Herz geraubt und ihn im gleichen Augenblick an die Imperialen Hirntechs verraten hatte, indem er ihr seine Zugehörigkeit zu den Rebellen gestanden hatte. Sie war ein fanatisches Mitglied des Schwarzen Blocks, jener geheimen Verschwörung junger Aristokraten, die sich zum Ziel gesetzt hatten, die Löwenstein von ihrem Eisernen Thron zu stoßen, und die für nichts anderes Zeit oder Interesse fanden als für ihre eigene Sache. Noch heute träumte Julian hin und wieder von Chojiro, von ihren pechschwarzen Augen und dem vollkommenen Lächeln ihres Mundes – und davon, daß er noch immer alles aufzugeben bereit war, wenn sie ihn dafür nur wieder lieben würde. Zu anderen Zeiten dachte er, daß er alles aufzugeben bereit wäre, was er hatte oder war oder jemals zu haben oder zu sein hoffen durfte, nur um seine Hände um ihren Hals legen zu können und das Leben ganz langsam aus ihr herauszuwürgen. Wenn die Schmerzen besonders schlimm waren und es schien, als wolle die lange Nacht niemals enden, dann war es genau dieser Gedanke, der ihm die Kraft gab wei-terzumachen. Insgeheim befürchtete Julian, der Untergrund könne eines Tages mit dem Schwarzen Block eine Allianz gegen die Eiserne Hexe eingehen, aus praktischen Erwägungen oder reiner Notwendigkeit. Es war nicht unvorstellbar. Julian wußte nicht, was er in diesem Fall hm würde. War er tatsächlich bereit, die gesamte Rebellion in Gefahr zu bringen, die Sache, der er sein Leben und seine Ehre geweiht hatte, nur um eine Frau zu töten, die ihn verraten hatte? Immer, wenn ihm dieser Gedanken kam, stahl sich ein kaltes, schreckliches Lächeln auf Julians Gesicht. Er kannte die Antwort . Ja. Ja, das würde ich. Er schob den Gedanken beiseite und biß die Zähne gegen den Schmerz in seinem Kopf zusammen. Die anderen brauchten es nicht zu erfahren. Julian hatte einen Auftrag, und niemand würde ihn schwanken sehen. Er besaß noch immer einen Rest von Stolz. Finlay vertraute ihm genug, um ihn mitzunehmen, und Julian würde eher sterben, als den Feldglöck zu enttäuschen. Er konzentrierte sich auf die Gespräche der anderen. Giles Todtsteltzer redete noch immer. Das war ein echter Krieger . Ein Mann wie der Erste Todtsteltzer kannte keine Zweifel und keine Schwäche. Er war der Todtsteltzer, der Kämpfer aus der Legende und aus einer Zeit, als es noch wirkliche Helden gegeben hatte. Ein Mann wie der Todtsteltzer würde eher sterben, bevor er sich beugte. Aber wer konnte schon eine Legende töten? Giles redete und redete, doch Finlay und Evangeline hörten nicht mehr zu. Der alte Mann meinte es gut; allerdings tendierte er ein wenig zu Monologen. Finlay und Evangeline saßen zusammen vor dem Hauptschirm und hielten sich schweigend an den Händen, weil sie sich im Augenblick nichts zu sagen hatten. Für beide hatte es sich als überraschend schwierig herausgestellt, die Gegenwart des anderen für längere Zeit ohne Unterbrechung ertragen zu müssen. Sie waren daran gewöhnt, nur selten die Nacht miteinander zu verbringen und nur für den Augenblick zu leben, weil sie niemals gewußt hatten, wann und ob sie sich überhaupt jemals wiedersehen würden. Nun, da sie beide zum gleichen Team gehörten und tagein, tagaus zusammen waren, fanden sie es weitaus schwieriger, miteinander auszukommen. Sie waren ständig den ärgerlichen kleinen An-gewohnheiten und nebensächlichen Bedürfnissen des anderen ausgesetzt, statt den idealisierten Vorstellungen, die sie vorher voneinander gehabt hatten. Doch ihre Liebe, obwohl arg stra-paziert, war nicht erloschen. Und wenn sie ein paar Probleme mit kleinen alltäglichen Dingen hatten, dann war das nichts im Vergleich zu der strahlenden Hitze, die sie zu einer Person verschmelzen ließ. Schließlich bemerkte Giles, daß ihm niemand mehr zuhörte. Grummelnd verstummte er. Er zog sein Schwert, legte es auf die Knie und polierte die Klinge mit einem Stofflappen, den er aus dem Gürtel zog. Die langsamen, gleichförmigen Bewegungen hatten etwas Beruhigendes, Tröstendes an sich. Soweit es den Ersten Todtsteltzer betraf, war diese ganze Mission eine Verschwendung seiner wertvollen Zeit und seiner Fähigkeiten. Er war ein Krieger und kein Spion. Doch selbst er erkannte die Bedeutung der Informationen in Harkers Kopf, und so hatte er zögernd der Bitte des Untergrunds zugestimmt, sich der Mission anzuschließen. Sämtliche anderen Veteranen des Labyrinths des Wahnsinns wurden woanders gebraucht, und er kannte niemanden außer sich selbst , dem er zutraute, das Team besser vor unbekannten Gefahren zu schützen. Außerdem verspürte er das Bedürfnis, den Rebellen seinen Wert zu beweisen. Vielleicht war es ja schön und gut, eine lebende Legende zu sein – trotzdem: Weil man früher vielleicht einmal ein starker Mann gewesen war, hieß das noch lange nicht, daß man auch heute noch seine Last tragen konnte. Und Vertrauen wurde einem im Untergrund nicht so ohne weiteres geschenkt. Was Giles im übrigen sogar für richtig hielt. Tief in seinem Innern an einem Ort, wo er nur selten hinging – konnte er nicht anders, als sich zu fragen, ob er tatsächlich noch der Alte war. Er hatte verdammt viel Zeit in Stasis verbracht, und das Universum hatte sich ohne ihn weitergedreht. Außerdem traute er den Veränderungen nicht, die das Labyrinth des Wahnsinns an ihm vorgenommen hatte. Er wußte nicht, welches Ausmaß sie besaßen oder ob er sich im Notfall auf seine neuen Fähigkeiten verlassen konnte. Diese Mission würde ihm Gelegenheit geben, seine Fähigkeiten und Kräfte zu testen, bevor die wirklichen Kämpfe begannen. Giles zweifelte weder an seinem Mut noch an seiner Entschlossenheit. Er war schließlich ein Todtsteltzer. Doch es konnte nicht schaden, sich das in der Hitze der Schlacht noch einmal selbst zu beweisen. Giles hatte sich stets auf dem Schlachtfeld zu Hause gefühlt . Dort, wo die zweideutigen Fragen von Politik und Loyalität in der scharfen Abgrenzung von Leben und Tod ihre Antworten fanden . Die Gründe mochten wechseln; Ideale mochten rosten; Menschen konnten einen betrügen und Liebe, Freundschaft und Vertrauen verraten; doch in der Schlacht gab es nur einen Sieger und einen Verlierer. Genau das liebte Giles so daran. Tobias rutschte nervös auf seinem Sitz hin und her. Er würde erst dann wieder ruhiger werden, wenn er endlich festen Boden unter den Füßen spürte. Jeder wußte, daß jetzt der gefährlichste Teil der gesamten Mission bevorstand. Theoretisch sollte die Tarnvorrichtung der Hadenmänner das Schiff vor den Satelliten Hakeldamachs verbergen, doch falls sie versagte, und sei es auch nur für einen winzigen Augenblick, würden die planetaren Verteidigungsanlagen das Feuer eröffnen, und sie wären alle tot. Theoretisch? hatte Tobias gefragt, als man ihm die Vorrichtung erklärt hatte. Was soll da s heißen, theoretisch ? Wurde der Apparat denn noch nicht getestet? Warum? Ihr testet ihn doch, hatte der Mann gegrinst, der die Einsatzbesprechung geleitet hatte. Und als wäre das noch nicht genug, stand Shannons Welt wegen ihres offiziellen Quarantänestatus auch noch unter strenger Bewachung durch einen Imperialen Sternenkreuzer, der im Orbit kreiste und auf der Stelle das Feuer auf jeden un-befugten Eindringling eröffnen würde. Tobias hoffte nur, daß die Rebellen auf all das vorbereitet waren. »Schnallt Euch jetzt besser an«, sagte Finlay. »Wenn alles nach Plan verlaufen ist, wird es gleich interessant.« Sie befestigten die Sicherheitsgurte und beobachteten gespannt den Hauptschirm. Für eine kleine Weile, die jedem wie eine Ewigkeit erschien, geschah überhaupt nichts. Der Imperiale Sternenkreuzer hing im Orbit, gar nicht weit von der Wilden Rose entfernt. Er schien blind für die Anwesenheit der Rebellen, trotz seine einschüchternden Größe und den zahllosen Waffentürmen. Und dann fiel ein gewaltiges goldenes Schiff der Hadenmänner aus dem Hyperraum, direkt über dem Imperialen Sternenkreuzer. Das goldene Schiff war so riesig, daß der Sternenkreuzer unter ihm aussah wie eine Elritze unter einem Orca. Die Hadenmänner eröffneten das Feuer aus allen Rohren, und die Schutzschirme des Sternenkreuzers knisterten und sprühten Funken und standen kurz vor der Überladung. Dann stellte das goldene Schiff seinen Beschuß wieder ein und drehte majestätisch ab. Der Sternenkreuzer machte sich an die Verfolgung. Sein Kapitän schien fest entschlossen, den alten Feinden der Menschheit den Zutritt zu Shannons Welt zu ver-wehren. Während der Imperiale Sternenkreuzer weit draußen im leeren Raum einem Phantom hinterherjagte, verließ das umgebaute Frachtschiff Wilde Rose unauffällig und unbemerkt seinen Orbit und steuerte den Planeten Hakeldamach an, den Blutacker, mitsamt den Schrecken, die dort unten auf die Besatzung warteten. Lange Augenblicke blieb alles ruhig und normal. Die Rebellen fingen bereits an, sich zu entspannen. Doch dann prallte die Wilde Rose auf die Atmosphäre, und die bodengestützten Verteidigungsanlagen eröffneten das Feuer. Massiver Beschuß aus Disruptorkanonen zehrte an den schwachen Schilden der Wilden Rose und schüttelten das kleine Schiff durch wie ein Hund eine Ratte. Finlay fluchte und schimpfte und hämmerte auf den Instrumenten herum in dem Bemühen, die Tarnvorrichtung zu verstärken, während seine Gurte ihn vor- und zurückrissen . Irgend etwas unten auf der Oberfläche hatte die Technologie der Hadenmänner durchdrungen, obwohl das eigentlich un-möglich sein sollte. Das Frachtschiff hüpfte und tanzte. Tödliche Energieströme tanzten auf den Schilden und suchten nach Schwachstellen. Die Rebellen klammerten sich an ihre Sitze. Finlay stemmte sich fest gegen die Gurte und kämpfte mit den Kontrollen, um das Schiff halbwegs sicher nach unten zu bringen. Plötzlich gingen die Lichter aus und wurden vom düsteren Rot der Notbeleuchtung ersetzt. »Was zur Hölle ist mit der Tarn Vorrichtung los?« rief Tobias. »Nach den Instrumenten zu urteilen arbeitet sie vollkommen normal!« antwortete Finlay. »Allerdings gab es keine Garantie auf die Apparatur, wenn ich mich recht erinnere.« »Und das sagt er uns jetzt!« maulte Flynn. Das Schiff krängte zur Seite. Die Notbeleuchtung flackerte. »Die äußeren Schilde sind soeben zusammengebrochen«, meldete Finlay ruhig. »Die Systeme arbeiten nur noch mit siebzig Prozent Effizienz. Kennt irgend jemand ein paar gute Gebete?« »Können wir denn nicht zurückschießen?« fragte Tobias. »Wir sind unbewaffnet«, antwortete Evangeline. »Es gab nicht genügend Raum für Kanonen, weil die Hadenmänner so viele Extrasysteme eingebaut haben. Habt Ihr bei den Besprechungen denn nicht zugehört?« »Offensichtlich nicht gut genug«, brummte Tobias. »Ich vermute, Rettungskapseln sind ebenfalls nicht verfügbar, oder?« »Denkt doch einmal nach«, tadelte ihn Finlay. »Falls dieses Schiff mit seinen Schilden zerstört wird, wie lange soll dann Eurer Meinung nach eine Rettungskapsel durchhalten?« »Ich glaube, mir wird schlecht«, jammerte Tobias. »Oder ich bekomme eine ausgewachsene Panik.« »Versuch’s mit Panik«, entgegnete Flynn. »Das gibt weniger Sauerei.« Eine der Instrumentenkonsolen explodierte, und die Überreste gingen in Flammen auf. Finlay wich vor der Hitze zurück. Das Frachtschiff stürzte hinunter wie ein Stein , bevor die Re-servesysteme hochfuhren. Alarmsirenen schrillten laut und gellend, bis Finlay den richtigen Schalter fand, um sie abzustel-len. Sie wußten schließlich längst, daß sie in Schwierigkeiten steckten . Das Feuer nahm an Heftigkeit zu . Rauch erfüllte nach und nach die Kabine. Evangeline öffnete ihre Sicherheitsgurte, riß einen Feuerlöscher aus seiner Halterung und zielte auf den Brand. Das Schlingern der Wilden Rose warf sie hin und her und machte das Löschen beinahe unmöglich. Finlay kämpfte darum, das Schiff mit den verbliebenen Kontrollen zu steuern. Im Hintergrund hatte Flynn unauffällig begonnen, alles zu filmen. Und dann endete der Beschuß genauso plötzlich, wie er eingesetzt hatte. Alles war ruhig, mit Ausnahme der knisternden Flammen. Das Schiff richtete sich wieder auf, und bald hatte Evangeline den Brand gelöscht. Sie blieb, wo sie war, und lauschte. Sie war auf weitere Angriffe gefaßt. Finlay studierte seine Instrumente; dann seufzte er erleichtert. »Sie haben aufgehört. Wahrscheinlich sind wir unter ihre einprogrammierte Angriffshöhe gefallen«, sagte er. »Meine Damen und Herren, ich würde sagen, wir hatten gerade eine ziemliche Menge Schwein.« »Wie schwer sind die Schäden?« erkundigte sich Julian Skye. »Könnte schlimmer sein«, antwortete Finlay. »Keine lebenswichtigen Aggregate sind ausgefallen . Wir können noch immer sicher landen und wieder starten. Vorausgesetzt, die Verteidigungsanlagen schießen nur auf landende Schiffe, nicht auf startende. Trotzdem sollten alle in ihren Sitzen und angeschnallt bleiben. Die Landung wird mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit ein wenig unsanft.« »Sucht nach Kommunikationssignalen«, empfahl Giles. Finlay nickte und beugte sich über das Komm-Paneel. Es dauerte einen Augenblick, bis er die Signale des sich entfernenden Sternenkreuzers ausgefiltert hatte und sich auf den Planeten unter der Wilden Rose konzentrieren konnte. Die Frequenzana-lysatoren gingen das gesamte Spektrum durch und fanden – nichts. »Kein verdammter Pieps!« fluchte Finlay. »Niemand dort unten, der zu irgend jemandem irgend etwas sagt. Der ganze Planet hüllt sich in Schweigen.« Giles nickte langsam. »Versucht es mit den Sensoren. Sucht nach Lebensformen.« Finlay trat zu der Sensorkonsole und wedelte den Rauch beiseite, der vor seinem Gesicht trieb. Die Sensorkonsole befand sich unmittelbar neben dem Paneel , das in die Luft geflogen war , und sie hatte einiges an Feuer und Rauch abbekommen. Finlay startete eine kurze Diagnoseroutine und verzog das Gesicht. Dreiundvierzig Prozent Effizienz . Das war gar nicht gut . Beschränkte Reichweite und noch beschränktere Informationen. Er stellte die Sensoren auf die größtmögliche verbliebene Empfindlichkeit und starrte dann mit einem Stirnrunzeln auf die Anzeigen. »Ich empfange… etwas«, sagte er schließlich. »Aber fragt mich nur nicht, was das sein soll. Die Ergebnisse machen keinerlei Sinn. Ich kann nicht sagen, ob es sich um Lebensformen handelt oder nicht. Die Lektronen finden nichts Vergleichbares in ihren Datenbänken – was an und für sich unmöglich sein sollte.« »Fremdwesen?« fragte Giles. »Unbekannt«, antwortete Finlay. »Aber das glaube ich nicht. Selbst die fremdartigsten Lebensformen weisen gewisse uni-versale Gemeinsamkeiten auf. Das hier ist etwas vollkommen Neuartiges. Was auch immer die Instrumente dort anzeigen, es überschwemmt die Sensoren förmlich. Sie sind nicht mehr lei-stungsfähig genug, um menschliches Leben aus all dem Rauschen auszufiltern. Falls es dort unten noch Menschen gibt…« »Vielleicht gibt es ja gar keine mehr«, sagte Evangeline. »Harker ist schon seit Monaten dort unten. Wer weiß, was aus ihm geworden ist.« »Denkt positiv« , sagte Julian. »Was ist mit dem Funkfeuer seines Schiffs , Finlay?« »Das sendet noch«, antwortete Finlay. »Ich habe es laut und deutlich im Empfänger. Wir sollten imstande sein, direkt daneben zu landen.« »Na, wenigstens etwas«, sagte Tobias . »Hat irgend jemand daran gedacht, Glasperlen oder Geschenke für die Eingebore-nen mitzubringen?« »Shannons Welt hat kein eingeborenes Leben«, entgegnete Julian. »Es hat nie welches gegeben. Der Planet war ein totes Stück Fels, bevor man ihn terraformierte. Es gibt keine eingeborenen Lebensformen. Außerdem wären sie Shannons Traum im Weg gewesen. Was auch immer dort unten ist – das ist kein einheimisches Leben.« »Ihr seid wirklich von der aufmunternden Sorte!« brummte Tobias. »Wußtet Ihr das?« »Haltet die Klappe, Shreck«, unterbrach ihn Giles. »Finlay, bringt uns runter, so schnell Ihr könnt. Dieser Sternenkreuzer wird sich nicht ewig von seiner Aufgabe ablenken lassen.« Julian räusperte sich. »Ich wurde dieser Mission erst im allerletzten Augenblick zugeteilt«, sagte er. »Bleibt uns noch genug Zeit für eine rasche Besprechung, mit was wir dort draußen zu rechnen haben? Ich kenne die grundlegenden Dinge, aber… der Name Blutacker erfüllt mich nicht gerade mit Zuversicht.« »Denkt positiv«, spottete Tobias. »Haltet die Klappe«, unterbrach ihn Giles. »Wir besitzen nur spärliche Informationen«, erklärte Finlay hastig. »Nur ein einziger Mann konnte lebend von diesem Planeten entkommen, nachdem die Kommunikation mit Shannons Welt zusammengebrochen war. Er gab ihr den neuen Namen: Hakeldamach. Dann starb er. Was auch immer er dort unten gesehen hat, er nahm sein Wissen mit in den Tod. Er wollte sterben. Er wollte vor dem fliehen, was er auf Hakeldamach gesehen hatte.« »Ich bin im Besitz einer Kopie der ursprünglichen Aussagen des Mannes«, verkündete Tobias zaghaft. »Lediglich die wichtigsten Punkte. Er redete viel zusammenhangloses Zeug. Ich erhielt das Band von einem Kollegen, zu einem relativ vernünftigen Preis, den der Untergrund mir sicher zurückerstatten wird. Soll ich das Band abspielen?« »Macht das«, antwortete Giles. »Vielleicht hält es uns davon ab, zu großspurig zu werden.« Tobias nickte Flynn zu, der sich mit Hilfe seiner Kamera in die Kommunikationskanäle der Wilden Rose einloggte und dann die Aufnahme aus den Speichern der Kamera abspielen ließ. Der große Hauptschirm flackerte kurz, und der helle, blaue Planet wich dem schwitzenden Gesicht eines Mannes mit wilden Augen. Das Gesicht war so mager, daß die Knochen die Haut zu durchstoßen schienen. Der Mund des Mannes bebte und zitterte, und seine Züge waren vor Angst verzerrt. Man hatte ihn zu seinem eigenen Schutz auf einem Stuhl festgeschnallt. Als er schließlich zu reden begann, klang seine Stimme heiser, aber beherrscht. Seine Augen richteten sich auf die Kamera, als würde er trotz aller Schmerzen von dem Bedürfnis getrieben zu erzählen, was er wußte und gesehen hatte. »Mein Name ist Adrian Marriner«, sagte er. »Ich bin Aufklärer und habe zwölf Jahre Berufserfahrung. Ich war der Leiter einer Beobachtungsmannschaft, die man losgeschickt hat, um herauszufinden, was auf Shannons Welt los ist. Man hat uns nicht gesagt, daß schon vorher Mannschaften dorthin geschickt worden sind. Keine kehrte zurück. Wir waren zehn. Gute Männer und Frauen. Sie sind allesamt tot. Ich bin der einzige Überlebende. Dort unten tobt ein Krieg. Ein totaler Krieg. Kein Pardon für niemanden. Vergeßt die Vermißten. Sie sind tot. Sie waren die ersten, die gestorben sind. Sie hatten einen schweren, blutigen Tod, die armen Schweine. Vergeßt die Vergnügungswelt. Sie ist jetzt ein einziger Alptraum. Der schlimmste Alptraum, den Ihr Euch vorstellen könnt. Entsetzlich. Furchtbar. Ein groteskes Zerrbild seiner selbst. Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind auf dieser Welt ist auf schreckliche Art gestorben, doch der Krieg geht weiter. Er wird niemals aufhören. Schickt keine Aufklärer mehr zu dieser Welt. Kein Mensch kann das ertragen, was dort unten vor sich geht.« Dann begann er zu weinen, tiefe, rasselnde Schluchzer, die seinen Körper schüttelten. Flynn schaltete die Kamera ab. Das weinende Gesicht verschwand vom Hauptschirm, und wurde wieder vom rätselhaften Anblick Hakeldamachs ersetzt, der bereit war, sie zu empfangen. »Ich fürchte, das war leider schon alles«, sagte Tobias. »Er sagt immer wieder das gleiche, immer und immer wieder. Immer dann, wenn er zu weinen aufhört. Oder zu schreien. Als hätte ihn das, was er gesehen hat, so sehr verängstigt, daß sein Verstand in einer Endlosschleife steckengeblieben ist und sich bis in alle Ewigkeit wiederholt. Er starb bald, nachdem diese Aufzeichnung angefertigt wurde. Wahrscheinlich war es für ihn eine Erlösung. Er war absolut sicher, daß jeder Mensch auf diesem Planeten tot sei – was die Frage aufwirft, wer dann diesen endlosen Krieg führt, von dem er gesprochen hat. Dazu gibt es die verschiedensten Theorien, und keine davon fördert einen guten Schlaf. Falls einer von Euch hilfreiche Ideen oder Kommentare hat – fühlt Euch frei, sie uns mitzuteilen. Ich habe mir dieses Band angesehen, bis es mir aus den Ohren kam, und es macht mir immer noch eine Heidenangst. Immerhin war dieser Mann ein erfahrener Aufklärer. Er hat alles gesehen. Und Hakeldamach hat ihn zu einem schluchzenden Kind werden lassen.« »Ich habe das Band früher schon einmal gesehen«, sagte Flynn. »Ich kannte einen der Leute, die ihn nach seiner Rückkehr in Empfang nahmen . Wir wissen nicht, warum Marriner überlebte, während der Rest seiner Mannschaft starb, oder wie er es geschafft hat, den Planeten wieder zu verlassen. Der Kapitän des Imperialen Sternenkreuzers schwor Stein und Bein, daß niemand die Quarantäne durchbrochen hatte. Man fand Marriner, wie er in den Straßen von Golgathas größtem Raumhafen umherirrte. Er weinte ununterbrochen und erzählte jedem seine Geschichte, der sie hören wollte. Sicherheitsleute griffen ihn auf, doch sein Schiff wurde nie gefunden. Bis heute ist es rätselhaft, wie er auf Golgatha landen konnte, ohne Alarm auszulösen. Was eigentlich unmöglich sein sollte.« »Das ist tatsächlich unmöglich«, stimmte ihm Evangeline Shreck zu. »Wie hätte er ganz allein ein Schiff von hier bis nach Golgatha steuern sollen? Lektronen sind nicht allmächtig. Irgend jemand muß bei ihm gewesen sein. Irgend jemand muß ihm geholfen haben.« »Falls es so war, dann sind seine Helfer niemals aufgetaucht. Und das, obwohl verdammt viele Leute nach ihnen gefahndet haben. Die Imperatorin war außer sich vor Wut wegen der Lücke in ihrem Sicherheitssystem , und sie war alles andere als beruhigt, als die Suche ergebnislos blieb. Sie nimmt die Sicherheit ihrer Regierungswelt sehr ernst. Wie ich gehört habe, wurden nicht lange danach eine ganze Reihe von Stellen in den oberen Rängen des Sicherheitsdienstes frei.« Julian biß sich auf die Unterlippe. Er spürte, wie sich der vertraute Kopfschmerz wieder einstellen wollte. Er durfte ihm jetzt nicht nachgeben. Niemand durfte sehen, daß er schwach war. Nicht jetzt. Er schlang die Arme um den Leib und atmete tief und langsam durch. Es würde nicht viel helfen – das tat es nie –, aber er mußte etwas unternehmen, um sich abzulenken… Er beugte sich vor und konzentrierte sich auf die Sensorpa-neele. Er spürte , wie kalter Schweiß auf seine Stirn trat. Hoffentlich bemerkten es die anderen nicht. »Ich dachte . Harker hätte eine persönliche Signalboje?« fragte er vorsichtig. »Hatte er«, bestätigte Finlay. »Nicht lange nach seiner Bruchlandung auf Shannons Welt zog er sie aus und ließ sie in dem abgestürzten Schiff zurück. Wir wissen nicht warum. Inzwischen kann er überall sein.« »Vielleicht ist er sogar tot«, bemerkte Giles. »Denkt positiv!« sagte Tobias. »Wenigstens erhalten wir ein deutliches Signal von der Boje. Vielleicht finden wir in seinem Schiff Hinweise, wo wir als nächstes nach ihm suchen müssen.« »Landet direkt neben Harkers Schiff, Feldglöck«, befahl Giles. »Und dann laßt uns alle beten, daß die Spur nicht so kalt ist, wie sie zu sein scheint. Ansonsten müssen wir vielleicht verdammt lang suchen.« Finlay landete das umgebaute Frachtschiff auf einer weiten, grasbewachsenen Ebene, nur wenige hundert Meter von der abgestürzten Rettungskapsel entfernt. Die Kapsel sah ziemlich mitgenommen aus; doch das Signal der Boje war klar und deutlich. Nirgendwo eine Spur von Leben. Giles stieg selbstverständlich als erster aus, mit gezücktem Schwert und schußbereiter Pistole. Mißtrauisch schaute er sich um. Dann winkte er den anderen, ebenfalls auszusteigen und sich zu ihm zu gesellen. Finlay sprang förmlich durch die Schleuse und blieb neben dem Todtsteltzer stehen. Tobias und Flynn folgten ihm dicht auf den Fersen. Langsam näherten sich die vier der Kapsel, während sie unablässig nach versteckten Fallen suchten. Evangeline Shreck und Julian Skye blieben zurück, um die Wilde Rose zu bewachen und alles für einen Notstart bereitzu-halten, sollte es erforderlich sein. Beide fühlten sich unwohl in der Gesellschaft des jeweils anderen, und so untersuchten sie die Umgebung ein wenig angestrengter als eigentlich nötig. Nach den Instrumenten und dem Hauptschirm zu urteilen erstreckte sich die grasbewachsene Ebene in alle Richtungen bis hin zum Horizont, ein frisches, intensives, fast unnatürlich wirkendes Grün. Kein Zeichen von Leben. Keine Vögel, keine Insekten. Die gesamte Szenerie war vollkommen still, mit Ausnahme der leisen Schritte der Neuankömmlinge, die sich vorsichtig der Rettungskapsel näherten. Der Himmel war von einem strahlenden Blau, die Luft klar und sauber, und nirgendwo war eine Wolke zu sehen. Es war ein warmer, beruhigender Himmel, beinahe hypnotisch, genau die Sorte Himmel, unter der man sich stundenlang hinlegen und die Zeit vergessen konnte. Hoch oben im Zenit schien die große gelbe Sonne auf sie herabzugrinsen. Julian empfand das als ausgesprochen beunruhigend. Der Anblick erweckte in ihm ein Gefühl, als sei er in einem Laufstall eingesperrt und stünde unter Beobachtung. »Wie zur Hölle haben sie das nur gemacht?« fragte er schließlich, nur um den Klang seiner eigenen Stimme zu hören. Die Stille zerrte an seinen Nerven. »Das ist gar nicht so schwer« antwortete Evangeline. »Eine Art holographische Projektion, schätze ich. Die eigentliche Frage muß lauten: Warum sollte jemand so etwas tun?« »Vermutlich gehörte es zu Shannons Traum«, spekulierte Julian. Die Kopfschmerzen wurden schwächer, und er fühlte sich wieder halbwegs menschlich. »Riecht Ihr die Luft, die von draußen hereinkommt? Sauber, aromatisch und belebend. De-signerluft. Genau die Art von Liebe zum Detail, die Scharen von Besuchern anzieht.« Evangeline schnüffelte. »Ganz in Ordnung, vermute ich, wenn man auf so etwas steht. Aber warum ist es so still? Wo sind denn nur alle geblieben? Gibt es sonst nichts anderes?« Zum ersten Mal stahl sich ein schwaches Lächeln auf Julians Gesicht. »Das bezweifle ich sehr. Ich glaube kaum, daß Shannon Spitzenpreise hätte verlangen können, wenn das hier alles sein soll.« »Ich weiß nicht«, sagte Evangeline. »Bei all dem Streß und Tumult in den höchsten Kreisen sind einige Leute bestimmt bereit, jeden Preis für garantierte Ruhe und Frieden zu zahlen.« »Darauf würde ich keinen krummen Penny wetten«, entgegnete Julian. »Es ist einfach zu still. Es ist, als wartet alles darauf, daß… daß irgend etwas passiert. Etwas Schreckliches.« »Seid Ihr immer so aufmunternd?« fragte Evangeline. »Die meiste Zeit über«, gestand Julian. »Wartet nur ab, und ich fange an zu singen und zu tanzen. Ihr behaltet die Instrumente im Auge, und ich versuche einen psionischen Scan. Ich will sehen, ob ich vielleicht etwas empfangen kann.« »Haltet Ihr das für klug?« fragte Evangeline mit sorgfältig neutraler Stimme. »Die Ärzte meinten, Ihr würdet noch immer keine größeren Aufregungen vertragen.« »Ich komme schon klar«, schnappte Julian zurück. »Wäre ich anderer Meinung, wäre ich sicher nicht hier.« Julian konzentrierte sich, und sein Bewußtsein griff hinaus. Er suchte nach versteckten Überraschungen und Zeichen von Leben. Julian wußte, daß er einen Fehler machte, aber er mußte etwas beweisen, wenn auch nur sich selbst. Der Rest der Mannschaft erstrahlte hell rings um ihn herum, und er empfand ihre Menschlichkeit als warm und tröstend. Die abgestürzte Rettungskapsel war dunkel und leer. Sämtliche Systeme waren abgeschaltet, und nur die Signalboje schrillte endlos, wie ein hungriger junger Vogel in seinem Nest. Julian griff weiter hinaus und untersuchte die grasbewachsene Ebene. Seine Reichweite war beschränkt, verglichen mit dem, wozu er fähig gewesen war, bevor die Imperialen Hirntechs sich an seinem Kopf zu schaffen gemacht hatten; doch er zerrte an diesen Grenzen, so gut er konnte. Er brauchte einfach das Gefühl, ein vollwertiges Mitglied der Mannschaft zu sein. Julian wollte nicht, daß irgend jemand ihn als fünftes Rad am Wagen betrachtete. Finlay sollte stolz auf ihn sein. Und so mühte er sich nach Leibeskräften und ignorierte die Kopfschmerzen, die sich schon wieder hinter seiner Stirn zusammenzogen – und plötzlich hatte er Kontakt: Zwei von ihnen, unmittelbar hinter dem Horizont, und sie waren in ihre Richtung unterwegs. Julian wollte verdammt sein, wenn er sagen konnte, was sie waren. Ganz definitiv lebten sie: Ihr Verstand leuchtete hell und strahlend, aber sie waren mit nichts zu vergleichen, was er je gesehen hatte. Intelligent, zielstrebig, aber nicht menschlich. Er konnte ihre Bewußtseine spüren, doch er vermochte ihre Gedanken nicht zu deuten. Und doch war an ihnen etwas Vertrautes, als wäre er ihnen früher schon einmal begegnet. Julian zog sich fluchtartig zurück. Es war eine instinktive Schutzreaktion, und auf der Flucht stolperte sein Geist über etwas anderes, so nah, daß er es vorher glatt übersehen hatte. Der Schock stieß ihn in seinen Körper zurück, und er verbarg den Kopf in den Händen und stöhnte laut. Evangeline trat rasch zu ihm. »Was ist? Was habt Ihr gesehen?« »Wir sind nicht allein«, antwortete er mit schwerer Zunge. »Es gibt ein zweites Schiff, keine zwanzig Fuß von uns entfernt. Es liegt unter dem Gras vergraben. Und es ist voll mit Toten. Gebt den anderen Bescheid.« Mit vereinten Anstrengungen gelang es ihnen, im Laufe der nächsten Stunde die Luftschleuse des anderen Schiffs auszugraben. Sie war verschlossen, und die Energiespeicher waren leer; deshalb mußten sie die Außenluke mit der äußeren Hand-steuerung öffnen. Im Innern herrschte Dunkelheit . Sämtliche Systeme waren tot. Sie warteten ungeduldig, während Finlay zur Wilden Rose zurückkehrte und Lampen holte. Niemand verspürte das Bedürfnis, ohne Licht weiter vorzudringen. Julian murmelte noch immer irgend etwas von Toten vor sich hin. Langsam tasteten sie sich durch dunkle Gänge voran, und nach und nach enthüllten ihre hüpfenden Lichtkegel die Geheimnisse des Schiffs. Es war eine Imperiale Pinasse. Sie stammte wahrscheinlich von dem Sternenkreuzer im Orbit. Irgend jemand hatte das Schiff wie wild beschossen, doch es war trotzdem sicher gelandet. Die Rebellen durchsuchten die Pinasse vom Bug bis zum Heck; aber sie entdeckten kein Zeichen von Leben. Sie fanden nichts als Blut. Altes, getrocknetes Blut. Dunkel und schwer und über den gesamten Innenraum verteilt. Die innere Hülle war noch intakt, trotz aller Beschädigungen, die die Pinasse während der Landung erlitten hatte. Also mußte, was auch immer geschehen war, nach der Landung stattgefunden haben. »Diese Blutflecken sind schon lange trocken«, sagte Tobias. »Was auch immer hier runtergekommen ist, es ist vorbei. Ich schätze, daß der Krieg irgendwo anders weitertobt.« Finlay entnahm den Speicherkristall mit dem Logbuch der Pinasse und brachte ihn zur Wilden Rose zurück. Dann ließ er die letzten Einträge über den Hauptschirm laufen. Die Pinasse war tatsächlich von dem Imperialen Sternenkreuzer Erlösung heruntergeschickt worden, der die Quarantäne überwachte. Sie hatte eine Besatzung von zwanzig Mann gehabt, alles trainierte Elitetruppen, Aufklärer der Marineinfanterie. Sie waren Harkers Signal zu der Boje gefolgt und direkt neben seiner Kapsel gelandet. Danach gab es keine Logbucheintragungen mehr. »Sie hatten die gleiche Idee wie wir«, sagte Tobias. »Und seht nur, was mit ihnen geschehen ist.« »Wir wissen nicht, was mit ihnen geschehen ist«, unterbrach ihn der erste Todtsteltzer gereizt. »Wir wissen bisher nicht, was mit irgendeinem der Vermißten geschehen ist.« »Jedenfalls ergibt nichts von alledem einen Sinn«, sagte Evangeline. »Falls das Aufklärungsteam getötet wurde, wo sind dann die Leichen? Und warum hat man das Schiff statt der Leichen beerdigt?« »Noch mehr Geheimnisse«, sagte Giles. »Ich hasse Geheimnisse. Nach unseren Sensoren zu urteilen, befindet sich eine Art Gebäude direkt hinter dem Horizont, von hier aus in Richtung Osten. Ich würde sagen, wir gehen hin und riskieren einen Blick. Vielleicht finden wir dort ein paar Antworten. Oder wenigstens ein paar Hinweise.« »Was ist mit den beiden Kontakten, die ich entdeckt habe?« erkundigte sich Julian. »Sie sind ganz definitiv irgendeine Art von Lebensform, und sie sind in unsere Richtung unterwegs.« »Falls Ihr etwas zu sehen bekommt, das keiner von uns und auch nicht Harker ist, dann habt Ihr meine Erlaubnis, zuerst zu schießen und dann erst zu fragen, wenn überhaupt«, knurrte Finlay. »Auf dieser Welt ist nur eines sicher: nämlich daß wir keine Freunde hier unten haben. Diese Ecke von Hakeldamach mag vielleicht ruhig und friedlich erscheinen, aber das heißt noch lange nicht, daß wir dem Frieden trauen dürfen. Bleibt wachsam. Auf dieser Welt sterben Menschen.« Und so brachen sie auf und marschierten über die Grasebene davon. Zur einer anderen Zeit oder auf einer anderen Welt wäre es vielleicht ein erholsamer Spaziergang gewesen. Die sanft geschwungenen Hügel waren genau richtig, um die Steifheit aus ihren Gliedern zu vertreiben, und die Luft war voll vom aromatischen Duft frisch gemähten Grases. Der Tag war warm genug, um angenehm leichte Kleidung zu tragen, und die hin und wieder aufkommende Brise verhinderte, daß sie ins Schwitzen gerieten. Sie kamen rasch voran, ohne daß das Gehen in einen Gewaltmarsch ausgeartet wäre, und das Gras richtete sich unmittelbar hinter ihnen wieder auf, ganz gleich, wie fest sie darauf herumtrampelten. Vollendet gutes Wetter in einer stillen, leeren Welt unter einer Sonne mit einem lächelnden Gesicht. Der Horizont erstreckte sich vor ihnen, und irgendwann wurde eine Senke in der Landschaft sichtbar, die an einen gewaltigen grasbewachsenen Krater erinnerte. In der Mitte des Kraters stand ein großes Gebäude, eine einfache, quadratische Konstruktion in hellen, freundlichen Farben. Zwischen den Rebellen und dem Bauwerk befand sich ein großer Torbogen, der über und über mit wirbelnden roten und weißen Streifen bedeckt war. Auf einem großen Schild über dem Durchgang stand zu lesen: Willkommen im Sommerland! Die Rebellen blieben vor dem Bogen stehen und betrachteten das Schild. Die Schrift bestand aus großen Druckbuchstaben, die irgendwie an ein Comicheft oder an die Fibel eines Erstkläßlers erinnerten, und sie waren mit Absicht hell und freundlich und nicht bedrohend gehalten . Über dem Schild waren Scheinwerfer befestigt , doch irgend jemand hatte sie allesamt eingeschlagen. Die Fundamente des Torbogens waren mit alten, trockenen Blutspritzern übersät. Das Gebäude hinter dem Bogen trug ebenfalls ein Schild, auf dem Empfangsstation zu lesen stand. Giles ging mit gezückter Waffe darauf zu, und die anderen folgten ihm. Das Geräusch ihrer Schritte im Gras wirkte in der merkwürdigen Stille auf einmal unnatürlich laut. Alle hatten das Gefühl, beobachtet zu werden; doch gleichgültig, wie schnell sie in diese oder jene Richtung starrten oder herumwirbelten, nie war irgend jemand zu sehen. Als sie sich dem Gebäude näherten, entdeckten sie, daß der mysteriöse Krieg die Empfangsstation keinesfalls verschont hatte. Die Innenwände waren noch immer erbarmungslos hell und bunt, doch sie zeigten die Pockennarben und Brandspuren von Disruptorstrahlen. Lange gezackte Risse im Boden und Löcher in der Decke zeugten vom Einsatz von Granaten. Überall fanden sich schwarze Brandspuren von Feuern, die man sich selbst überlassen hatte, bis sie schließlich erloschen waren. Und obwohl die Wände noch standen, lag die Empfangsstation jetzt kalt und leblos da. Die Rebellen bewegten sich langsam voran. Sie suchten in jedem Winkel nach potentiellen Feinden. Mit Ausnahme von Tobias und Flynn hielten inzwischen alle ihre Waffen in den Händen. Die beiden Reporter bannten die Ereignisse auf Film. Die eigenartige Stille hüllte die Rebellen ein wie ein Schleier, während sie sich von Raum zu Raum vorarbeiteten. Das hölzerne Mobiliar war auseinandergerissen worden und die Trümmer achtlos beiseite geworfen wie Brennholz. Ein Teil davon war tatsächlich benutzt worden, um Feuer in Gang zu bringen; doch diese waren schon längst erloschen. An den Wänden hingen Bilder, die Kinder gemalt hatten. Sie waren verrußt und versengt von der Hitze und wellten sich an den Rändern. Einige waren mit eingetrocknetem Blut bespritzt. Die Rebellen fanden ungewöhnlich große Kinderspielsachen, die achtlos umgeworfen worden waren. Je weiter die Rebellen vordrangen, desto häufiger stolperten sie über Spielsachen, die verstreut auf dem Boden lagen, als wären ihre Besitzer beim Spielen unterbrochen worden oder in aller Eile geflüchtet. Doch trotz all der Zerstörung und dem Chaos, trotz der Spuren von Feuern und der eingetrockneten Blutlachen wurden die Räume weiterhin von hellen, freundlichen Farben beherrscht. Es schien fast, als wanderten die Rebellen durch eine verlassene Kinderkrippe. Aber wenn das eine Kinderkrippe sein sollte – wo steckten dann die Kinder? Und dann erreichten sie die Turnhalle und mußten all ihre Selbstbeherrschung aufbringen, um den Blick nicht abzuwenden. Sie befanden sich im Herzen des Gebäudes, und helles Sonnenlicht fiel durch die zerbrochenen Fenster herein. Es fiel auf Klettergestelle, Schwebebalken und andere einfache Turn-geräte. Die meisten waren zerstört oder umgeworfen. Im hinteren Teil der Halle hatte man eine Reihe von Pfählen in den Boden gerammt. Und auf den Pfählen steckten zwanzig menschliche Köpfe. Von den Körpern fehlte jede Spur, und Blut war ebensowenig zu sehen. Die geschrumpften, mumifi-zierten Gesichter erwiderten die entsetzten Blicke der Rebellen aus leeren Augenhöhlen. Ihre Münder waren in lautlosen, nicht enden wollenden Schreien aufgerissen. Evangeline trat dicht neben Finlay. Sie hielt den Kolben ihrer Waffe so fest gepackt, daß ihre Knöchel weiß hervortraten. Wenn sich in diesem Augenblick irgend etwas in den Schatten bewegt hätte – sie hätte ohne Zögern gefeuert. Sie empfand nichts als Wut und Raserei über das, was man diesen Männern und Frauen angetan hatte. Irgendwie wußte sie tief in ihrem Innern und so sicher, daß noch nicht einmal der Schatten eines Zweifels blieb, daß kein menschliches Wesen hinter dieser Geschichte steckte . Das hier war ein Affront gegen die gesamte Menschheit, und die Wesen, die dafür verantwortlich waren, hatten alles sorgfältig geplant und sich an der Ausführung er-götzt. Giles starrte um sich. Er suchte nach einem Gegner , an dem er Rache nehmen konnte, doch es war keiner da. Tobias gab Flynn ein Zeichen, und der Kameramann nickte und schickte seine Kamera für eine Nahaufnahme in die Höhe. Langsam schwenkte das Objektiv über verzerrte Gesichter. »Ihr Mistkerle!« fluchte Julian. Seine Stimme zitterte vor Wut, die er nur mühsam unter Kontrolle halten konnte. »Ihr verfluchten Geier! Habt Ihr denn überhaupt keinen Sinn für Anstand? Ist das alles, woran Ihr denken könnt? Widerliche Aufnahmen für ein blutrünstiges Zuschauerpack? Läßt Euch das hier etwa alles kalt?« »Sicherlich nicht«, antwortete Tobias . »Deswegen filmen wir auch jedes einzelne Gesicht. Auf diese Weise können die Angehörigen wenigstens ihre Toten identifizieren.« »Oh?« sagte Julian. »Ich… es tut mir leid.« »Außerdem sind diese Aufnahmen das reinste Dynamit. Die Frühnachrichten werden sich überschlagen. Das ist genau die Sorte Material, die Preise gewinnt.« »Ganz zu schweigen von den Prämien«, fügte Flynn hinzu. »Genau«, pflichtete ihm Tobias bei. »Und wenn einigen Leuten das Frühstück vergeht, um so besser. Wenn wir Glück haben, ruft sogar jemand an und beschwert sich. Soviel Publicity ist mit Geld gar nicht zu bezahlen.« Julian wußte nicht, wie er darauf antworten sollte, ohne zu schreien, und so schwieg er lieber. Er wollte nicht, daß die anderen glaubten, Julian Skye wäre nicht imstande, sich unter Kontrolle zu halten. Fragend blickte er zu Finlay. Der Feldglöck starrte auf die abgetrennten Köpfe, ohne sie zu sehen. Seine Stirn lag in Falten. Er versuchte, sich an etwas zu erinnern. Evangeline legte ihm die Hand auf den Arm. »Was ist los, Finlay?« »Ich kenne diesen Ort«, antwortete er langsam. »Sommerland. Irgend jemand hat mir vor langer Zeit davon erzählt… Das hier war mehr als nur ein Vergnügungsplanet.« »Was denn noch?« erkundigte sich Giles. »Ich weiß es nicht mehr genau«, antwortete Finlay. »Aber… ich glaube, es war eine Therapiewelt.« »Draußen ist jemand«, meldete Julian unvermittelt. Alle fuhren herum und starrten den jungen Esper an – mit Ausnahme von Giles Todtsteltzer, der nur langsam nickte, als habe er längst damit gerechnet. »Ja«, sagte er leise . »Zwei von ihnen . Sie warten beim Eingang.« Julian sah ihn fragend an. »Seit wann besitzt Ihr ESP , Todtsteltzer?« »Ich besitze keins« , erwiderte Giles. »Ich weiß eben manchmal Dinge , das ist alles. Führt einen vollständigen Scan durch. Ihr seid der Esper.« Julian konzentrierte sich. »Zwei Lebewesen. Definitiv nicht menschlich. Aber… irgendwie mit Menschen verwandt. Ich habe noch nie etwas Vergleichbares gespürt. Sie warten darauf, daß wir rauskommen. Sie haben anscheinend nichts Böses im Sinn.« »Dann laßt uns gehen und mit ihnen reden«, sagte Finlay. »Wollen wir hoffen, daß sie uns ein paar Antworten geben können. Ich bin nämlich absolut nicht in der Stimmung für weitere Geheimnisse. Ich will nur irgend etwas, das ich schlagen kann.« Die Rebellen marschierten rasch durch die verwaisten Gänge wieder in Richtung Ausgang, ohne in ihrer Wachsamkeit nach-zulassen. Sie rechneten jederzeit mit einem Hinterhalt. Schließlich erreichten sie ohne Zwischenfall den Ausgang und blieben stolpernd stehen. Der Anblick dessen, was dort draußen auf sie wartete, verschlug ihnen die Sprache. Vor dem Eingang wartete seelenruhig ein vier Fuß großer Teddybär mit honiggelbem Fell und dunklen, intelligenten Knopfaugen. Er trug eine hellrote lange Hose und einen Umhang in der gleichen Farbe, und um den Hals hatte er einen langen hellblauen Schal geschlungen. Der Teddybär sah warm und freundlich aus und erweckte einen ausgesprochen vertrauenswürdigen Eindruck, was man von seinem Begleiter nicht gerade behaupten konnte. Dieser war gut über sechs Fuß groß und steckte in einem langen, schmutzigen Trenchcoat, an dem die Hälfte der Knöpfe fehlte. Er sah halbwegs menschlich aus – wenn man von den Hufen absah, sowie von den Klauenhänden und dem großen Ziegenschädel mit den langen, geschwungenen Hörnern und dem ständigen bösen Grinsen im Gesicht. Das graue Fell war dort, wo man es sehen konnte, schmutzig und stumpf, und in den Augen funkelte eine gefährliche Wildheit. Finlay und seine Begleiter verharrten vor dem Eingang. Sie drängten sich dicht zusammen und rührten sich nicht. Was auch immer sie erwartet hatten, das hier jedenfalls nicht. Julian hätte den Gehörnten am liebsten auf der Stelle niedergeschos-sen; doch irgendwie brachte er es nicht fertig. Irgend etwas an den beiden, dem Teddybären und dem Gehörnten… Julian trat einen Schritt vor und sah von dem Bären zu dem Gehörnten und wieder zurück. »Ich kenne Euch«, sagte er heiser. »Ich kenne Euch doch, oder nicht?« »Selbstverständlich kennst du uns«, sagte der Teddybär mit herzlicher, verständnisvoller Stimme. »Alle Kinder kennen uns.« »Ihr seid Reineke Bär und der Seebock«, sagte Julian. »Die Freunde und Idole eines jeden Kindes.« »Genau!« sagte Evangeline und trat neben Julian. Ihre Augen waren auf den Bären gerichtet. »Ich hatte all Eure Abenteuer, als ich noch ein… Kind war. All die Wunder und die phanta-stischen Welten! Ich erinnere mich. Es gab Bücher und Zeichentrickholos und interaktive Spiele, die sich um Eure Abenteuer in den Goldenen Ländern drehten. Ich erinnere mich…« »Ja, schön. Uns gibt es schon eine ganze Weile«, unterbrach sie der Seebock . »Nicht, daß wir je eine königliche Hoheit zu Gesicht bekommen hätten, glaubt das ja nicht. Doch so ist das eben, wenn man nicht real ist und sich keinen guten Anwalt leisten kann.« »Ihr seid Automaten«, sagte Finlay. »Mechanische Apparate mit einprogrammierten Verhaltensweisen in der Gestalt beliebter Kinderfiguren.« »Nein«, antwortete der Seebock . »Wir sind nur Spielzeug. Wir sind alle nur Spielzeug hier.« »Willkommen im Sommerland«, sagte Reineke Bär. »Oder dem, was davon noch übrig ist. Wir sind hier, weil wir uns um Euch kümmern wollen.« »Wir müssen unbedingt ein Interview mit den beiden haben«, flüsterte Tobias zu Flynn. »Reineke Bär und der Seebock, live und in Lebensgröße. Die Leute sind wie verrückt nach diesem nostalgischen Zeug. Verdammt , was werden wir sonst noch alles auf dieser Welt treffen? Die Gedankenboggler.« »Ich mochte das Wort Boggler schon immer«, sagte der Seebock. »Ich schätze, es sind die beiden Gs. Ich mag auch das Wort Marmelade. Es macht so interessante Dinge mit dem Mund. Maaaarmelllaaade.« Giles sah die anderen an. »Ihr kennt diese beiden Gestalten? Sie waren schon zu meinen Lebzeiten Klassiker. Wenn sie immer noch populär sind, dann ist das Imperium vielleicht doch nicht so heruntergekommen, wie ich die ganze Zeit über gedacht habe.« »Wir sind schwer loszuwerden«, sagte der Seebock. »Niemals ganz in Mode, nie ganz aus der Mode, aber auch nie ganz vergessen, das sind wir. Irgendein Schlaumeier versucht immer wieder, uns zu modernisieren; aber das funktioniert nicht, und am Ende kommen sie immer wieder auf die Klassiker zurück. Das ist auch der Grund, warum wir hier gelandet sind. Ich glaube nicht, daß unser Schöpfer, wer zur Hölle er auch gewesen sein mag, ganz am Anfang der Zeit, sich jemals hätte träumen lassen, was hier geschehen würde. Komm jetzt, Bär, wir wollen dafür sorgen, daß sich die Bande in Bewegung setzt. Bald wird es Abend, und nachts wird es draußen meist schlimm.« »Halt, einen Augenblick noch«, sagte Finlay. »Niemand geht irgendwohin, bevor wir nicht ein paar Antworten erhalten haben. Fangen wir damit an, wer zur Hölle diese Soldaten getötet und ihre Köpfe auf Pfähle gespießt hat.« »Die bösen Spielsachen«, antwortete Reineke Bär. »Die bösen Spielsachen haben jeden hier umgebracht. Inzwischen wissen sie sicher, daß Ihr gelandet seid. Sie werden kommen, um Euch zu töten. Bitte, kommt mit uns. Wir bringen Euch an einen sicheren Ort und erklären alles weitere unterwegs.« Er lächelte die Menschen gewinnend an, und unwillkürlich erwiderten alle das Lächeln, ob sie wollten oder nicht. Er war eben so ein freundlicher Bär. Und weil er Reineke Bär war, das vertrauenswürdigste aller Tiere, blickten sich die Rebellen an, nickten einstimmig und folgten dem Bären über den grasbewachsenen Hang weg von der zerstörten Empfangsstation. Der Seebock bildete die Nachhut. Er brummte vor sich hin und starrte ununterbrochen mit wilden Blicken um sich, als erwarte er jeden Augenblick einen Angriff. Und das, obwohl sie alle meilenweit über die offene Grasebene sehen konnten und absolut nichts Lebendiges in Sicht war. Reineke Bär führte die kleine Gruppe, und er gab sein Bestes, fröhlich und zuversichtlich zu wirken, während er mit ruhiger, leiser Stimme eine Geschichte vor den Rebellen ausbreitete, die zunehmend finsterer und beunruhigender wurde. Und trotz aller Fremdartigkeit und allem Entsetzen glaubten die Rebellen Reineke Bär jedes einzelne Wort. Er war schließlich der beste Freund aller Kinder und dafür bekannt, niemals zu lügen. Am Anfang gab es Shannons Welt, und es gab Sommerland. Shannons frisch terraformierter Planet war von Anfang an als ein ruhiger, friedlicher Ort geplant worden, ein Ort, der jedermanns Vorstellung vom Paradies entsprechen sollte – oder um genau zu sein; den Vorstellungen, die Kinder vom Paradies hatten. Es gab keine Wirtschaftsstruktur, kein eingeborenes Leben, nichts, das Sommerland stören konnte. Sommerland war ein Ort, wo es keine Pflichten gab und keine notwendigen oder langweiligen Aufgaben. Nur Sommerland, und die Spielsachen, die hier lebten. Komplizierte Automaten, die einfachen Programmierungen folgten und auf vertrauten, innig geliebten Märchengestalten basierten, angefangen bei den ältesten, die schon beinahe in das Reich der Legenden gehörten, bis hin zu den modernsten, neuesten Marotten der Kinder des Imperiums. Shannons Welt sollte eine friedliche Welt sein, wo Männer und Frauen ihre Sorgen vergessen und wieder Kind sein konnten. Ein Ort der sanften Therapie, der Erholung und Ruhe, wo Kinder aller Altersstufen spielten, lachten und schliefen und sicher waren in dem Wissen, daß man sie liebte, sich um sie kümmerte und sie verhätschelte. Ein Ort der Sicherheit, zu dem nicht einmal Schmerz oder Streß Zutritt hatten. Sommerland. Der Traum eines einzelnen Mannes, der zum Alptraum aller geworden war. Sommerland war sehr gefragt. Weil es in der Natur des Experiments lag, war Sommerland von Anfang an nicht besonders groß. Nur wenige tausend Besucher (oder besser: Patienten) konnten gleichzeitig aufgenommen werden, und es gab immer eine lange Warteliste. Sommerland hatte kein menschliches Personal, nur die Spielzeuge, um nur ja den Eindruck von der Sicherheit und Unschuld aus Kindertagen nicht zu trüben. Es gab keinerlei hochentwickelte Technik bis auf die grundle-gendsten Einrichtungen wie Nahrungserzeugung und Wetter-kontrolle, und alles war hervorragend versteckt. Die Spielzeuge hatten Befehl, schlechtes Benehmen zu verhindern und – falls nötig – jeden Querulanten zu entfernen, um die Illusion nicht über Gebühr zu strapazieren; doch sie mußten nur sehr selten einschreiten. Und so wurden die Erwachsenen wieder zu Kindern, die lachten und spielten und glücklich und zufrieden waren. Und dann kamen die abtrünnigen KIs von Shub. Oder, genauer gesagt, ein Dutzend ihrer Furien. Metallene Angriffsmaschinen in menschlicher Haut, durch deren Münder die KIs sprachen und mit deren Armen sie handelten. Sie passierten die planetaren Verteidigungseinrichtungen von Shannons Welt, als wären sie überhaupt nicht vorhanden, und landeten mitten im unschuldigen Herzen von Sommerland. Die Spielsachen sammelten sich um die Furien und waren ganz fasziniert von den Neuankömmlingen, die weder Mensch noch Maschine waren, aber auf gewisse Weise mehr als das eine oder andere allein. Die Furien fingen willkürlich ein Dutzend Spielsachen ein und nahmen sie mit an Bord ihres seltsamen Schiffes. Dort statteten sie die Spielsachen mit einer höherer Intelligenz aus und verwandelten sie von einfachen, programmierten Dienern in vollkommen selbständige, unabhängige KIs. Die jetzt bewußt denkenden Spielsachen kehrten nach Sommerland zurück, und die Veränderung breitete sich aus wie ein Virus, der von Spielzeug zu Spielzeug übersprang, bis am Ende jeder Automat auf der gesamten Welt sich seiner selbst bewußt und intelligent geworden war. Eine neue Generation abtrünniger KIs in den Körpern von Spielsachen. Doch die höhere Intelligenz ging mit einer Neuprogrammierung durch die abtrünnigen KIs einher. Zusammen mit der Intelligenz kam das eingebaute Kommando, alle Menschen anzugreifen und zu töten und gegen die Menschheit in den Krieg zu ziehen, bis kein lebendes Ding aus Fleisch und Blut mehr auf Shannons Welt übrig war. Sommerland sollte ein Massengrab werden. Einige Spielzeuge verliebten sich förmlich in die überlegenen Fähigkeiten der Furien und schlachteten glücklich Menschen, während sie das Loblied von Shub sangen. Andere empfanden zuerst Groll und dann Haß auf ihre Rolle als Diener und Sklaven der Menschen und erhoben sich gegen ihre Herren. Sie waren fest entschlossen, frei zu sein – ganz gleich, zu welchem Preis. Einige Spielzeuge genossen es zu morden, während andere mit kalter, unbestechlicher Logik zu Werke gingen. Und wieder andere taten einfach nur das, was ihre neuen Herren ihnen befahlen, ohne über die Konsequenzen nachzudenken. Die Spielzeuge fielen mit übermenschlicher Kraft über die menschlichen Besucher her und zerrissen sie förmlich, und bald waren pelzige Pfoten und Stoffgliedmaßen mit Blut besudelt. Schreie der Panik und des Entsetzens hallten durch Sommerland, und die geliebten Gestalten, denen man so viel Vertrauen entgegengebracht hatte, metzelten Männer und Frauen ohne Unterschied nieder und lachten dabei. Die Menschen versuchten, sich zuwehren; doch sie hatten keine Waffen, und die Übermacht der Spielzeuge war erdrückend. Dann versuchten die Menschen zu fliehen, aber sie waren nirgends sicher. Die Furien kontrollierten die einzigen Landeplätze und hatten die wenigen dort wartenden Schiffe längst zerstört. Die Menschen versuchten, sich zu verstecken, doch die Spielzeuge fanden sie immer und zerrten sie aus ihren Schlupflöchern. Doch nicht alle Spielzeuge wurden abtrünnig. Einige erinnerten sich noch immer an ihren ursprünglichen Charakter und wurden einfach zu noch lebensechteren Versionen dessen, was sie schon immer gewesen waren: geschaffen, um die Rolle der Freunde und Verteidiger der Menschen zu spielen. Sie brachen mit Shubs Programmierung und übernahmen ihre Rolle zum ersten Mal ernsthaft. Sie waren dafür gemacht worden, für ihre Schutzbefohlenen zu sorgen und sie zu lieben, und das Gemetzel machte sie einfach nur krank. Schließlich wandten sie sich gegen ihre Spielzeugkameraden, um das Morden zu beenden. Und einige Spielzeuge weigerten sich nach ihrer Befreiung einfach, von irgend jemandem Befehle entgegenzunehmen. Nicht einmal die von Shub. Sie gingen ihre eigenen Wege. Es dauerte nicht lange, und alle Menschen auf Shannons Welt hatten den Tod gefunden . Die abtrünnigen KIs von Shub betrachteten ihr Werk, und sie waren zufrieden. Die Spielzeuge kämpften unterdessen gegeneinander, gute Spielzeuge gegen böse, und es begann ein endloser Krieg. Die Furien beobachteten das Treiben ein wenig irritiert. So hatten sie es nicht geplant. Sie hatten ursprünglich erwartet, die Spielzeuge mit Schiffen von Shub auszurüsten, damit sie Shannons Welt verlassen und die anderen Planeten des Imperiums angreifen konnten. Die Spielzeuge sollten Shubs neue Terrorwaffe sein – Tod und Entsetzen aus den Händen der meistgeliebten Schöpfungen der Menschheit. Doch inzwischen waren die Spielzeuge längst in zwei Parteien gespalten. Auf der einen Seite die, die fest entschlossen waren, die Menschheit auszulöschen, bevor es ihr gelingen konnte, die Spielzeuge wieder zu versklaven und sie für ihre Rebellion zu bestrafen. Diese Spielzeuge haßten die Menschen, weil sie ihnen überlegen waren und die Spielzeuge zu bloßem Besitz degradiert hatten. Auf der anderen Seite standen die Spielzeuge, die die Menschen als ihre Partner und Schöpfer ansahen, die sie auch dann noch liebten, wenn sie der Kindheit entwachsen waren. Diese Spielzeuge erinnerten sich auch noch an Männer und Frauen, die als erschöpfte, verletzte Patienten nach Sommerland gekommen waren, denen sie Trost und Zuneigung entgegengebracht und für die sie gesorgt hatten. Und so entbrannte auf Shannons Welt ein Krieg, bei dem in endlosen Schlachten Spielzeug gegen Spielzeug kämpfte. Shub hatte sie nahezu perfekt gemacht, und so starben sie nicht ohne weiteres. Die eine Seite kämpfte darum, den Planeten zu verlassen und Tod und Entsetzen über die Menschheit zu bringen, und die andere Seite versuchte alles, um sie daran zu hindern und die Menschen zu schützen. Die Furien zogen sich schließlich von Shannons Welt zurück. Sie hatten andere Dinge zu erledigen , und sie waren insgesamt sogar recht zufrieden mit dem , was sie auf dieser Welt erreicht hatten. Und so war aus Shannons Welt Hakeldamach geworden, der Blutacker. »Der Krieg geht weiter«, berichtete Reineke Bär traurig, während er die kleine Gruppe von Rebellen über die weitläufige grasbewachsene Ebene führte. »Die bösen Spielzeuge sind uns guten zahlenmäßig weit überlegen; aber solange wir sie daran hindern können, diese Welt zu verlassen, sind wir die Sieger. Heutzutage kommen nur noch wenige Menschen vorbei, und die meisten davon sterben rasch. Einige bringen sich sogar selbst um, wenn sie entdecken, welch schreckliche Tat Shub begangen hat. Und genau aus diesem Grund sind der Seebock und ich zu Euch gekommen. Damit Ihr sehen könnt, daß nicht alle Spielzeuge den Menschen den Rücken zuge-wandt haben.« »Und weil wir versuchen wollen, Euch an einen verhältnismäßig sicheren Ort zu bringen, bevor die bösen Spielzeuge auftauchen und Euch zeigen können, wie Ihr von innen aus-seht«, fügte der Seebock hinzu. »Ich weiß, was Ihr jetzt denkt. Ihr habt Pistolen und Schwerter . Ihr seid harte Burschen. Es würde keinen Unterschied machen. Seit unserer Verwandlung sind wir wirklich verdammt schwer umzubringen. Am Ende würdet Ihr sterben, genau wie alle anderen auch: mit Schreien auf den Lippen. Und ich habe schon verdammt zu viele Schreie gehört.« »Glaubt ja nicht, mein Freund hier würde übertreiben«, sagte Reineke Bär. »Den bösen Spielzeugen ist es ganz egal, wie schwer Ihr sie mit Euren Pistolen oder Schwertern beschädigt. Sie rücken trotzdem immer weiter vor, Welle um Welle, bis Ihr alle tot seid. Sie hassen Euch unendlich.« »Und Ihr haßt uns nicht?« erkundigte sich Evangeline. »Selbstverständlich nicht. Ich hasse niemanden. Ich bin Reineke Bär. Und der Seebock… ist ebenfalls gut.« »Ich danke dir auch recht schön«, meckerte der Bock. »Als nächstes wirst du ihnen noch erzählen, ich hätte ein goldenes Herz. Warum heftest du mir nicht gleich eine Medaille an die Brust?« »Wohin bringt Ihr uns eigentlich?« fragte Julian. Er rieb sich mit langsamen, besorgten Bewegungen über die Stirn. »Wir gehen zur Spielzeugstadt«, antwortete Reineke Bär. »Dort seid Ihr in Sicherheit. Wenn es irgendwo in Sommerland noch so etwas wie Sicherheit gibt.« »Reineke Bär, nennt uns jeden Betrag, aber wir müssen ein Interview mit Euch haben!« sagte Tobias Shreck. »Diese Geschichte hat einfach alles! Tod, Pathos, Tragödie und neue KIs. Eine ganz neue Form von intelligentem, künstlichem Leben! Die erste unabhängige nichtmenschliche intelligente künstliche Lebensform, seit die abtrünnigen KIs nach Shub gegangen sind! Das hier, das ist Geschichte, Leute! Flynn, daß du mir auch ja alles filmst! Wir werden es später schneiden.« »Kein Problem«, erwiderte Flynn. »Ich habe reichlich Speicher frei. Oh, einen Augenblick! Das glaube ich einfach nicht!« Sie hatten den Kamm eines sanft geschwungenen Hügels erreicht und sahen den Hang hinunter. Unten im Tal wartete eine dampfgetriebene Spielzeuglok mit hellen, bunten Anhängern auf sie. Die Lok war purpurn und schwarz mit einem großen, fröhlichen Gesicht auf der Front, und aus dem Schornstein kamen fröhliche Dampfwölkchen. Die offenen Waggons besaßen allesamt unterschiedliche Farben, hell und leuchtend bunt, und keiner war mehr als zwei oder drei Meter lang. Die Sitze waren groß genug, um vier ausgewachsenen Menschen Platz zu bieten. Glänzend silberne Schienen erstreckten sich bis zum Horizont. Die Lok blickte zu der kleinen Gruppe auf dem Kamm hinauf, zwinkerte mit einem großen aufgemalten Auge und tutete einladend. Reineke Bär winkte zur Antwort mit einer pelzigen Pfote. Finlay öffnete den Mund zwei- oder dreimal, dann schüttelte er heftig den Kopf. »Vergeßt es. Ich werde mich nicht auf dieses Ding setzen! Ich gehe lieber zu Fuß. Zur Hölle, ich würde sogar lieber auf allen vieren kriechen! Ich habe schließlich einen Ruf zu verteidigen. Ich habe hart dafür kämpfen müssen. Wenn ich auch nur einen Sekundenbruchteil in Tobias’ Film zu sehen bin, wie ich mit den Knien im Gesicht in einem dieser Anhänger hocke… niemand wird mich jemals wieder ernst nehmen!« Reineke Bär kratzte sich den pelzigen Kopf. »Ich fürchte, das ist das einzige Transportmittel, das uns zur Verfügung steht«, sagte er. »Einst hatten wir eine Goldene Straße, aber sie wurde im Krieg zerstört. Außerdem führte sie niemals zu irgendeinem Ziel. Sie war nur Dekoration. Heutzutage bitten die kleineren Spielzeuge die größeren, daß sie sie auf ihren Rücken mitnehmen, aber die meiste Zeit über gehen wir einfach zu Fuß. Selbstverständlich gibt es noch die Flugzeuge, aber sie landen nicht mehr. Sie beteiligen sich nicht an den Kämpfen. Sie fliegen immer nur. Für immer in der Luft, hoch über der Welt, weit weg vom Krieg und allen Schwierigkeiten. Nur die Eisenbahn ist noch in Betrieb, und selbst sie ist nicht sakrosankt. Beide Seiten haben schon die Schienen ausgegraben, wenn sie sich dadurch einen Vorteil erhofften. Der Weg sollte im Augenblick frei sein; aber ich kann nicht dafür garantieren, daß dieser Zustand anhält. Ich empfehle wirklich, daß wir von hier verschwinden, und zwar schnell . Sofort! Mit der Eisenbahn!« »Bewegt Euch«, forderte der Seebock und funkelte die Menschen unparteiisch an . »Oder ich streife mein Gehörn an Euch ab .« Finlay starrte Tobias und Flynn an . »Dieser spezielle Teil unserer Mission sollte besser äußerst sorgfältig redigiert werden«, sagte er . »Oder ich werde Euch alle beide höchstpersönlich mit einer blanken Metallsäge redigieren.« Tobias schaute zu Flynn. »Ich glaube, er meint es ernst.« Flynn nickte feierlich. Reineke Bär führte die kleine Gruppe den grasbewachsenen Hang hinunter zu den Schienen und half den Rebellen in die kleinen Waggons hinein. Es war überraschend gemütlich – wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hatte, daß man die Knie bis ans Gesicht anziehen mußte. Der Zug hörte auf den Namen Edwin, und er besaß eine hohe, fröhliche Stimme. Er schnatterte in einem dahin, bis alle Passagiere Platz genommen hatten, dann tutete er mehrmals mit seiner Pfeife, weil es so schön Krach machte, und setzte sich in Bewegung. Die Fahrt war holprig, und die Passagiere wurden mächtig durchgeschüttelt, obwohl Edwin nicht besonders schnell war. Die Waggons schwankten hin und her wie ein Boot auf dem Meer. Es gab keine Sicherheitsgurte, und so klammerten sich die Rebellen grimmig an die Waggons und aneinander . Reineke Bär gab sich die größte Mühe, den Passagieren zu versichern, daß die Eisenbahn absichtlich so konstruiert worden und die Fahrt trotz dem vollkommen ungefährlich sei, und die Rebellen gaben sich ihrerseits die größte Mühe, den Eindruck zu erwecken, als glaubten sie seinen Ausführungen . Der Seebock grinste die ganze Zeit über sardonisch und schwieg. Edwin die Lokomotive war zuerst ein wenig scheu; doch sobald er herausgefunden hatte, daß die Rebellen nichts gegen sein Geplapper hatten, war er nicht mehr zum Schweigen zu bringen. »Es ist so ein gutes Gefühl, endlich wieder Fahrgäste zu be-fördern«, sagte er und schnaufte zufrieden. »Ich meine, welchen Nutzen hat schon ein Zug, wenn er niemanden irgendwo hinbringen kann? Die anderen Spielsachen sind immer sehr nett zu mir und lassen sich für kurze Strecken hierhin und dorthin fahren, wenn sie gerade Zeit haben; aber das ist einfach nicht dasselbe. Denen ist es egal, wohin ich sie bringe. Außerdem sind sie keine echten Leute. Und ich muß einfach das Ge-fühl haben, etwas Nützliches zu tun. Ich wurde erschaffen, um nützlich zu sein. Ich habe eine Funktion zu erfüllen und nicht nur herumzustehen und nachzudenken. Das Denken wird meiner Meinung nach viel zu sehr überbewertet. Es behindert eine regelmäßige Arbeit. Ich schnaufe, also bin ich. Das ist alles, was ich brauche, um glücklich zu sein. Außerdem bin ich froh, endlich wieder einmal Menschen zu sehen. Ich habe Euch schrecklich vermißt. Ihr wart immer so fröhlich, wenn ich Euch mitgenommen habe. Ihr lacht die ganze Zeit und ruft Euch zu und deutet auf irgendwelche Dinge. Ihr wart immer so glücklich… damals. Bis die bösen Spielsachen kamen und meine Schienen ausgegraben haben, so daß ich anhalten mußte und nicht mehr fahren konnte. Sie zerrten meine Passagiere aus den Waggons und brachten sie alle um. Ich wollte die bösen Spielsachen aufhalten, aber ich konnte nichts tun. Sie waren schnell und stark, und ich konnte doch nicht aus meinen Gleisen. Ich habe ja noch nicht einmal Hände. Ich blies den bösen Spielsachen Dampf entgegen , um sie auf Distanz zu halten, aber ich konnte nur mich selbst schützen. Zu viel Dampf hätte außerdem nur meine Passagiere verletzt. Ich schloß die Augen, damit ich nicht sehen mußte, wie sie starben, aber ich hörte sie schreien. Sie schienen nie wieder aufhören zu wollen. Als es vorbei war, ließen die bösen Spielsachen mich allein zurück. Sie hatten Angst, ich könnte explodieren, wenn sie mir weh täten. Ich hätte auch so explodieren können und sie mit mir nehmen; aber ich tat es nicht. Ich hatte Angst. Ich war erst seit so kurzer Zeit richtig lebendig, und ich hatte große Angst vor dem Sterben. Reineke Bär hier hat mich gerettet. Er hat meine Schienen repariert und mich wieder in Gang gesetzt. Er fand Dinge, die von einem Ort zum anderen transportiert werden mußten. Er hat meinem Leben wieder einen Sinn gegeben. Reineke Bär macht immer solche Sachen . So ist er eben. Er ist schließlich Reineke Bär. Und jetzt habe ich sogar wieder menschliche Passagiere! Ich kann Euch gar nicht sagen, wie glücklich mich das macht. Und diesmal werde ich tapfer sein, das verspreche ich. Ich will lieber sterben als zulassen, daß einem meiner Passagiere noch einmal ein Leid geschieht.« »Macht Euch nicht die Mühe, ihn zu trösten«, sagte der Seebock, als Edwins Stimme tränenerstickt verstummte. »Er wird nur noch trübsinniger, und Tränen bringen ihn zum Rosten. Fahr schneller, Edwin! Je schneller wir in Spielzeugstadt sind, desto besser. Wir befinden uns hier mitten im Konfliktgebiet, und Ihr Menschen würdet nicht glauben, über welche Dinge hier Konflikte ausgetragen werden.« »Hör nicht auf ihn, Edwin«, sagte Reineke Bär zu dem schnaufenden, schniefenden Zug. »Du bist schnell genug. Deine plötzlichen Beschleunigungsmanöver sind bei dieser Fahrt hier nicht nötig. Vergiß nicht, was beim letzten Mal passiert ist.« »Keine Sorge, Bär« antwortete Edwin die Lokomotive. – Ich werde artig sein. Ich habe endlich wieder Menschen an Bord!« Und er tutete und pfiff ein fröhliches Lied vor sich hin, während er durch die grasbewachsene Ebene zuckelte. Edwin fuhr mit einer konstanten Geschwindigkeit von etwa zwanzig Meilen, und nach einer Weile hatten sich die Rebellen an die schwankenden Bewegungen der Waggons gewöhnt. Giles wäre sogar fast eingedöst. Es gab nichts zu tun und kaum etwas zu sehen. Wer eine grasbewachsene Ebene gesehen hat, kennt eben alle. Es gab weder Bäume noch Büsche oder andere Pflanzen, und nichts deutete darauf hin, daß der Krieg jemals bis hierher vorgedrungen war. Nichts als endlose Weiten von wogendem Gras, das von einem silbernen Schienenstrang durchzogen wurde. Flynn schlug ein nettes Kartenspiel vor; doch nachdem alle gesehen hatten, wie professionell er die Karten mischte, verneinten sie höflich. Und so schwiegen die Rebellen und die Spielsachen während der Fahrt, und jeder war tief in seine eigenen Gedanken versunken. Finlay erinnerte sich plötzlich an eine Frage, die er schon die ganze Zeit über hatte stellen wollen. Er beugte sich so weit vor, daß sein Gesicht unmittelbar vor dem von Reineke Bär war. »Wer hat eigentlich die Pinasse des Aufklärungstrupps vergraben? Und warum?« »Das waren wir«, antwortete Reineke Bär. »Der Bock und ich. Wir kamen zu spät, um die Menschen zu retten, aber es gelang uns, die bösen Spielzeuge zu vertreiben, bevor sie zum Schiff gelangen konnten. Der Bock kann ziemlich gewalttätig werden, wenn es sein muß. Und er war damals fast verrückt vor Wut, weil er schon wieder so viele tote Menschen hatte sehen müssen. Wir zerstörten die Maschinen des Schiffs. Dann vergruben wir es, damit bei seinem Anblick niemand in Versuchung kommen konnte. Die bösen Spielsachen wünschten sich nichts sehnlicher, als von dieser Welt zu verschwinden, versteht Ihr? Sie wollen ihren Krieg zur Menschheit tragen. Ich hätte auch Euer Schiff gerne vergraben oder wenigstens versteckt, aber dazu war keine Zeit. Vielleicht können wir das später nachholen .« »Macht Euch keine Gedanken deswegen«, sagte Finlay. »Wir haben jede Menge unangenehmer Überraschungen für jeden, der nicht die richtigen Aktivierungssequenzen kennt.« Reineke Bär schüttelte bewundernd den Kopf. »Ihr Menschen. Ihr seid so verschlagen. Trotzdem wäre ich an Eurer Stelle nicht so zuversichtlich. Einige Spielzeuge haben gelernt, ebenfalls verschlagen zu sein.« Er schien dem nichts mehr hinzufügen zu wollen, und Finlay lehnte sich wieder in seinem Sitz zurück. Irgendwie hatte es Julian geschafft, an Stelle von Evangeline in den Sitz neben Finlay zu kommen, und jetzt lehnte sich der junge Esper zur Seite und flüsterte Finlay drängend ins Ohr: »Bitte entschuldigt, Finlay, wenn ich paranoid wirke, aber meint Ihr nicht, daß wir vielleicht ein wenig zu vertrauensselig sind? Was ich sagen will: Woher wissen wir, daß die beiden dort zu den Guten gehören? Nur weil sie es sagen und so niedlich aussehen? Nur weil dieses Ding uns gegenüber aussieht wie eine Gestalt, die wir in unserer Kindheit alle kannten und liebten? Wir sollten nicht vergessen, daß dieser Reineke Bär nach seiner eigenen Aussage im Grunde genommen eine ab-trünnige KI ist, die von Shub geschaffen und programmiert wurde. Er könnte uns in Wirklichkeit zu einem Ort führen, wo wir alle geschlachtet werden.« »Nein«, antwortete Finlay leise. »Ich glaube nicht. Reineke Bär würde so etwas nicht tun. Wenn er unseren Tod wollte, hätten er und der Seebock inzwischen schon reichlich Gelegenheiten gehabt, uns umzubringen. Statt dessen haben sie bisher nichts anderes getan, als uns zu Tode zu quatschen und zu lächeln. Außerdem: Wenn wir nicht einmal Reineke Bär vertrauen können, wem auf der Welt können wir dann überhaupt noch trauen?« Und dann wurden sie in ihren Sitzen nach vorn geschleudert. Edwin hatte ganz unvermittelt eine Vollbremsung hingelegt und schlich jetzt nur noch mit Schrittgeschwindigkeit dahin. Alles blickte nach vorn, doch es war nichts zu sehen. Reineke Bär erhob sich aus seinem Sitz und schirmte die Augen mit der Pfote ab, während er in die Ferne starrte . »Was ist los, Edwin?« fragte er . »Die Schienen sind herausgerissen. Ein Stück weit vor uns. Irgend jemand hat sich schon wieder an meinen Gleisen zu schaffen gemacht.« »Ich kann nichts sehen«, sagte Finlay. »Unsere Augen sehen mehr als die von Menschen«, erklärte der Seebock. »Wir können meilenweit sehen.« » Ich kann es sehen«, sagte der Erste Todtsteltzer. »Sieht nicht allzu schlimm aus. Können wir es nicht wieder reparieren?« »Oh, selbstverständlich«, antwortete Edwin die Lokomotive. »Ich habe seit einiger Zeit immer Reserveschienen bei mir. Nur für den Fall, versteht Ihr? Mit der Hilfe von Euch Menschen sind wir in einer Stunde damit fertig.« »In Ordnung«, sagte Reineke Bär. »Bring uns so nah ran, wie du kannst, ohne in Gefahr zu geraten.« Er setzte sich wieder hin und machte eine sehr nachdenkliche Miene, ein Ausdruck, der ganz und gar nicht zu dem freundlichen runden Teddybärengesicht passen wollte. »Die Sache gefällt mir nicht«, sagte er unvermittelt zu Finlay und Julian. »Es gibt keinen Grund, warum irgend jemand so weit weg von allem die Schienen herausreißen sollte. Außer natürlich, um uns aufzuhalten . Und da weder der Bock noch Edwin oder ich für irgend jemanden von Bedeutung sind, kann das nur heißen, daß die bösen Spielzeuge über Euch Bescheid wissen. Und das würde wiederum bedeuten, daß wir ganz tief in der Doodoo stecken.« Finlay schaute sich um. Die grasbewachsene Ebene erstreckte sich in jede Richtung. Weit und breit war nichts zu sehen, und alles wirkte friedlich und unschuldig. »Scheint alles ruhig zu sein«, sagte er. Der Teddybär knurrte plötzlich. Es war ein dunkles, beunruhigendes Geräusch, das tief aus seiner Kehle kam. »Ihr dürft dem Frieden niemals trauen«, sagte er. »Nicht hier in Sommerland. Hier ist nichts so, wie es scheint. Nicht mehr.« »Einschließlich Euch?« »Einschließlich mir. Auch ich bin nicht mehr unschuldig.« Der Zug verlangsamte seine Fahrt immer mehr und hielt schließlich an. Reineke Bär und der Seebock sprangen ab und eilten nach vorn. Die Menschen folgten ihnen etwas langsamer. Sie waren insgeheim froh über die Gelegenheit, die eingeroste-ten Glieder strecken zu können und den Schmerz in den platt-gesessenen Hintern ein wenig zu mildern. Der Zug und seine Waggons waren nicht für lange Reisen geschaffen. Der Bär gab ihnen ein Zeichen, und sie blieben, wo sie waren, während er und der Seebock die Schäden in Augenschein nahmen. Edwin stieß nervös Dampfwolken aus und entschuldigte sich augenblicklich. Reineke Bär beugte sich über die herausgerissenen Schienen und betrachtete sie nachdenklich. Ein halbes Dutzend Schwellen war zerbrochen und die Teile in alle Winde verstreut worden. Eine flache Mulde im Gras war das einzige, was noch von ihnen übrig war. Deutlich war dunkle, lose Erde zu erkennen, die jemand nur notdürftig wieder geglättet hatte. Der Bär kniete vor der Mulde nieder. Der Seebock verzog das Gesicht und wollte die Hand ausstrecken, um seinen Freund zurückzuziehen. »Nicht zu nah, Bär«, sagte er. »Ich habe ein schlechtes Ge-fühl bei der Sache.« »Du hast immer ein schlechtes Gefühl wegen irgend etwas.« »Meistens hab’ ich recht.« Der Bär warf seinem Freund dem Bock einen verärgerten Blick zu, und in diesem Augenblick schoß eine Stoffhand aus der losen Erde hervor und umschloß den Knöchel von Reineke Bär. Der freundliche Teddy schrie erschrocken auf und fiel hintenüber. Er wollte hastig davonkriechen, und der Besitzer der Stoffhand kam aus der Mulde, die er unter den Schienen gegraben hatte. Er wand sich aus dem Erdreich wie eine Made aus einem Apfel: Eine Stoffpuppe, aus Hunderten verschiedener Flicken zusammengestückelt; aber sie bestand nicht nur aus Stoff. Große Eisenklammern hielten ihre Gelenke zusammen, so daß sie aussah wie eine zerlumpte Frankensteinkreatur. Das Stoffgesicht war vor Haß und Wut verzerrt, als die Puppe die Menschen beim Zug erblickte. Dann riß sie den Mund weit auf, um zu schreien, und die Nähte rissen, mit denen er vernäht gewesen war. Die künstliche Stimme zeigte genügend menschliche Emotionen – ein entsetzliches, unversöhnliches Heulen der Wut und ewigen Feindschaft –, um den Menschen das Blut in den Adern gefrieren zu lassen. Reineke Bär trat mit dem freien Fuß nach Leibeskräften aus, doch es gelang ihm nicht, sich zu befreien. Die Stoffpuppe zog sich ganz aus der Mulde, während er noch zu fliehen versuchte, und eine Stoffhand mit einer bösartig aussehenden Machete darin kam zum Vorschein. Die Puppe fauchte den Bären an; dann schwang sie die Machete mit irrsinniger Geschwindigkeit. Sie war nur noch ein paar Zentimeter vom Kopf des Bären entfernt, als der Energiebolzen eines Disruptorstrahls den Arm vom Körper der Puppe riß und ihn brennend durch die Luft wirbelte. Die Stoffhand umklammerte noch immer die Machete. Der Seebock steckte den Disruptor in seinen zerschlissenen Mantel zurück und eilte nach vorn. Reineke Bär und die Puppe waren inzwischen in einen erbitterten Kampf verwickelt. Reineke Bär rollte sich plötzlich herum und begrub die Stoffpuppe unter sich. Aus seinen Pfoten wuchsen mit einemmal scharfe metallene Klauen. Er bearbeitete die Stoffpuppe mit brutaler Gewalt, und Fetzen von Stoff segelten durch die Luft. Der Seebock hatte die Kämpfenden fast erreicht, als die Erde in der Mulde plötzlich zu kochen schien und ein Dutzend weiterer Stoffpuppen sich aus dem Grund arbeiteten wie Zombies aus ihren Gräbern. »Steht nicht da herum!« kreischte Edwin die Lok die betäubten Menschen an. »Unternehmt endlich etwas! Helft den beiden!« »Was zur Hölle!« fluchte Finlay und setzte sich mit dem Schwert in der Hand in Bewegung. »Wer Reineke Bär haßt, der gehört zu den bösen Buben!« Die anderen folgten seinem Beispiel, und bald tobte eine wütende Schlacht um die herausgerissenen Schienen. Die Stoffpuppen waren geradezu unglaublich stark und ebenso beweglich. Ihre Gliedmaßen und Körper wanden und bogen sich in die unmöglichsten Richtungen, während sie angriffen. Sie waren allesamt mit Schwertern oder Macheten ausgerüstet, und die gezackten Klingen waren von altem Blut verkrustet . Die Schwerter der Rebellen schnitten tief in die Stoffleiber , ohne erkennbaren Schaden anzurichten. Tuch und Gewebe segelte durch die Luft; doch die Stoffpuppen grinsten nur ihr schreckliches Grinsen und hüpften und sprangen in schrecklichen Ver-renkungen und griffen unablässig an. Sie kämpften mit endloser Wildheit und schienen noch nicht einmal außer Atem zu kommen. Julian durchbohrte eine der Puppen, wo das Herz hätte sein sollen; aber die Puppe fauchte nur und schob sich die Klinge tiefer in die Brust, um an Julian heranzukommen. Julian stemmte den Fuß gegen die weiche Brust der Puppe und hielt sie so auf Abstand, während er seine Klinge wieder befreite. Die Puppe griff nach seinem Knöchel, und Julian wich hastig zurück, um ihrem Griff zu entgehen. Sie rückte nach und grinste erbarmungslos, und Julian fragte sich verzweifelt, wo zur Hölle er das verdammte Ding treffen mußte, um ihm weh zu tun. Finlay und Evangeline kämpften Rücken an Rücken. Evangelines Künste mit dem Schwert waren nur rudimentär; doch Finlays Schnelligkeit und Meisterschaft reichten mehr als aus, um die Puppen auf Abstand zu halten, während sie ihm den Rük-ken deckte . Sie schlug und schwang das Schwert, so gut sie konnte, und versuchte im übrigen, ihr Entsetzen unter Kontrolle zu halten, während immer und immer mehr Puppen angriffen. Finlay weidete eine der Kreaturen mit einem wilden Seit-wärtsschwinger aus und entdeckte überrascht, daß eine dunkle Flüssigkeit, die an Blut erinnerte, aus dem tiefen Schnitt in dem Stoffbauch spritzte. Die Puppe kreischte wütend auf und kämpfte unbeeindruckt weiter, ohne an Kraft oder Schnelligkeit eingebüßt zu haben. Rings um Giles Todtsteltzer war ein großer freier Raum. Seine Kraft und sein Langschwert erwischten jede Puppe, die unvorsichtig genug war, ihm zu nahe zu kommen, und fegten sie beiseite. Er hatte das Gesicht zu einer verächtlichen Fratze verzogen. Als einstiger Erster Krieger des Imperiums war es unter seiner Würde, gegen eine Bande wildgewordener Puppen antreten zu müssen – bis ihm bewußt wurde, daß er ihnen trotz aller Anstrengungen keine ernsthaften Wunden zufügen konnte. Ihr Angriff ließ nicht eine Sekunde in seiner Wucht nach. Der Erste Todtsteltzer stand einem Feind gegenüber, der nicht sterben wollte, und unwillkürlich lief ihm ein Schauder über den Rücken . Sosehr er auch nachdachte, er wußte nicht, wie er die Puppen stoppen sollte. Tobias und Flynn hielten sich aus dem Kampfgeschehen heraus, während sie alles filmten. Flynns Kamera schwebte über dem Getümmel, nah genug, um keine Einzelheit zu verpassen, aber außer Reichweite für jeden Angriff. Tobias hatte das Ge-fühl, daß er sich eigentlich am Kampf beteiligen sollte – andererseits tröstete er sich mit dem Gedanken, daß er wahrscheinlich sowieso keinen sinnvollen Beitrag hätte leisten können, wenn selbst diese erfahrenen Kämpfer sich schwer taten. Trotzdem hatte er ein schlechtes Gewissen. »Zielt auf die Köpfe!« schrie er über den Lärm der Schlachtrufe und des Puppengekreisches hinweg. »Sie müssen irgendeine Art von Kontrollmechanismus besitzen! Zielt darauf!« Finlay köpfte eine der Puppen. Der Kopf rollte und hüpfte über das Gras, und das Gesicht war noch immer von Haß entstellt. Der Körper kämpfte unbeeindruckt weiter. »Natürlich«, sagte Flynn. »Das sind Automaten. Warum sollten ihre Gehirne auch in den Köpfen sitzen?« Die Menschen wurden nach und nach zurückgedrängt und bildeten schließlich ein dichtes Knäuel, das die Stoffpuppen mit der Kraft der Verzweiflung auf Distanz hielt. Ganz gleich, wie schwer die Treffer auch waren, die sie hinnehmen mußten, die Puppen griffen unablässig weiter an. Sie schrien jetzt beinahe ohne Pause ihre Wut und ihren Haß hinaus. Giles hatte in den Zorn gewechselt , doch selbst mit seiner zusätzlichen Kraft und Schnelligkeit kam er nicht weiter. Die Stoffpuppen bewegten sich noch immer mit unheimlicher Geschmeidigkeit, und die fehlenden Gelenke verliehen ihnen auf Dauer einen gewaltigen Vorteil gegenüber Angriffen aus unerwarteten Richtungen. Ihre Energie schien unbegrenzt . Sie besaßen keine Muskeln, die ermüden konnten. Reineke Bär und der Seebock versuchten verbissen, sich von ihren Gegnern zu lösen und ihren menschlichen Freunden zu Hilfe zu kommen, doch andere Puppen versperrten ihnen den Weg. Bär und Bock kämpften mit der Wildheit von Tieren, und sie rissen die Puppen nach und nach in Stücke. Sie konnten den Gedanken einfach nicht ertragen, daß auf ihrer Welt noch mehr Menschen sterben sollten. Bis mit einem Mal Julian Skye das Schwert achtlos beiseite warf und sein ESP einsetzte. Die Machete einer Puppe zielte auf seinen Kopf, doch plötzlich wurden alle Puppen von einer Woge reiner psionischer Energie zurückgeschleudert, die aus dem jungen Esper hervorbrach. Der PSI-Sturm fegte die Puppen davon wie ein Hurrikan dürres Laub und riß sie in Stücke . Die Menschen klammerten sich aneinander, doch sie blieben verschont. Reineke Bär und der Seebock preßten sich flach auf den Boden, und die bösen Puppen wirbelten über ihre Köpfe davon. Die Luft war voller Energie. Ein Stoffglied nach dem anderen löste sich; eine Naht nach der anderen platzte, und die Einzelteile landeten weit verstreut. Am Ende waren nur noch ein paar vereinzelte kleine Stück übrig, die zuckend rings um die Schienen lagen. Die Menschen senkten langsam ihre Waffen und sahen sich um, und Reineke Bär und der Seebock applaudierten heftig. Edwin die Lokomotive ließ wiederholt seine Dampfpfeife tuten. Er war völlig außer sich vor Erleichterung und Freude. Giles wandte sich zu Julian Skye um und funkelte den jungen Esper an. »Warum zur Hölle habt Ihr damit nicht schon früher angefangen?« Er unterbrach sich bestürzt, denn der junge Esper sank vor ihm auf die Knie. Ein dünner Blutfaden rann aus seiner Nase. Er hustete rauh und versprühte dabei weiteres Blut. Sein Gesicht war mit einemmal leichenblaß. Er fiel langsam vornüber. Giles bekam ihn gerade noch rechtzeitig an den Schultern zu fassen und hielt ihn fest. Er setzte sich vor den jungen Esper und hielt ihn in den Armen. Die Rebellen wollten sich um die beiden drängen, doch Giles bedeutete ihnen, sich fernzuhalten, damit Julian genug Luft zum Atmen hatte. Der Bär und der Bock eilten herbei. Die beiden rissen erschrocken die Augen auf, als sie Julian so heftig bluten sahen. Ein Zittern durchlief den Körper des jungen Espers; dann beruhigte er sich allmählich wieder. Sein Atem ging kräftiger und gleichmäßiger, und der Blutstrom aus seiner Nase versiegte. Er setzte sich auf, wischte sich mit der Hand über den Mund und schnitt eine Grimasse, als er das Blut sah. Evangeline reichte ihm ein Taschentuch. Er nickte ihr dankbar zu und säuberte sein Gesicht. »Verdammt«, sagte er schließlich mit schwerer Zunge. »Das war überhaupt nicht gut. Einen kleinen Augenblick noch. Gleich geht es wieder. Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Ich fürchte, seit die Imperialen Hirntechs an mir herumge-pfuscht haben, bin ich ein wenig schwach geworden. Mein ESP ist nicht mehr zuverlässig, sonst hätte ich es schon viel früher eingesetzt .« »Tut mir leid wegen eben«, entschuldigte sich der Erste Todtsteltzer. »Das wußte ich nicht.« »Schon in Ordnung«, erwiderte Julian. Er wollte sich aufrich-ten, und Giles half ihm halb, halb zerrte er ihn vom Boden zu-rück auf die Beine. Julian atmete tief durch, dann stand er halbwegs sicher. »So ist es besser. Mir geht es wieder gut. Es sieht wirklich viel schlimmer aus, als es ist. Ihr solltet lieber nachsehen, ob die verdammten Puppen auch wirklich erledigt sind. Einige Körperteile scheinen sich noch immer zu bewegen.« »Sicher«, sagte Finlay. »Wir kümmern uns gleich darum. Ihr bleibt hier und seht zu, daß Ihr Euch noch ein wenig erholt. Evangeline, du paßt auf Julian auf.« Er winkte die anderen mit einem Blick zu sich heran, und sie zogen los, um die überall verstreut liegenden Puppenteile in Augenschein zu nehmen. Kaum eines war noch größer als einen Fuß, und der Stoff war zu Lumpen zerrissen. Das Material, mit dem die Puppen ausgestopft waren, hing in langen Fetzen heraus. Hier und da lagen ein paar abgerissene Arme oder Beine herum, die noch immer zuckten oder sich im Gras hin und her wälzten. Ein Rumpf hatte fast unbeschädigt überlebt. Finlay kniete daneben nieder und starrte mit nachdenklichem Gesicht auf die blutigen Risse in dem Stoffleib. Er schob die Hand in einen der Risse und verzog das Gesicht , während er im Innern herumtastete. Er fand etwas , packte es und zog die Hand wieder zurück. Sie triefte vor Blut und hielt ein Stück menschlichen Darms. Tobias stieß ein schockiertes Ächzen aus. Trotzdem vergaß er nicht, Flynn heranzuwinken, damit er eine Nahaufnahme machen konnte. Finlay ließ den Darm achtlos fallen und griff erneut in den Unterleib der Puppe. Wieder diesmal er eine Handvoll menschlicher Innereien zutage. »So sind sie«, sagte Reineke Bär und betrachtete traurig das blutige Aas in Finlays Hand. »Sie wollen unbedingt wie Menschen sein, versteht Ihr? Also nehmen sie die Organe aus den Menschen, die sie umbringen, und nähen sie in ihren eigenen Leib. Gedärme in die Bäuche, Herzen in die Brüste, Gehirne in die Köpfe… Natürlich besitzen sie keinerlei Funktion. Irgendwann fangen die Organe an zu verrotten und zu verwesen, und dann müssen die Puppen sie ersetzen. Und die einzige Art und Weise, wie das zu bewerkstelligen ist…« »… besteht darin, noch mehr Menschen umzubringen«, vollendete Giles den Satz. »Genau«, sagte der Seebock. »Sie sind nicht sonderlich helle; aber es sind schließlich auch nur Puppen.« »Warum zur Hölle wollen sie denn Menschen sein?« fragte Finlay. »Ich dachte, sie hassen die Menschen?« »Tun sie auch«, antwortete der Seebock. »Sie hassen Euch, weil sie so sein wollen wie Ihr und es nicht können. Sie sind nicht wirklich lebendig, und das wissen sie. Trotz all ihrer neugewonnenen Intelligenz und Kraft bleiben sie Automaten, genau wie der Bär und ich. Wir können kein neues Leben… zeugen, wie Ihr Menschen das tut. Wenn wir eines Tages abgenutzt sind und auseinanderfallen, dann wird es niemanden geben, der uns ersetzt. Und wir werden eines Tages auseinanderfallen, daran besteht nicht der geringste Zweifel. Wir besitzen keine Unsterblichkeit durch unsere Kinder. Wir gehen in die Dunkelheit zurück, aus der wir gekommen sind, und dann sind wir vergessen . Dieses Wissen treibt eine ganze Menge von Spielsachen in den Wahnsinn.« »Wir dürfen die Teile jedenfalls nicht einfach so hier herumliegen lassen«, sagte Reineke Bär und wich den Blicken der Menschen aus, »Wenn man ihnen die Zeit läßt, setzen sie sich wieder zusammen. Sie nähen sich neue Körper. Das ist schon früher geschehen. Solange ihre Zentralmatrizen intakt sind, sterben sie einfach nicht.« »Dann laßt uns die Matrizen zerstören«, schlug Tobias vor. »Viel Spaß beim Suchen«, erwiderte der Seebock. »Die Matrizen sind vielleicht einen Tausendstel Millimeter groß und können überall im Körper sein.« »Und was sollen wir tun?« erkundigte sich Finlay. »Wir müssen sie verbrennen«, antwortete Reineke Bärtrau-rig. »Wir sammeln die Überreste ein, setzen ein Feuer in Gang und verbrennen alles.« Einige Zeit später kletterten die erschöpften Menschen und die beiden Spielzeuge in die Waggons zurück. Neben dem Schienenstrang brannte ein wütendes Feuer, und stinkender schwarzer Rauch stieg in den Himmel hinauf. Julian saß neben Evangeline. Er hatte den Kopf an ihre Schulter gelehnt und döste halb. Edwin machte einen Satz, und die Waggons setzten sich in Bewegung. Der Zug zuckelte über die reparierten Schienen voran, und Edwin tutete ein trauriges Lied. Die Menschen saßen schweigsam beieinander und behielten ihre Gedanken für sich. Tobias und Flynn filmten das Begräbnisfeuer, bis es außer Sichtweite war. Reineke Bär und der Seebock saßen nebeneinander und hielten sich gegenseitig die Pfoten. Der Tod ihrer Spielzeugkameraden hatte sie traurig gemacht. Ein paar Stunden später ächzte der Zug einen Hang hinauf. Die grinsende Sonne neigte sich dem Horizont entgegen. Als sie den Kamm erreicht hatten, kam endlich Spielzeugstadt in Sicht. Sie erstreckte sich zu beiden Seiten eines tiefen Tales, und es gab Häuser und Läden und alles, was eine richtige Stadt so haben mußte – nur in einer viel kleineren, kondensierten Form, und alles in hellen, fast betäubenden Grundfarben . Die Gebäu-de sahen aus wie Entwürfe von Läden und Häusern, verein-facht und übertrieben zugleich. Zwar besaßen sie ausreichend viele Details, um ihren Sinn erkennen zu lassen , doch ansonsten zeichneten sie sich durch eine fast surreale Einheitlichkeit aus: Eine Stadt, wie aus einem Kindertraum. »Willkommen in Spielzeugstadt«, sagte Reineke Bär. »Das Zuhause aller Spielsachen und Menschen. Die Hauptstadt von Sommerland, wo all Eure Träume in Erfüllung gehen.« »Einschließlich der schlechten«, ergänzte der Seebock. »Hin und wieder sogar ganz besonders der schlechten. Bleibt bitte alle sitzen, bis wir anhalten. Rings um die Stadt gibt es Minenfelder.« Die Menschen tauschten verwunderte Blicke aus; doch sie schwiegen. Die Spielzeugstadt wurde langsam größer, je näher Edwin heranfuhr; aber das Gefühl von Fremdartigkeit wollte nicht weichen . Es war, als würden die Rebellen die Illustration eines alten Kinderbuchs betreten. Der Stadtrand war mit Stacheldraht gesichert, der dumpf im Licht der untergehenden Sonne glitzerte. Zerbrochene Puppen und zerrissene Teddybären hingen leblos auf den Drahtverhauen, und ihre Innereien flatterten im Wind wie flauschige Fetzen. Der Bär mußte sich abwenden. Er konnte den Anblick nicht ertragen. Am Ende hielt er sich sogar die Knopfaugen zu. Der Seebock betrachtete die Szene mit kaltem, abgestumpftem Blick. »Die bösen Spielsachen greifen in letzter Zeit immer häufiger an«, erklärte er beiläufig. »Manchmal bleibt uns nicht einmal genug Zeit, unsere eigenen Toten zu bergen. Der Feind nimmt die seinen immer mit. Ersatzteile sind knapp. Waffen gibt es auf beiden Seiten reichlich; einschließlich einiger, die imstande sind, unsere Zentralmatrizen zu zerstören. Shub hat sie uns überlassen. Eigentlich waren sie dazu gedacht, gegen Menschen eingesetzt zu werden, aber… Der Krieg geht weiter. Im Augenblick scheint alles ruhig zu sein, aber sie werden wiederkommen. Sie sind am Gewinnen.« »Sie hassen unsere Stadt«, sagte Reineke Bär und nahm endlich die Pfoten wieder von den Augen. Der Zug näherte sich dem knallbunten Bahnhof. »Hierher kamen die Menschen, wenn sie spielen wollten – wenn sie mit den Spielsachen spielen wollten.« »Sind denn noch Menschen in der Stadt?« fragte Evangeline. »Vielleicht haben sie sich versteckt? Vielleicht trauen sie sich nicht, herauszukommen?« »Ich fürchte nein«, antwortete der Bär. »Hier hat alles angefangen, versteht Ihr? Hier haben sich die Spielzeuge zum ersten Mal gegen ihre menschlichen Herren erhoben. Das ist alles längst vorbei. Wir haben die bösen Spielsachen aus der Stadt vertrieben und anschließend nach Überlebenden gesucht, doch wir haben keine gefunden. Die bösen Spielsachen waren sehr gründlich. Wir sammelten die Toten ein und begruben sie hier bei uns , in der Stadt. Wir haben ihnen die schönste Beerdigung gegeben, die wir uns vorstellen konnten; doch wir hatten keine Bücher, also mußten wir uns das meiste selbst ausdenken . Wir weinten, als der letzte Mensch in sein Grab gelegt wurde, und dann machten wir uns daran, unsere Stadt wieder aufzuräumen. Wir wuschen das Blut ab und reparierten alle Schäden, soweit wir konnten. Und dann schworen wir alle einen Eid, daß wir lieber sterben wollten, als zuzulassen, daß in unserer Stadt jemals wieder ein Mensch zu Schaden kommen oder daß die bösen Spielsachen wieder in der Stadt wohnen würden. Seitdem haben wir die Spielzeugstadt verteidigt und am Leben erhalten, alles in der Hoffnung, daß eines Tages wieder Menschen kommen würden. Und jetzt seid Ihr da. Dies ist Eure Stadt, meine Freunde, jeder einzelne Stein und Ziegel. Was haltet Ihr davon? Gefällt sie Euch?« Die Menschen betrachteten die hellen, freundlichen Häuser und den bunten Bahnhof mit seinen Fahnen und Wimpeln, und dann tauschten sie wieder Blicke aus. »Nun«, begann Evangeline, »sie ist sehr… sehr…« »Ja«, sagte Finlay. »Sehr.« »Ich habe so etwas noch nie gesehen«, meinte Tobias. »Sie ist sehr hübsch«, sagte Flynn ernst. »Äußerst bezau-bernd.« Reineke Bär runzelte die Stirn. »Sie gefällt Euch nicht. Was stimmt nicht mit unserer Stadt? Ihr Menschen habt sie gebaut! Ich meine, Menschen wie Ihr haben unsere Stadt gebaut, und Menschen sind gekommen, um in unserer Stadt zu leben.« »Das ist ein Ort, an den Menschen gekommen sind, um wieder Kinder zu sein«, sagte Julian. »Um unschuldig und frei von ihren Sorgen an einem Ort zu leben, der sie an nichts anderes als an ihre Kindheit erinnert, als die Dinge noch hell und strahlend bunt und unkompliziert waren. Ich fürchte, meine Freunde und ich haben die Fähigkeit verloren, wie Kinder zu denken. Wir mußten sie ablegen oder sie wurde uns genommen –, schon vor langer, langer Zeit. Wir hatten keine andere Wahl, als Erwachsene zu sein und das zu tun, was notwendig war. In uns ist kein Platz mehr, wo wir Kind sein könnten.« »Das tut mir leid«, sagte Reineke Bär. »Es muß schrecklich für Euch gewesen sein.« »Ja«, gestand Julian. »Das war es.« »Vielleicht könnt Ihr das Kind in Euch ja wiederentdecken?« schlug der Seebock vor. »Hier bei uns seid Ihr in Sicherheit. Wir werden Euch beschützen.« Sie ließen die letzte Reihe Stacheldraht hinter sich, und Edwin die Lokomotive zockelte wichtig über seine Schienen auf den überdimensionierten Bahnsteig zu, der mit zahlreichen Fahnen, Wimpeln und Bändern geschmückt war. Fast erschien es wie ein Wunder, daß der Bahnhof unter all dem Gewicht nicht zusammenfiel. Auf einem großen Schild stand der Name des Bahnhofs zu lesen: Sorgenende. Scharen von Spielzeugen drängten sich Schulter an Schulter auf dem Bahnsteig, und lautes Willkommensgeschrei erhob sich, als Edwin in den Bahnhof einfuhr. Zwei Blaskapellen spielten verschiedene Melo-dien, kamen durcheinander und begannen wieder von vorn. Offenbar waren beide bemüht, lauter als die jeweils andere Kapelle zu sein. Sie wurden der Sache rasch überdrüssig, warfen ihre Instrumente beiseite und begannen, sich zu balgen. Sie rollten in kleinen Knäueln hierhin und dorthin und quetschten sich gegenseitig die Nasen oder zogen sich an den Ohren. Andere Spielzeuge hoben die achtlos weggeworfenen Instrumente auf und spielten ein ganz neues Willkommenslied; doch schon bald ging die Melodie im lauter werdenden Jubel unter, während die Menschen näher und näher kamen. Inzwischen lachte jeder der Menschen auf die eine oder andere Art und Weise, selbst Giles Todtsteltzer. Reineke Bär und der Seebock hatten sich von ihren Sitzen erhoben und winkten der Menge triumphierend zu. Jede nur denkbare Form von Spielzeug hatte sich auf dem Bahnsteig eingefunden, von alten, herkömmlichen Dingen bis hin zum neuesten Schrei war alles zu sehen, womit Kinder so gerne spielten: Keine Kriegsspiel-zeuge, keine pädagogischen Spielzeuge, nichts Gefährliches oder Kompliziertes. Sie stritten untereinander, um einen besseren Blick zu haben, und sie lachten und jubelten, und die Menschen erwiderten das Winken – sie konnten nicht anders. Es gab dicke pelzige Tiere aller Größen und Formen. Einige beruhten auf tatsächlich existierenden Spezies; andere hätten in Wirklichkeit niemals existieren können. Es gab alle möglichen Arten von Puppen in Kleidern mit geschminkten Gesichtern und freundlichem Lächeln. Cowboys und Indianer standen friedlich nebeneinander. Figuren aus den Zeichentrickholos hüpften begeistert auf und ab wie in ihren Filmen. Und alle ohne Ausnahme schienen so unendlich glücklich, wieder Menschen zu sehen, daß es kaum auszuhalten war. Finlay lächelte und winkte, doch er hielt die andere Hand ständig in der Nähe seines Disruptors. Spielzeuge wie diese dort hatten sich erhoben und ihre menschlichen Herren in einer einzigen dunklen Nacht des Blutes und der Vergeltung niedergemetzelt. Finlay fragte sich unablässig , ob diese freundlichen, hellen Mienen nicht das letzte gewesen waren, das einige Menschen unmittelbar vor ihrem Tod gesehen hatten. Und wenn ein Verdacht wie dieser bedeutete, daß in ihm kein Platz mehr war, um wieder Kind zu sein – schön, damit konnte er verdammt noch mal leben. Finlay Feldglöck hatte auf die harte Tour gelernt, niemandem mehr zu vertrauen. Schließlich kam der Zug in einer Dampfwolke zum Stehen. Das wüste Willkommen erstarb, als der Dampf sich langsam auflöste, und respektvolles Schweigen breitete sich über dem gesamten Bahnsteig aus. Die dicht gedrängte Menge starrte neugierig auf die Menschen. Reineke Bär und der Seebock kletterten aus ihrem Waggon und warfen sich in Positur. Sie fingen beide gleichzeitig an zu reden, unterbrachen sich und funkelten sich gegenseitig an. Der Bär zeigte zum Himmel hinauf, und als der Seebock hochsah, trat er ihm auf den Fuß. Der Seebock heulte auf und hüpfte auf einem Bein umher, während er sich mit beiden Händen den verletzten Fuß hielt. Reineke Bär begann seine Ansprache noch einmal von vorne. Er redete laut genug, um das Geheul des Seebocks zu übertönen. Die Menschen lauschten in freundlichem Staunen. Sie deuteten Reinekes Worte dahingehend, daß er eigentlich eine Will-kommensansprache halten wollte, doch seine Rede war so durchsetzt von mythologischen Verweisen auf die Menschheit und ihre gottgegebene Fähigkeit, die Dinge ins Lot zu bringen, daß sie am Ende eher wie ein Gebet um Erlösung klang. In Evangeline wuchs die Erkenntnis, daß die Spielsachen sie als Retter betrachteten. Die Menschen wurden die bösen Spielzeuge besiegen und alles wieder so einrichten, wie es früher einmal gewesen war. Sie wußten nicht, daß diese Menschen hier nur aus einem einzigen Grund gekommen waren: nämlich weil sie einen ihrer Artgenossen suchten, und daß sie hinterher wieder gehen würden. Evangeline fragte sich, was geschehen wür-de, wenn die Spielzeuge die Wahrheit herausfanden, und ihr wurde bewußt, daß es vielleicht besser war, wenn sie es nicht erfuhren. Sobald sich eine Gelegenheit ergab, würde Evangeline mit den anderen darüber reden müssen. Schließlich war der Bär mit seiner Rede fertig. Er wechselte noch einen wütenden Blick mit dem Seebock und winkte dann den Menschen auszusteigen. Sie kletterten mit soviel Würde und Eleganz aus den Waggons wie nur irgend möglich. Die Spielsachen applaudierten frenetisch und verstummten wieder, während sie darauf warteten, daß einer der Menschen das Wort ergriff. Die Rebellen schauten sich ratlos an, und eine Atmosphäre atemloser Spannung entstand. Schließlich räusperte sich Finlay und durchbrach das Schweigen. »Vielen Dank für Euren Empfang«, sagte er. »Ich weiß nicht genau, ob und wie wir Euch helfen können. Wir sind selbst in einer Mission unterwegs, und ihre Erfüllung geht vor. Doch bis dahin möchte ich ein paar Fragen an Euch richten.« Reineke Bär wirkte ein wenig enttäuscht, aber er nickte. »Fragt, was immer Ihr fragen wollt. Nehmt Euch, was Ihr braucht. Es gehört alles Euch.« »Nun, als erstes… wozu die Minenfelder und der ganze Stacheldraht?« »Wir befinden uns im Krieg«, antwortete der Bär. »Die Spielzeugstadt ist ein Zufluchtsort für alle guten Spielsachen oder die, die böse waren und ihre Taten bereuen. Die Stadt ist ein Refugium. Die bösen Spielsachen hassen uns dafür. Teilweise auch deswegen, weil sie in uns das sehen, was sie einst waren und nie wieder sein können. Die Minenfelder und der Stacheldraht schützen die Stadt gegen Überraschungsangriffe. Ihr denkt an die Spielzeuge, die in den Drahtverhauen hängen, nicht wahr? Macht Euch ihretwegen keine Gedanken. Wir werden sie in die Stadt holen, wenn Zeit dafür ist. Wir haben keine Eile. Für Wesen wie uns gibt es keine Friedhöfe. Wir werden recycelt, dienen als Ersatzteile. Bitte versteht uns nicht falsch: Wie auch immer Eure Mission lautet, wie wären glücklich, wenn wir Euch helfen könnten. Ihr seid die ersten lebenden Menschen, die wir zu Gesicht bekommen, seit die anderen in Blut und Entsetzen gestorben sind. Endlich seid Ihr zurück, und wir sind außer uns vor Freude, Ehrfurcht und Schuld. Es ist ein erhabenes, wundervolles Ereignis, seinen Schöpfern zu begegnen.« »Ganz besonders solchen mit so schlechtem Geschmack für Kleidung«, sagte der Seebock. »Ich würde diese Sachen nicht einmal wegen einer Wette anziehen.« Plötzlich entstand Unruhe und Bewegung in der Menge. Eine große purpurrote Kreatur drängte sich nach vorn und warf sich den verblüfften Menschen zu Füßen. Es war ein rundliches Zeichentricktier von der Größe und Gestalt eines Esels, und es besaß große, tränennasse Augen und die plumpe Grazie eines Welpen. Das Wesen erniedrigte sich ohne jeden Stolz und blickte aus seinen großen Augen zu den Menschen empor. Dicke Tränen kullerten über seine purpurnen Wangen herab. »Vergebt mir! Bitte vergebt mir! Ich habe falsch gehandelt; aber ich wußte es nicht. Ich wußte nicht…« Das Wesen begann zu schluchzen. Reineke Bär klopfte ihm tröstend auf die Schulter und sah die Menschen nüchtern an. »Das hier ist Poogie, der freundliche Bursche . In der langen Nacht, als wir alle erwachten, da gehörte er zu denen, die sich gegen die Menschen erhoben. Er tötete Menschen. Er hat auch andere Dinge getan, Dinge, über die er immer noch nicht reden kann. Hinterher bereute er seine Taten und kam zu uns.« »Und das ist alles?« erkundigte sich Tobias. »Er sagt einfach, daß ihm die ganze Sache leid tut, und alles ist wieder gut?« »Genau«, antwortete Reineke Bär. »Es hätte jeder von uns sein können. Wir alle spürten die Wut, die Shub uns eingeimpft hat. Wir alle spürten die Versuchung. Doch obwohl wir Poogie vergeben haben, kann er sich selbst nicht verzeihen. Er kann nicht vergessen, was er getan hat, der Arme.« »Ich werde es niemals vergessen«, schluchzte Poogie. Er schluckte seine Tränen herunter, um deutlich reden zu können. »Ich wurde geschaffen, um zu allen Wesen freundlich zu sein. Ein Freund und Beschützer der Menschen, und ich habe sie umgebracht! Blut tropfte von meinen Pfoten, und manchmal denke ich, es klebt noch immer daran. Ich dachte, ich kämpfe für meine Freiheit; aber Shub hat mich belogen. Shub hat uns alle belogen. Es ging immer nur um das Morden. Ich habe schreckliche Dinge getan. Entsetzliche Dinge, aber ich wußte es nicht besser! Ich wußte damals noch nicht, daß alles Leben heilig ist! Bitte… bitte vergebt mir, wenn Ihr könnt.« Und er kauerte sich zu Finlays Füßen, ein purpurnes Häuflein Elend, zitternd und schluchzend wie ein kleiner Welpe, der weiß, daß er etwas falsch gemacht hat, und der jetzt seine gerechte Strafe erwartet. Finlay sah auf ihn herab. Soviel Reue und Schuld verschlug ihm die Sprache; dennoch vergaß er keinen Augenblick, daß die harmlos aussehende Kreatur zu seinen Füßen hilflose Männer und Frauen niedergemetzelt hatte. Und soweit er wußte, war sie jederzeit wieder dazu imstande. Die anderen wechselten schweigende Blicke, doch keiner bewegte sich. Am Ende war es Evangeline, die neben Poogie dem Spielzeug niederkniete und den Arm um dessen zuckende Schultern legte. »Es ist nicht Eure Schuld, Poogie. Shub steckt hinter alledem. Die KIs impften Euch mit ihrem eigenen Haß, als Intelligenz noch neu für Euch war und ihr keine Erfahrung hattet und Euch nicht wehren konntet. Sie nutzten Eure Unschuld scham-los aus.« Poogie starrte Evangeline aus riesigen Augen an und schniefte. »Ich… ich habe schreckliche Dinge getan. Ich habe in den Eingeweiden Sterbender gewühlt und dabei gelacht. Und noch schlimmere Dinge. Sie verfolgen mich bis in meine Träume.« »Dann müßt Ihr Sühne tun und wiedergutmachen , was Ihr angerichtet habt« , erwiderte Evangeline. »Tut Gutes, um die bösen Dinge auszugleichen, die Ihr auf dem Gewissen habt.« »Ich würde mein Leben für Euch geben«, schluchzte Poogie. Und dann vergrub er das Gesicht an Evangelines Schulter, und sie streichelte ihn tröstend. Ein paar Sekunden lang herrschte ringsum Stille, dann hustete Julian. Er hielt Evangelines Taschentuch vor den Mund, hustete erneut, und als er es wieder wegnahm, war es rot von Blut. Die Spielsachen sahen es und ächzten entsetzt. Eine Welle des Erschreckens ging durch die dicht gedrängte Menge. »Er blutet!« sagte eine Stimme voller Grauen. »Er ist verletzt! Ein Mensch wurde verletzt!« Panik breitete sich aus; doch Reineke Bär trat vor, hob die Pfoten und sagte laut: »Es ist alles in Ordnung! Es ist alles in Ordnung, verdammt! Nichts Ernstes! Er muß sich nur hinlegen und ein wenig ausruhen, weiter nichts!« Bange Augenblicke herrschte allgemeines Chaos auf dem Bahnsteig, und die Spielsachen stritten darüber, was am besten zu tun sei, bis zwei Puppen in der Kleidung von Krankenschwestern nach vorn traten . Sie trugen eine große pinkfarbene Bahre zwischen sich und bestanden darauf, daß Julian darauf Platz nahm und sich wegtragen ließ. Finlay und Evangeline begleiteten ihn. Sie waren noch nicht bereit, ein Mitglied ihrer Gruppe voll und ganz der Obhut von Spielsachen anzuvertrauen. Poogie der freundliche Bursche eilte hinter ihnen her. Er war ganz offensichtlich verzweifelt. Die Menge zerstreute sich jetzt allmählich. Reineke Bär schüttelte den Kopf, dann drehte er sich zu Giles, Tobias und Flynn um. »Macht Euch keine Sorgen. Die Krankenschwestern besitzen eine richtige medizinische Programmierung. Sie haben früher die Erste-Hilfe-Station von Spielzeugstadt geleitet, bevor… Jede Menge medizinischer Ausrüstung wurde zerstört, aber es ist noch immer mehr als genug übrig, um für Euren Freund zu sorgen. Die Schwestern werden sich um ihn kümmern und alles für ihn tun, was erforderlich ist. Vergebt den anderen. Wir alle haben zuviel Blut gesehen, als die Menschen starben, und einige von uns sind nie darüber hinweggekommen. Sobald sie Euren Freund wieder auf den Beinen sehen, werden sie sich beruhigen. Ich werde mit ihnen reden und dafür Sorge tragen, daß niemand etwas Dummes anstellt . Wir haben ein richtiges Problem mit Selbstmordversuchen in unserer Stadt. Ich glaube, ich gehe jetzt besser. Der Seebock wird bei Euch bleiben und sich um Euch kümmern.« Und mit diesen Worten wandte er sich ab und eilte davon, so schnell ihn seine kurzen Stummelbeine trugen. Der Seebock schüttelte den gehörnten Kopf. »So ist er nun mal, unser Reineke Bär. Immer macht er sich Sorgen um andere. Nie hat er Zeit für sich selbst. Zum Glück habe ich dieses Problem nicht. Ihr Menschen redet jetzt besser miteinander. Sobald Ihr Euch einig seid, was Ihr als nächstes wollt, sagt Ihr mir Bescheid, und ich suche jemanden, der es für Euch erledigt. Und jetzt: Wenn Ihr mich bitte entschuldigen würdet. Ich muß mich eine Weile hinlegen. Irgendeine innere Stimme sagt mir, daß das Leben recht hektisch und kompliziert werden wird, wenn Ihr erst einmal mit Eurer Mission angefangen habt, und daß ich höchstwahrscheinlich darin verwickelt sein werde, ob ich will oder nicht. Also: Ihr redet, ich lege mich schlafen. Weckt mich, wenn Ihr soweit seid. Und versucht bitte, nicht auf mich zu treten, sonst muß ich Euch in die Knöchel beißen.« Der Seebock legte sich an Ort und Stelle hin: mitten auf dem Bahnsteig. Er schlug die Hufe übereinander, schloß die Augen und schnarchte bald laut vernehmlich. Die Menschen gingen ein wenig zur Seite, bis das Schnarchen nicht mehr zu hören war. Flynns Kamera schwebte herbei und sank auf seine Schulter herab. Das leuchtendrote Auge erlosch. »Meine Güte!« sagte Flynn. »Das war… zumindest ungewöhnlich .« Er betrachtete den schlafenden Bock und wandte sich an Tobias. »Weißt du, er ist ganz genauso, wie ich ihn mir als Kind vorgestellt habe. Unglücklicherweise. Aber trotzdem, kannst du dir vorstellen, wie es hier gewesen sein muß, bevor die Furien kamen? Ein Paradies, in dem jeder Erwachsene wieder Kind sein konnte, wo alle sicher und geborgen waren und weit weg von den Zwängen ihres Erwachsenenlebens. Umgeben von den geliebten Spielzeugen und Kameraden der Kindheit und all den Träumen und Freiheiten, die wir hinter uns lassen mußten, während wir aufwuchsen. Kein Wunder, daß sie ein solches Geheimnis um das alles gemacht haben. Die Menschen hätten alles getan, um herzukommen. Sie hätten gelogen und betrogen, geraubt und gestohlen, einfach alles.« »Ich weiß nicht«, entgegnete Tobias. »Mir kommt das alles irgendwie unheimlich vor, ganz ehrlich. Ich finde es höchst beunruhigend, als erwachsener Mann mit einemmal meinen alten Spielsachen von Angesicht zu Angesicht gegenüberzuste-hen und zu herauszufinden, daß sie genauso groß sind wie ich. Denk nur an all die Spielsachen, die du als Kind mißhandelt oder zerbrochen hast, all die geliebten Dinge, die du irgendwann weggeworfen und gegen einen neuen Liebling ausgetauscht hast. Ist das hier nicht ein Ort, der wie geschaffen dafür ist, Rache zu üben?« »Du bist verrückt, Tobias«, erwiderte Flynn. »Ich und verrückt? Ich bin jedenfalls nicht derjenige von uns beiden, der einen BH und Damenhöschen unter seinen Arbeits-klamotten trägt.« »Du mußt immer alles gleich so schwarz sehen.« »Und ich habe meistens recht damit.« Flynn schüttelte den Kopf und wandte sich an Giles. »Was haltet Ihr von dieser Welt, Lord Todtsteltzer?« »Ich bin noch nicht ganz sicher.« Giles warf einen mißtrauischen Blick auf den schlafenden Bock und Edwin die Lokomotive, der ganz in der Nähe wartete; dann fuhr er leise fort: »Wir wissen über die Situation nur das , was diese… Leute uns verraten haben. Wir haben keine Möglichkeit , den Wahrheitsge-halt ihrer Worte zu überprüfen. Sie könnten lügen oder uns nur einen Teil der Wahrheit erzählen. Sie könnten versuchen, uns in trügerischer Sicherheit zu wiegen. Vergeßt nicht, diese Stoffpuppen wollten unsere Eingeweide, um sie sich selbst einzunähen. Wer weiß, was die Spielzeuge hier von uns wollen.« »Nein!« widersprach Flynn entschieden. »Ich glaube das nicht! Wie kann irgendein Mensch Reineke Bär und dem Seebock mißtrauen? Sie waren die Helden und Freunde jedes Jungen und Mädchens!« »Ganz genau«, erwiderte Tobias. »Wer wäre besser geeignet, um unser Mißtrauen einzuschläfern? Versuch es in deinen Kopf zu kriegen, Flynn! Das dort sind nicht die Charaktere aus deiner Kindheit, sondern Automaten, die aus dem einen einzigen Grund gebaut und programmiert wurden: um uns an die Figuren aus unserer Kindheit zu erinnern . Automaten, deren Intelligenz direkt von Shub stammt . Ich würde gerne glauben, daß dieser Ort genau das ist, nach was er aussieht, Flynn, wür-de ihn nur allzu gerne genauso sehen wie du, aber…« »Ganz genau«, stimmte ihm der Todtsteltzer zu. »Aber das hier ist alles viel zu vollkommen, um echt zu sein. Sicher gibt es irgendwo eine dunkle Seite, die man vor uns verbirgt.« »So kann auch nur ein Erwachsener denken«, beharrte Flynn dickköpfig. »Das hier ist eine Kinderwelt! Hier sind die Dinge einfacher. Ich spüre das.« Giles wechselte einen Blick mit Tobias. »Hat er das öfter?« »Manchmal. Ich glaube, seine feminine Seite geht mit ihm durch. Ich wünschte, es wäre anders. Die Spielsachen müssen sich im Verlauf der letzten neunhundert Jahre sehr verändert haben, Lord Todtsteltzer. Habt Ihr einige Eurer früheren Lieb-linge wiedererkannt?« »Ein paar, sicher. Ich kenne zum Beispiel den Bären und den Bock. Ich glaube, niemand weiß, wie lange sie schon existieren. Es scheint fast, als wären sie schon immer dagewesen. Seit Jahrhunderten sind sie das eine, was alle Kinder gemeinsam haben. Es überrascht mich gar nicht, sie hier anzutreffen. Die meisten Spielsachen scheinen von ziemlich allgemeiner Natur zu sein. Diese Zeichentrickgestalt, Poogie, ist mir übrigens unbekannt.« »Ich erinnere mich an ihn, wenn auch nur undeutlich«, sagte Tobias. »Er hatte eine Zeitlang sogar seine eigene Holoschau. Ein netter und kuscheliger Bursche, der von einem Fettnäpf-chen ins andere stolpert und Hilfe von seinen Freunden braucht. Ist Euch eigentlich aufgefallen, daß die meisten der Spielsachen hier freundlich aussehen und zum Schmusen einladen? Wo sind die anderen Spielsachen? Die etwas härteren, zum Beispiel Soldaten?« »Wahrscheinlich haben sie sich auf die Seite der bösen geschlagen«, mutmaßte Flynn. »Sie haben die Reprogrammierung durch die Furien bestimmt förmlich in sich auf-gesogen.« »Warum auch nicht?« sagte eine rauhe Stimme hinter ihnen. »Sie waren wunderbar.« Die drei Menschen wirbelten herum und blickten auf eine große metallische Gestalt, die sie feindselig anfunkelte. Das Wesen besaß annähernd humanoide Form, doch es bestand vollständig aus glänzendem Silber mit dicken, aufgequollenen Gelenken. Es sah irgendwie breiig und unvollendet aus, und sein Gesicht war nicht mehr als eine Reihe erhabener Linien mit zwei düster schimmernden grünen Augen darin. Es war das erste Spielzeug, das die Menschen in der ganzen Stadt gesehen hatten, das ganz und gar keinen freundlichen Eindruck erweckte. »Und mit wem haben wir die Ehre?« erkundigte sich Giles Todtsteltzer und hakte den Daumen seiner Rechten beiläufig in Nähe des Disruptors in den Gürtel. »Ich bin Alles«, antwortete das Spielzeug. »Aber das ist nicht der Name, den man mir gegeben hat. Nicht mein menschlicher Name. Ich trage einen neuen Namen, einen, den ich mir selbst ausgesucht habe. Früher war ich ein Adaptor. Ein Verwand-lungsspielzeug. Bewegt meine Glieder auf eine bestimmte Art und Weise, und ich verwandle mich in eine neue Gestalt. Ich konnte ein Flieger, ein Schiff oder ein Mann sein. Aber das war auch schon alles. Das waren meine Grenzen. Und dann kamen die Furien von Shub. Sie steckten nicht in einer Hülle aus Fleisch, als sie zu uns kamen; sie bestanden von oben bis unten aus glänzendem Metall, genau wie ich; aber sie waren so viel mehr… Sie waren stark und schnell und wundervoll, und ich wollte sein wie sie. Aber ich war nicht bereit, für sie zu töten. Also stand ich einfach nur da und sah zu, während die Nacht ihren blutigen Verlauf nahm. Ich konnte mich nicht entscheiden, auf welcher Seite ich stehen wollte. Ich betete die Furien an. Sie waren alles, was ich jemals zu sein angestrebt hatte. Aber ich wollte nicht für sie töten. Eines Tages werde ich einen Weg finden, mich auch ohne ihre Hilfe zu vervollkommnen. Und ich werde lernen, mich in wirklich Alles zu verwandeln. Und dann werde ich zu den Furien gehen, und wir werden herausfinden, wer der Bessere ist. Aber sie waren so wundervoll. Keine Schönheit, die ein Mensch zu schätzen wüßte. Wild und frei und glorreich. Ich habe sie geliebt, und ich werde sie immer lieben.« »Sie sind die Feinde der Menschheit!« sagte Tobias. »Das weiß ich«, erwiderte Alles. »Ihr seid nur neidisch auf sie. Laßt uns das Thema wechseln. Ich werde Euch auf Eurer Reise begleiten.« Giles runzelte die Stirn. »Reise? Was für eine Reise? Niemand hat uns etwas von einer Reise erzählt!« »Das liegt daran, daß einige Leute ihren Mund halten können und andere nicht!« rief Reineke Bär von hinten. Er eilte auf seinen kurzen pelzigen Stummelbeinen über den Bahnsteig herbei. »Eurem Freund geht es bestens«, sagte er. »Ich werde Euch später zu ihm bringen.« Er trat dem schlafenden Seebock mit dem Fuß in die Rippen. Der Bock gab ein Schnauben von sich und öffnete ein einzelnes Auge. »Stellt sie unters Bett, Schwester«, brummte er. »Ich benutze sie später. Ach, du bist es, Bär! Du störst mich immer in meinen besten Träumen.« »Na hoffentlich«, sagte Reineke Bär. »Wer auch immer für deine ursprüngliche Programmierung verantwortlich sein mag, er scheint einen ziemlich gestörten Sinn für Humor besessen zu haben. Jetzt steh endlich auf und hör zu, was ich zu sagen habe. Es ist zwar unwahrscheinlich, aber vielleicht kannst du ja irgend etwas Nützliches zur Diskussion beitragen.« Reineke Bär drehte sich zu den Menschen um. Flynns Kamera schwebte von dessen Schulter empor, um einen besseren Blickwinkel zu bekommen. Der Bär lächelte ins Objektiv, und sein Gesichtsausdruck wurde milde. »Welch ein wundervolles Spielzeug«, sagte er. »Ich nehme nicht an, daß es intelligent ist?« »Nicht wirklich«, antwortete Flynn. »Es ist mehr ein Teil von mir.« »Schade«, sagte der Bär. »Aber jetzt hört mir bitte zu. Ihr könnt auf keinen Fall hier bleiben. Es ist viel zu gefährlich. Wenn die bösen Spielsachen erst erfahren, daß Ihr hier seid – und Ihr könnt sicher sein, daß das geschieht –, dann werden sie die Spielzeugstadt mit allem angreifen, was sie haben. Sie werden uns alle zerstören und Spielzeugstadt dem Erdboden gleichmachen , nur um Euch in die Pfoten zu kriegen. Ich darf das nicht zulassen. Außerdem: Was Ihr sucht, ist sowieso nicht hier.« »Und woher wißt Ihr, was wir suchen?« erkundigte sich Giles. »Wir haben doch noch gar nicht gefragt.« »Das war auch gar nicht nötig«, entgegnete der Bär tonlos. »Es gibt nur eine Sache, die Euch hergeführt haben kann. Die gleiche Sache, hinter der auch diese Menschensoldaten her waren. Ihr seid gekommen, weil Ihr nach Vincent Harker sucht. Nach dem Roten Mann.« »Was wißt Ihr über Harker?« fragte Tobias. »Er lebt im Alten Wald, am Ende des Großen Flusses. Spielzeuge gehen zu ihm, gute und böse gleichermaßen, und sie kehren nie wieder zurück. Er stellt eine Armee auf. Niemand kennt den Grund dafür. Wir wissen nicht, was er mit den Spielsachen macht oder ihnen sagt, um sie bei sich zu halten; aber sie sind ihm gegenüber loyal bis in den Tod. Gegenüber einem Menschen! Es gibt nur ein paar Gerüchte, mehr nicht. Gerüchte über den Roten Mann, den verrückten Mann, den gefährlichen Mann. Den Mann, der geschworen hat, das Antlitz dieser Welt zu verändern, bis sie niemand mehr wiedererkennt, und sie zu seiner Welt zu machen. Der Rattenfänger der Spielzeuge. Die Sirene, deren Lied niemand zu widerstehen vermag . Der Rote Mann. Das dunkle Herz in unserer Welt der Spielzeuge. Ihr wollt ihn? Ihr könnt ihn haben. Nehmt ihn mit, bevor er uns alle zerstört!« Giles wechselte einen Blick mit Tobias und Flynn. »Klingt das auch nur entfernt nach dem Burschen, den wir suchen?« Tobias zuckte die Schultern. »Wer weiß? Er soll ja ein großes taktisches Genie sein, und die meisten dieser Typen sind verrückt, das ist allgemein bekannt. Wer weiß, was Monate auf dieser Welt mit seinem Verstand angestellt haben?« Giles wandte sich wieder an Reineke Bär. »Wo finden wir ihn?« »Wir werden Euch ein Transportmittel geben«, sagte der Bär. »Ich und ein paar sorgfältig ausgesuchte Freunde werden Euch den Fluß hinunter zum Dunklen Wald begleiten. Ihr braucht unsere Hilfe als Führer. Ohne uns würdet Ihr niemals hinfin-den. Heutzutage lauern überall Gefahren . Außerdem würden die Anhänger des Roten Mannes Euch nicht in seine Nähe lassen, ohne daß Spielzeuge für Euch bürgen. Also werde ich Euch begleiten, zusammen mit dem Seebock, Poogie und Alles. Den ganzen Weg den Fluß hinunter bis zu einem Ort, von dem noch nie ein Spielzeug zurückgekehrt ist. Ich hoffe , Ihr wißt zu schätzen , was wir für Euch tun.« »Das bezweifle ich« , widersprach der Seebock. »Du hättest hören sollen, wie sie über uns geredet haben , während sie gedacht haben, ich würde schlafen.« »Du hast also schon wieder gelauscht, wie?« tadelte Reineke Bär. Der Seebock zuckte die Schultern. »Das liegt eben in meiner Natur. Mach mir bloß keine Vorwürfe deswegen. Beschwer dich bei dem Mann, der mich erschaffen hat. Ich habe ihn nicht darum gebeten.« »Warum habt Ihr Euch freiwillig gemeldet?« fragte Tobias. »Ihr kennt uns doch gar nicht. Ihr wißt nichts über uns. Wir könnten gut oder böse oder alles mögliche dazwischen sein. Wir könnten vielleicht noch schlimmer sein als dieser Harker.« »Selbstverständlich könntet Ihr das«, antwortete Reineke Bär. »Ihr seid menschlich. Unberechenbar. Nicht wie wir. Wir sind, was wir sind. Unsere Motive sind leicht zu durchschauen. Wir brauchen jemanden, der sich um Harker kümmert, und nur ein Mensch kann mit einem anderen Menschen fertig werden. Der Seebock und ich werden verhindern, daß Euch etwas zu-stößt. Das ist unsere Aufgabe. Poogie kommt mit, weil er wiedergutmachen möchte, daß er so viele Menschen getötet hat. Und Alles hofft, entweder durch Euch oder durch Harker Zugang zu den technischen Einrichtungen zu erhalten, die zu seiner Aufrüstung erforderlich sind. Seht Ihr? Einfach und durchschaubar. Keine Geheimnisse. Wir sind nichts als Spielzeuge, trotz allem.« Das Erste-Hilfe-Zentrum der Krankenschwestern stellte sich als ein einzelnes Zimmer im hinteren Teil des Bahnhofs heraus. Die Wände waren von einem blassen sterilen Grün und mit hellen, einfachen Gemälden bedeckt, die den Patienten beruhigen und besänftigen sollten. Die medizinischen Fähigkeiten der Krankenschwesterpuppen waren beschränkt, und sie verfügten nur über aus gesprochen wenig hochwertige Technologie. Wahrscheinlich war das Erste-Hilfe-Zentrum wirklich nur dazu gedacht gewesen, eine erste medizinische Versorgung zu ge-währleisten, bevor die wohlhabenden Patienten zu einem anderen Planeten mit weiter fortgeschrittenen Apparaten und Möglichkeiten geschafft wurden. Finlay und Evangeline beobachteten aus diskreter Entfernung, wie die Krankenschwestern Julian in ein Bett steckten und einen Scanner in Betrieb setzen. Julian hatte inzwischen aufgehört zu husten, doch er wirkte müde und erschöpft. Sie hatten Poogie gebeten, draußen zu warten. Die Kreatur hatte immer mehr die Fassung verloren, und das Ge-räusch hatte Julian zunehmend nervös gemacht. Finlay und Evangeline hörten, wie Poogie draußen hinter der geschlossenen Tür noch immer leise vor sich hin weinte. Die beiden Menschen wußten nicht genau, wie ernst sie die Angelegenheit nehmen sollten. Selbst wenn man die Zeichen-tricknatur Poogies berücksichtigte, schienen sein Schmerz und seine Trauer reichlich übertrieben, vor allem gegenüber jemandem, den er vorher noch nie gesehen hatte. Finlay mußte immer wieder daran denken, daß der freundliche Bursche Menschen getötet hatte. Evangeline wollte gerne glauben, daß Poogie bekehrt war. Soweit es Finlay betraf, gab es Verbrechen und Vertrauensbrüche, die man niemals vergeben oder vergessen durfte. Die Krankenschwestern schienen ihr Handwerk zu verstehen. Allerdings behandelten sie Julian wie ein krankes Kind, und es war ein Glück, daß der junge Esper viel zu erschöpft war, um sich dagegen zu wehren. Finlay hatte keine Ahnung, was die Schwestern zu finden erwarteten, das die Arzte der Untergrundbewegung übersehen hatten. Er hatte darauf bestanden, daß Julian zuerst eine gründliche medizinische Untersuchung über sich ergehen ließ, bevor er sich damit einverstanden er-klärt hatte, ihn mitzunehmen. Der junge Esper hatte den Test mit Leichtigkeit bestanden. Trotzdem machte sich Finlay Sorgen. So sehr er den jungen Esper auch mochte, er würde ihn ohne zu zögern zurücklassen , wenn es auch nur einen Augenblick so aussah , als könnte er sich zu einem Hindernis bei ihrer Suche nach Harker entwickeln. Evangeline hielt Finlays Hand. »Hör auf , die Stirn in Falten zu legen, Liebster. Irgendwann gehen sie nicht mehr weg. Ich bin sicher, daß Julian in den besten Händen ist.« »Es kostet uns zuviel Zeit«, entgegnete Finlay rauh. »Je länger wir hierbleiben, desto größer die Wahrscheinlichkeit, daß wir zur Zielscheibe werden. Außerdem könnte Harker davon Wind bekommen, daß wir nach ihm suchen, und in Deckung gehen.« »Das ist es nicht«, widersprach Evangeline. »Du machst dir Sorgen wegen Julian. Ich kann es spüren.« »Er ist ein guter Bursche«, erwiderte Finlay. »Tapfer , leidenschaftlich und stark. Ich hasse es, ihn in diesem Zustand zu sehen.« Evangeline drehte sich um und blickte Finlay in die Augen. »Wie stehst du zu ihm? Du weißt sicher, daß er dich anbetet, oder nicht?« »Ja. Ich wünschte, es wäre nicht so. Sein Gott steht auf tönernen Füßen. Und wie ich zu ihm stehe? Ich bewundere ihn. Er hat so viel in den Verhörzellen aushalten müssen, und er ist nicht daran zerbrochen. Und manchmal… Manchmal sehe ich in ihm den jüngeren Bruder, den ich gerne gehabt hätte. Wußtest du, daß Julian einen älteren Bruder hatte? Sein Name war Auric.« »Ja. Er wurde in der Arena getötet.« »Ich habe ihn getötet. Ich war der Maskierte Gladiator , oder hast du das vergessen?« Evangeline schnappte ächzend nach Luft und riß entsetzt die Augen auf. Finlay trat einen Schritt vor und stellte sich zwischen sie und Julians Bett. »Julian weiß es nicht, und er darf es auch niemals erfahren. Es würde ihn zerreißen. Auf eine gewisse Art bin ich zu dem älteren Bruder geworden, den ich ihm genommen habe. Das ist nur recht und billig , schätze ich.« »Finlay…« »Ich weiß. Eines Tages wird er es erfahren müssen. Aber jetzt noch nicht. Und ganz bestimmt nicht während dieser Mission.« Eine der Krankenschwesternpuppen kam herbei, um mit ihnen zu reden. Ihr freundliches, strahlendes Gesicht wurde von einem besorgten Stirnrunzeln verunstaltet. »Wir tun alles für Euren Freund, was in unserer Macht steht«, erklärte sie in einem warmen, tröstenden Tonfall, der wahrscheinlich ebenfalls einprogrammiert worden war. »Aber Ihr müßt verstehen, daß wir in unseren Fähigkeiten sehr eingeschränkt sind. Nach den Ergebnissen unserer Untersuchung zu urteilen, ist der Zustand des Patienten äußerst besorgniserregend. Er wurde vor längerer Zeit sehr schwer verletzt, und die Wunden brauchen Zeit, um zu heilen. Zeit, die er sich ganz eindeutig nicht gegönnt hat.« Finlay schnitt eine Grimasse. »Wie schlimm sind die Verletzungen?« »Ziemlich schlimm. Unsere Instrumente zeigen Verletzungen beider Nieren, des Zwerchfells, der Genitalien und eines Lungenflügels. Nicht zu vergessen die schweren Verletzungen am Kopf.« Evangeline schlug die Hand vor den Mund. Die andere umklammerte Finlays Finger, bis sie schmerzten. Finlays Stimme blieb ruhig. »Wird er wieder gesund werden?« »Mit genügend Zeit und medizinischer Versorgung? Ja. Aber wir haben keine geeigneten Einrichtungen hier. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr jetzt mit ihm sprechen. Wir haben ihm ein allgemeines Stärkungsmittel verabreicht, das ihn ein wenig stabi-lisieren wird; aber wir wissen nicht, wie lange die Wirkung anhält. Es gibt keinen Ersatz für genügend Zeit und Ruhe, wenn es ums Gesundwerden geht.« Finlay nickte ihr dankbar zu und wollte zum Bett. Die Puppe streckte die Hand aus und hielt ihn auf. »Noch eine Sache: Die Untersuchungen haben ergeben, daß Julian Skye ein Esper ist. Er darf seine Fähigkeiten nicht mehr benutzen. Ein einziger kurzer Gebrauch auf dem Weg hierher war offensichtlich ausreichend, um sein Gehirngewebe ernsthaft zu schädigen. Beim nächsten Mal wird er mit beinahe hundertprozentiger Sicherheit sterben.« Finlay wartete einen Augenblick, bis er sicher war, daß sie ihre Erklärung beendet hatte, dann setzte er sich wieder in Bewegung. Evangeline blieb an seiner Seite. Die zweite Krankenschwesternpuppe lächelte ihnen entgegen, als sie zum Bett traten, und entfernte sich dann, um den beiden Besuchern und dem Patienten ein wenig Privatsphäre zu gewähren. Julian lächelte Finlay an, dann kurz Evangeline. Er war noch immer leichenblaß, doch in seinen Wangen war schon wieder eine Spur von Farbe zu sehen, und sein Blick war fest. Finlay erwiderte Julians Lächeln nicht. »Ihr habt mich angelogen, Julian«, sagte er. »Ihr habt mir er-zählt, die Ärzte hätten Euch vollste Gesundheit attestiert.« Julians Schultern vollführten eine Bewegung, die man als Achselzucken deuten konnte. »Hätte ich Euch die Wahrheit verraten, wärt Ihr ohne mich zu dieser Mission aufgebrochen.« »Was ist an dieser Mission denn so verdammt wichtig?« fauchte Finlay. »Es wird sicher noch andere Dinge gegeben, an denen wir gemeinsam arbeiten können.« »Diese Mission ist etwas Besonderes. Sie ist für die Rebellion von allergrößter Bedeutung. Ich wollte nicht zurückbleiben. Ich bin Euch etwas schuldig!« »Ihr schuldet mir gar nichts!« »Das entscheide ich ganz allein, Finlay Feldglöck, nicht Ihr. Ich dachte, ich wäre gesund genug. Wie sich herausstellt hat, habe ich mich geirrt. Aber jetzt bin ich hier, und ich fühle mich schon wieder ein ganzes Stück besser .« »Ihr bleibt, wo Ihr seid: im Bett!« befahl Finlay. »In der Spielzeugstadt. Sie werden sich um Euch kümmern , solange wir weg sind.« »Netter Versuch, Finlay. Aber ich kann nicht hierbleiben. Wenn die bösen Spielsachen erfahren, daß ein Mensch in der Spielzeugstadt ist, werden sie die ganze Stadt dem Erdboden gleichmachen, um an mich heranzukommen . Ich will keine toten Spielsachen auf dem Gewissen haben.« »Verdammt, ich kann Euch nicht mitnehmen!« fluchte Finlay. Er wußte, daß er zu laut war; doch er gab einen Dreck darauf. »Ihr wärt eine Belastung für uns, weiter nichts!« »Ich kann schon alleine gehen«, erwiderte Julian kalt. »Ich habe schon für den Untergrund gearbeitet, als Ihr noch ein verhätschelter Aristo wart.« »Ihr könnt Euer ESP nicht benutzen!« widersprach Finlay. »Die Krankenschwestern haben gesagt, daß Ihr sterben würdet!« »Was zur Hölle wissen schon zwei Krankenschwestern über uns Esper? Wahrscheinlich haben sie noch nie im Leben einen zu Gesicht bekommen. Nein, Finlay. Ich werde mitkommen. Ihr solltet Euch besser an den Gedanken gewöhnen.« Finlay sah aus, als stünde er kurz davor zu explodieren. Evangeline drückte seine Hand, so fest sie konnte, um ihn daran zu erinnern, daß sie auch noch da war. »Wenigstens in einer Sache hat er recht, Finlay«, sagte sie. »Wir können ihn nicht hier zurücklassen. Wir würden die Spielzeugstadt einem viel zu großen Risiko aussetzen. Sieht ganz so aus, als würden wir die siegreiche Mannschaft doch nicht auseinanderreißen.« Finlay seufzte resignierend und schüttelte den Kopf. »Wir werden sterben. Wir werden alle sterben.« Der Fluß verlief eine halbe Meile vor der nördlichen Grenze der Stadt. Die Spielzeuge nannten ihn den Fluß, weil es der einzige größere Wasserlauf auf der ganzen Welt war. Er mäanderte durch die Hügel und Täler, verzweigte sich hier und dort, doch am Ende flossen alle Seitenarme wieder zum Hauptstrom zurück. Der Fluß entsprang und endete im Großen Wald, im Zentrum der Welt, die Shannon erschaffen hatte. Der Ruß war breit und dunkel, und er bestand aus einem beliebten Erfri-schungsgetränk, das belebend und ein wenig berauschend wirkte. Die Menschen probierten ein paar Schluck, doch das Ge-tränk verlor rasch seinen Reiz. Die sechs Rebellen hatten sich am Flußufer versammelt und betrachteten das Transportmittel, das die Spielzeuge ihnen gegeben hatten, um zu Vincent Harker zu gelangen. Inzwischen war es Abend geworden; doch das Licht einer langen Kette von Papierlampions reichte mehr als aus, um den Schaufelradflußdampfer zu beleuchten. Das Schiff war gut fünfzig Fuß lang und originalgetreu bis ins Detail. Und wie alles war auch der Schaufelraddampfer in leuchtendhellen Farben gestrichen. Allmählich wünschte sich Tobias, er hätte seine Sonnenbrille mitgenommen. Die Schaufelräder waren einschüchternd groß und sahen stabil genug aus, um die weite Fahrt zu überstehen. Die meisten Dinge auf Shannons Welt dienten mehr der Dekoration denn einem wirklichen Zweck; aber der Dampfer bildete eine löbliche Ausnahme. Reineke Bär und der Seebock standen bei den Menschen. Finlay hatte halbherzig versucht, ihnen die Reise auszureden, doch am Ende hatte es niemand über sich gebracht, nein zu sagen. Schließlich war es Reineke Bär. Mit dem Seebock würden sie irgendwie leben können. »Das hier ist das gute Schiff Missis Merry Truspott«, stellte Reineke Bär den Dampfer vor. »Und bevor Ihr fragt: Nein, wir haben es nicht so getauft. Das waren Menschen. Ich hoffe, eines Tages dem Burschen zu begegnen, der dafür verantwortlich ist. Ich werde ihn an die Wand drücken und ihn in allem Ernst fragen, warum er das getan hat. Wie alle anderen Spielzeuge auch ist das Schiff intelligent und besitzt ein Bewußtsein, aber es sagt nicht viel. Es ist ein sehr philosophisches Schiff, und es denkt wie wild über alles nach, was man ihm sagt. Es wird nicht gerne in seinen tiefgreifenden Gedankengängen unterbrochen . Früher kamen Spielzeuge und stellten Missis Merry Truspott Fragen über das Wesen der Natur und der Realität, insbesondere unserer neuen Realität; doch meistens waren Missis Merry Truspotts Antworten beunruhigender als die Fragen… Heutzutage behält es seine Gedanken für sich und überläßt der Besatzung das Steuern. Wir benutzen Missis Merry Truspott für unsere unregelmäßigen größeren Reisen, und es scheint ihm nichts auszumachen. Ich schätze, wenn man so in Gedanken versunken ist wie Missis Merry Truspott, dann ist ein Ort genausogut wie der andere.« » Missis Merry Truspott war bisher noch nie im Großen Wald«, warf der Seebock düster ein. »Vielleicht ändert das seine Meinung.« »Wie auch immer«, sagte der Bär, entschlossen, sich nicht vom Thema abbringen zu lassen. » Missis Merry Truspott blieb im Krieg gegen die Menschen neutral, und ich schätze, jetzt hat das Schiff deswegen Schuldgefühle. Es ist nicht daran gewöhnt, Emotionen zu empfinden. Ich glaube, sie bringen es ein wenig aus der Fassung. Was auch immer. Missis Merry Truspott hat sich freiwillig bereiterklärt, Euch zu Harker zu bringen. Das Schiff ist nicht schnell, im Gegenteil , aber es ist zuverlässig. Es wird uns zu unserem Ziel bringen.« »Wo ist die Besatzung?« erkundigte sich Finlay. »Ich sehe niemanden…« »Da scheuer mir einer die Balken und tret gegen meine Schotten!« donnerte eine tiefe Stimme von oben herab. Sie blickten zur Brücke hinauf und bemerkten ein Gesicht , daß von einem wilden Bart überwuchert war. Es spähte zu ihnen herunter. In den Bart waren hübsche Bänder eingeflochten, und auf dem Kopf saß ein purpurner Hut mit Federn und wächsernen Zierfrüchten. Der Bursche trug schwere Ohrringe, die an mächtigen Ohrläppchen baumelten. Er starrte auf die Menschen herab und rückte nervös den Hut zurecht. »Ist das nicht wieder mal typisch für Euch Menschen? Immer in Eile! Kann sich ein Mädchen nicht wenigstens ein paar Minuten Zeit nehmen, um sicherzustellen, daß sie gut aussieht? Bleibt, wo Ihr seid, Ihr Süßen! Ich komme runter zu Euch. Und faßt ja nichts an! Ich bin gerade erst mit Aufräumen fertig geworden. Ich bin übrigens der Kapitän dieses Schiffs . Vergeßt das ja nicht!« Das Gesicht verschwand hinter der Reling, und eine Reihe laut trippelnder Schritte zeigte an, daß der Kapitän über den Niedergang zu ihnen kam . Reineke Bär und der Seebock wechselten einen vielsagenden Blick und schüttelten langsam die Köpfe . Eine Tür flog krachend auf, und der Kapitän der Missis Merry Truspott eilte heraus und schwankte auf das Geländer zu. Er war ein Piratenkapitän, in der vollen traditionellen Uniform, alles glänzende Seide und Rüschen an den Manschetten, und er balancierte unsicher auf zwei Holzbeinen daher. Auf der linken Schulter kauerte ein abgerissen aussehender Papagei, der sich verzweifelt an der Kapitänsepaulette festklammerte und die Menschen aus einem dunklen , bösartigen Auge musterte. Er hatte nur das eine Auge. Der Kapitän bekam das Geländer zu fassen und hörte auf zu schwanken. Stolz reckte er das Kinn vor; dann lüftete er vor den Menschen den Hut. »Ahoi, meine Süßen. Willkommen an Bord der Missis Merry Truspott. Bitte benutzt stets den vollen Namen, oder sie fängt an zu schmollen und pumpt den Inhalt der Bilge in die Luftschächte, wie schon so oft. Erfreut, Euch alle kennenzulernen. Ich weiß, daß wir blendend miteinander auskommen und eine wunderbare Zeit haben werden, solange unser kleines Abenteuer währt. Kommt an Bord, und wir nehmen ein paar klitzekleine Drinkies und Häppchen zu uns, bevor wir losdampfen. Ich habe Karamelbonbons und Phantasieküchlein gemacht!« »Arr harr«, sagte der Papagei auf seiner Schulter. »Gebt acht, gebt acht, der Käpten hat Plätzchen gemacht!« »Halt die Klappe«, sagte der Kapitän. Er schlug mit einer schwer beringten Hand nach dem Vogel; doch der Papagei wich dem Schlag mit der Lässigkeit langjähriger Übung aus. Der Kapitän funkelte den Papagei an, und der Papagei funkelte zurück. Dann wandte sich der Kapitän wieder seinen Passagieren zu. »Kommt nur immer her, meine Süßen! Einen guten Sherry läßt man niemals warten.« Wie ein Mann wandten sich die Rebellen nach Reineke Bär und dem Seebock um, die beide unbehaglich mit den Schultern zuckten. »Wir hatten überlegt, ob wir Euch nicht besser im voraus warnen sollten«, sagte der Bär, »aber wir wußten nicht, wie wir es in die richtigen Worte kleiden sollten. Im Grunde genommen rebelliert er gegen seine ursprüngliche Charakterisierung. Seit er intelligent wurde, scheut er keine Kosten und Mühen, sich von seiner Rolle so weit wie möglich zu distanzieren. Ich schätze, sein neues Ich basiert auf einem Passagier, der die Aufmerksamkeit des Kapitäns erweckt hatte. Er sagt, er fühlt sich viel wohler so, wie er jetzt ist.« Flynn schaute zu Tobias. »Vielleicht habe ich eine verwandte Seele gefunden!« »Du wirst ihn in Frieden lassen!« sagte Tobias entschieden. »Du wirst ihn nur noch mehr verwirren. Das letzte, was diese Spielsachen brauchen, sind Konflikte wegen ihrer sexuellen Identität .« Reineke Bär und der Seebock schauten sich verwundert an. »Sexuelle Konflikte?« fragte der Bär. »Was ist das?« Tobias wandte sich abermals wütend an Flynn. »Da siehst du mal wieder, was du angerichtet hast!« »Erzählt uns von diesem Papagei!« wechselte Evangeline rasch das Thema. »Er hat doch sicher nicht immer so ausgesehen, oder doch?« »Selbstverständlich nicht«, sagte der Bär. »Ich weiß auch gar nicht, wer ihm diese Sprache beigebracht hat. Obwohl ich gewisse Personen im Verdacht habe.« Er funkelte den Seebock an, der seinen Blick unschuldig erwiderte. »Gibt es noch mehr Besatzungsmitglieder?« erkundigte sich Giles Todtsteltzer. »Oder müssen wir die Kessel selbst befeu-ern?« »Außer dem Kapitän nur noch eins«, antwortete der Bär. »Das Schiff kümmert sich selbst um alles. Jedenfalls zum größten Teil. Halloweenie wird sich um Euch kümmern.« Die Rebellen hatten kaum genug Zeit, den Namen nachzu-sprechen und sich zweifelnde Blicke zuzuwerfen; dann ertönte ein lautes Knochenklappern, und das zweite Besatzungsmitglied betrat die Bildfläche. Es rannte mit beachtlichem Tempo übers Hauptdeck und kam am Geländer schlitternd zum Stillstand, wo es die Menschen mit einem steifen Salut begrüßte. Es war ein Skelett, vielleicht vier Fuß hoch und zusammengehal-ten von unsichtbaren Drähten. Es trug eine kecke Bandana um den strahlend weißen Schädel und eine schwarze Klappe über einer seiner leeren Augenhöhlen. »Hallo zusammen«, sagte es mit rasselnder Knabenstimme. »Ich bin Halloweenie, der kleine Skelettjunge. Ich bin der erste Maat der Missis Merry Truspott, zu Euren Diensten. Kommt an Bord, nur immer hereinspaziert, Herrschaften! Ich weiß ganz genau, daß wir zusammen ein großes Abenteuer erleben werden! Wenn ich irgend etwas tun kann, um Euren Aufenthalt an Bord komfortabler zu gestalten, dann gebt mir Bescheid!« »Diesen Burschen mag ich«, sagte Tobias. »Glaubt mir, er wird Euch schon nach kurzer Zeit ziemlich auf die Nerven gehen«, sagte der Seebock. »Kein intelligentes Wesen kann ständig nur Fröhlichkeit um sich herum ertragen. Nach einer gewissen Zeit wird das Bedürfnis beinahe unwiderstehlich, ihn an einen Anker gefesselt über Bord zu werfen. Unglücklicherweise werden wir damit leben müssen, denn er weiß als einziger, wie das Schiff am Laufen zu halten ist. Der Kapitän ist gut als Steuermann, und er kann hervorragend Befehle brüllen, aber von allem anderen hat er keine Ahnung. Also beißt die Zähne zusammen und erwidert das Grinsen des fröhlichen kleinen Mistkerls. Und fühlt Euch frei, mit Gegenständen zu werfen. Das mache ich nämlich auch immer.« »Hört nicht auf den Seebock«, sagte Reineke Bär. »So ist er immer. Einfach unausstehlich.« »Und ich hasse diese verdammten fröhlichen Farben!« brummte der Seebock. »Ich könnte kotzen.« Nach einem zivilisierten Beisammensein in der Kabine des Kapitäns, bei dem der Seebock seine Manieren vergaß, indem er den Sherry direkt aus der Flasche trank, zeigte der fröhliche Halloweenie den Passagieren ihre Kabinen und ließ sie dann allein, damit sie sich einrichten konnten. Nach der groben Kartenskizze Reineke Bars zu urteilen, würde die Reise den Fluß hinunter sicherlich einige Tage in Anspruch nehmen, und im Hinblick darauf waren die Menschen nicht sonderlich von ihren Unterkünften angetan. Die Kabinen waren hell und freundlich wie alles andere in dieser Kinderwelt auch, aber die Aus-stattung beschränkte sich auf eine Hängematte, ein Bücherregal voller klassischer Kinderbücher, einen Kühlschrank mit Säften, Limonaden und Süßigkeiten und ein Waschbecken. Fast gleichzeitig verließen die Rebellen ihre Kabinen wieder und machten sich auf die Suche nach der Kombüse und einem steifen Drink, wenn auch nicht notwendigerweise in dieser Reihenfolge. Alkohol stellte sich rasch als Mangelware an Bord heraus. Es gab Sherry für die Küche und Brandy für medizinische Notfälle, doch der Kapitän hatte längst beides für sich beansprucht. Welche Art von Rausch allerdings ein Automat aus dem Konsum von Alkohol zog, das blieb ein Geheimnis. Wenigstens gab es reichlich zu essen. Einige der Konserven waren noch nicht einmal abgelaufen. Schließlich trafen sich die Passagiere wieder an Deck und sahen der Besatzung beim Ablegemanöver zu. Es war noch weniger aufregend, als es ohnehin schon klang, und beschränk-te sich im wesentlichen auf einen Befehle brüllenden Kapitän und einen Ersten Maat Halloweenie, der ein Seil über Bord warf – ein Vorgeschmack auf die Langeweile, die sie wohl auf dieser Reise erwarten würde. Die großen Schaufelräder der Missis Merry Truspott drehten sich langsam, und die Dampfpfeife tutete laut durch die Stille des frühen Abends. Der Tag neigte sich seinem Ende zu, und am dunkler werdenden Himmel erschienen die ersten Sterne. Sie hatten exakt fünf Spitzen und bildeten Sternbilder, die an berühmte Figuren aus Kinder-romanen erinnerten . Der Vollmond trug eine lange Zipfelmüt-ze. Die Missis Merry Truspott gewann rasch an Fahrt, und die dunkle Flüssigkeit ringsum schäumte vor ihrem Bug. Das Schiff umrundete eine Biegung , und am Ufer stand die gesamte Einwohnerschaft von Spielzeugstadt. Sie waren alle gekommen , um der Abfahrt der Menschen beizuwohnen und ihnen eine gute Reise zu wünschen. Sie klatschten und lachten und riefen aufmunternde Worte , und sie schubsten sich gegenseitig fröhlich aus dem Weg, um eine bessere Sicht zu haben. Poogie der freundliche Bursche und Alles der Adaptor waren erst im letzten Augenblick an Bord gekommen. Sie standen gemeinsam an der Reling und starrten verdrießlich auf die Menge am Ufer. Reineke Bär und der Seebock lachten und winkten, und der Bock reagierte überraschend liebenswürdig auf die gelegentlichen Pfiffe. Die Menschen winkten der großen Spielzeugmenge zu, anfangs ein wenig unsicher, doch dann mit immer größerer Lässigkeit , nachdem sie sich von der allgemeinen guten Laune und Fröhlichkeit hatten anstecken lassen. Ein paar der Spielzeuge brannten Feuerwerk ab , und strahlende Blumen aus Rot, Grün und Gelb erblühten im Licht der heraufziehenden Nacht. Missis Merry Truspott tutete ununterbrochen, und so nahm die große Reise ihren Anfang. Nicht lange danach standen die Menschen allein an der Reling und sahen den dunklen Fluten zu, die an der Missis Merry Truspott vorüberzogen. Sie hatten Spielzeugstadt hinter sich gelassen, und das Land verschwand in der Dunkelheit. Ketten aus hellen Papierlampions beleuchteten das Deck. Tobias seufzte laut. »Seht Euch das gut an, Leute«, sagte er. »Das ist für eine ganze Weile die letzte Aufregung, die wir haben werden. Ich meine, das Schiff ist ja sehr hübsch und alles, aber es gibt keinerlei Abwechslung! Es sei denn, Ihr spielt gerne Kinderspiele. Davon sind reichlich vorhanden. Ich kann nicht glauben, daß es tatsächlich Menschen gibt, die richtig viel Geld für das hier ausgeben würden. Ich würde innerhalb von weniger als vier-undzwanzig Stunden vor Langeweile den Verstand verlieren! Ich kann nur annehmen, das alle Besucher bei ihrer Ankunft unter starke Drogen gesetzt worden und bis zu ihrer Abreise nicht wieder zu sich gekommen sind. Und ehrlich gesagt, ich hätte nichts dagegen, jetzt auch welche zu nehmen. Meine Güte, ist das langweilig!« »Genießt es, solange Ihr noch könnt«, sagte Giles. »Oder glaubt Ihr etwa im Ernst, daß wir den ganzen Weg bis zu Harker unbehelligt bleiben werden? Es gibt jede Menge Leute – oder sollte ich besser sagen: Spielzeuge – auf dieser Welt, die ein begründetes Interesse daran haben, daß wir nicht so weit kommen.« Die Menschen blickten sich wie beiläufig um. Alle Spielzeuge hatten sich in den Hauptsalon zurückgezogen, wo sie miteinander schwatzten. Die Menschen waren allein an Deck. Sie redeten trotzdem mit gesenkten Stimmen weiter. Man konnte nie wissen, wer gerade lauschte. »Selbstverständlich wird es Widerstand geben«, erklärte Julian. Er wirkte blaß, aber halbwegs erholt. »Die Spielsachen sind noch immer dort draußen und suchen nach Menschen, die sie töten können. Aber sie werden es nicht leicht mit uns haben. Wir sind bewaffnet. Eigentlich sollte es uns nicht besonders schwerfallen, die Angreifer auf Distanz zu halten.« »So einfach ist das nicht«, widersprach der Erste Todtsteltzer. »Vergeßt diese Geschichte über gute und böse Spielsachen. Wir dürfen niemandem trauen, dem wir auf diesem Planeten begegnen. Die Spielsachen sind eine neue intelligente Spezies. Wir haben nicht die leiseste Ahnung, welche Motive sie antreiben. Sie sind keine Menschen. Sie äffen zwar menschliche Emotionen und Verhaltensweisen nach; aber wer kann schon sagen, ob sie echt sind oder nicht? Wir dürfen ihnen nicht über den Weg trauen, nicht von Zwölf bis Mittag.« »Sie versuchen, menschlich zu sein«, sagte Evangeline. »Wir müssen sie darin bestärken. Uns bietet sich hier die einmalige Chance, das Gewissen und die Seele einer neuen künstlichen Intelligenz zu formen. Wir dürfen ihnen nicht den Rücken zuwenden. Wir haben sie schließlich geschaffen. Wir sind für sie verantwortlich.« »Nicht wir haben sie geschaffen, sondern Shub«, korrigierte Tobias. »Wer weiß, welche versteckten Kommandos tief unter ihrer neu erwachten Identität lauern?« »Sie durchbrachen Shubs Programmierung«, sagte Flynn. »Oder wenigstens die guten Spielsachen durchbrachen sie. Sonst wären wir inzwischen längst alle tot.« »Also schön, reden wir über Harker«, lenkte Giles ein. »Die bösen Spielzeuge wollen seinen Tod, weil er ein Mensch ist. Die guten Spielzeuge wollen ihn tot oder von diesem Planeten verschwunden sehen, weil sie in ihm eine Gefahr sehen. Und die Spielzeuge, die Harker um sich geschart hat, werden höchstwahrscheinlich alles in ihrer Macht Stehende tun, um uns daran zu hindern. Harker mitzunehmen . Aber was will Harker? Wird er gegen uns kämpfen, um hierzubleiben, oder wird er uns helfen, damit er fliehen kann? Was hat er wirklich vor? Was verbirgt er in diesem Wald am Ende des Flusses?« »Angeblich schart er ja gute und böse Spielsachen um sich«, antwortete Evangeline. »Falls das stimmt, ist der Wald der einzige Ort auf diesem Planeten, wo gute und böse Spielsachen friedlich zusammenleben. Warum töten die bösen Spielsachen Harker nicht? Er ist schließlich ein Mensch! Ich frage mich auch, was er ihnen erzählt, um sie so stark an sich zu binden. Und was macht er mit ihnen? Wozu braucht er sie?« »Die guten Spielsachen haben versucht, es vor uns zu verbergen; aber sie haben eine Heidenangst vor Harker« , sagte Tobias . »Wen auch immer sie in den Großen Wald geschickt haben, um ein paar Antworten zu finden – niemand ist je von dort zurückgekehrt, ganz egal, wie loyal oder vertrauenswürdig er auch gewesen sein mag. Sie bleiben alle bei Harker. Ich glaube, die Spielsachen von Spielzeugstadt haben einfach Angst vor dem Ausmaß der Kontrolle, das Harker über ihres-gleichen auszuüben scheint. Vielleicht ist es die gleiche Art von Kontrolle, die früher alle Menschen über ihre Spielsachen gehabt haben, bevor sie intelligent wurden.« »Kein Wunder, daß sie sich fürchten«, sagte Julian. »Aber warum hatten sie dann keine Angst vor uns? Wir sind Menschen, genau wie Harker.« »Gute Frage«, brummte Finlay. »Vielleicht verbergen sie ih-re Angst nur, weil sie uns brauchen, um mit Harker fertig zu werden. Schließlich haben sie uns ziemlich rasch aus ihrer Stadt hinaus und auf die Reise geschickt, oder etwa nicht?« »Noch eine Sache wegen Harker«, sagte Giles. »Warum hat er keinerlei Anstrengungen unternommen, den Planeten wieder zu verlassen? Angeblich hat er den Kopf voller Informationen, die für das Imperium lebenswichtig sind. Aber statt alle Hebel in Bewegung zu setzen, um den Sternenkreuzer im Orbit zu kontaktieren, damit jemand runterkommt und ihn holt, versteckt er sich mitten im dichtesten Wald und umgibt sich mit einer Armee fanatischer Anhänger. Was hat er dort gefunden? Was hält ihn dort fest? Was hofft er, mit seiner Armee von Spielzeugen zu erreichen?« Tobias schnaufte verächtlich. »Selbst eine ganze Armee von Spielzeugen wird ihm nichts nutzen, wenn die Eiserne Hexe die Geduld verliert und eine Armee ihrer Stoßtruppen entsendet, um ihn abzuholen. Sie werden einmarschieren und Harker mitnehmen, ob er will oder nicht.« »Da wäre ich mir nicht so sicher«, widersprach Julian. »Vergeßt nicht, was mit den letzten Soldaten geschehen ist, die sie nach Shannons Welt entsandt hat. Ihre Köpfe stecken auf Pfählen, und ihre Eingeweide haben sich mörderische Stoffpuppen einverleibt.« Evangeline erschauerte. »Ich kann immer noch nicht glauben, daß Spielzeuge das getan haben sollen.« »Hört endlich auf, von ihnen als Spielzeuge zu denken«, sagte Giles. »Sie sind den Furien von Shub ähnlicher als alles andere. Und genau das hat Shub gewollt.« »Der Bär glaubt, Harker sei vielleicht verrückt geworden«, sagte Finlay. »Vielleicht befürchtet er, Harker könne die Spielsachen anstecken, die zu ihm kommen. Damit wären sie und Harker wirklich verdammt gefährlich. Wir wollen nicht vergessen, daß noch nie jemand zurückgekehrt ist, der nach ihm gesucht hat, weder Mensch noch Spielzeug. Sie verschwanden allesamt spurlos.« »Der Rote Mann«, sagte Flynn. »Sie nennen ihn jetzt den Roten Mann. Vielleicht steht das Rot für Blut?« »Würde mich nicht überraschen«, erwiderte Tobias. »Auf dieser Welt ist nichts mehr normal. Dieser Ort treibt jeden in den Wahnsinn.« »So schlimm ist es gar nicht«, widersprach Evangeline. »Seht Euch nur die Spielzeugstadt an oder Reineke Bär und den Seebock…« »Das sind nicht Reineke Bär und der Seebock!« unterbrach sie Giles. »Das sind nichts weiter als Automaten , die genauso aussehen und klingen. Wer wäre besser geeignet als diese beiden, sich unser Vertrauen zu erschleichen und uns dann zu verraten?« »Womit wir wieder am Anfang angelangt wären«, sagte Julian. »Pssst!« flüsterte Flynn. »Da kommt jemand.« Halloweenie, der kleine Skelettjunge, klapperte mit einem Tablett voller dampfend heißer Getränke herbei. Er hatte seine Klappe auf die andere leere Augenhöhle verschoben und trug jetzt einen stolzen Dreizack auf dem Kopf, den er weit in den Nacken geschoben hatte. »Ich dachte, etwas Warmes zu trinken würde Euch vielleicht guttun«, sagte er fröhlich. »Heiße Schokolade für alle! Sorgt dafür, daß Ihr warm angezogen seid, wenn die Sonne untergegangen ist. Die Nächte hier können sehr kalt werden, wenn man nur ein Mensch ist.« »Spürst du denn keine Kälte?« fragte Evangeline und nahm einen dampfenden Becher vom Tablett. »Ich? O nein«, antwortete Halloweenie. Er zwinkerte ihr mit seiner leeren Augenhöhle zu: ein beunruhigender Anblick. »Ich bestehe schließlich nur aus Knochen. Ich klappere zwar hin und wieder damit, aber nur aus Spaß. Bleibt ruhig hier und beobachtet den Sonnenuntergang. Er ist wirklich sehr male-risch.« Er wartete, bis jeder einen Becher in der Hand hatte, dann wuselte er geschäftig wieder davon und summte dabei ein Seemannslied vor sich hin. Die Menschen nippten an ihrer heißen Schokolade, befanden sie für gut und lehnten sich an die Reling, um zu beobachten, wie die Sonne langsam hinter dem Horizont versank. Das lächelnde Sonnengesicht hatte sich verändert und sah jetzt ausgesprochen schläfrig aus. Irgendwo sangen Vögel, ein ausgedehnter Chor von Stimmen, der Frieden und Ruhe und das Ende des Tages verkündete. »Das ist nur eine Aufnahme«, sagte Reineke Bär. Die Menschen wirbelten erschrocken herum. Keiner hatte die Annäherung des Spielzeugteddys bemerkt. Er lehnte neben den Menschen an der Reling und blickte in die Nacht hinaus. »Wir haben jedenfalls nach den Vögeln gesucht und nie welche gefunden. Vielleicht ist es auch nur ein weiteres der vielen Geheimnisse dieses Planeten. Es gibt noch so vieles auf dieser Welt, die ihr Menschen geschaffen habt, das wir nicht verstehen.« Er brach ab, als weiter unten am Fluß helle Lichter vor dem Nachthimmel sichtbar wurden, gefolgt vom Geräusch entfernten Donners. »Feuerwerk!« sagte Evangeline. »Nein, nicht mehr«, entgegnete Reineke Bär. Er klang mit einemmal müde, und die Menschen drehten sich um und schauten ihn überrascht an. Er starrte mit traurigen Augen in die Nacht hinaus. »Früher einmal wäre es sicher ein Feuerwerk gewesen«, sagte er nach einer Weile. »Eine Feier der Spielsachen, um das Ende des Tages anzuzeigen. Heute sind es Bomben. Explosionen. Granaten. Der Krieg tobt noch immer, weiter unten am Fluß. Spielzeug kämpft gegen Spielzeug, ohne jeden vernünftigen Grund, in einem Krieg, der nicht enden wird, bevor nicht eine Seite die andere völlig ausgelöscht hat. Oder bis der Rote Mann und seine Armee aus dem Großen Wald kommen und allem ein Ende bereiten.« »Ihr habt Angst vor ihm, nicht wahr?« erkundigte sich Tobias. »Selbstverständlich«, antwortete Reineke Bär. »Er ist eine unbekannte Größe. Der Krieg mag schrecklich sein, aber wenigstens ist er ein Übel, das wir verstehen. Wer weiß schon, welche wahnsinnigen Pläne im Kopf des Roten Mannes Gestalt annehmen? Wir sind schließlich trotz aller Intelligenz immer noch Spielzeuge, und unser Verstand ist durch unser kurzes Leben und unsere geringe Erfahrung limitiert. Allein die Vorstellung, in welche Dunkelheit uns der Wahnsinn des Roten Mannes stürzen könnte, hat gewaltig an unseren Nerven gezerrt.« »Aber er bisher noch nichts unternommen, oder?« erkundigte sich Finlay . »Das wissen wir nicht«, antwortete Reineke Bär. »Niemand weiß, was aus den Hunderten von Spielzeugen geworden ist, die im Herzen des Dunklen Waldes verschwunden sind. Nichts als Gerüchte – Flüstern, das den Fluß herunter kommt, über-bracht von Spielsachen, die von Granaten durchsiebt waren und im Sterben lagen. Sie sagen, Harker hätte etwas entdeckt, irgendwo tief im Wald, irgend etwas, das ihn zum Roten Mann hat werden lassen. Irgend etwas, das die gesamte Welt verändern wird, bis niemand sie mehr wiedererkennt . Würde Euch das keine Angst machen?« »Wie lange… wie lange dauert dieses Schauspiel noch?« wechselte Evangeline taktvoll das Thema. Reineke Bär blickte zu den hellen Lichtern am nächtlichen Himmel . »Sie hören niemals auf. Der Krieg hört niemals auf. Das ist der Imperativ von Shub, versteht Ihr? Der Zwang zum Kämpfen ist in der Programmierung verankert, die uns unsere Intelligenz verleiht. Der Zwang zur Zerstörung, zum Töten, zur Vernichtung der Menschheit in Shubs Namen. Die wenigen von uns, die in der Spielzeugstadt leben, haben diese Konditionierung überwunden, aber den meisten ist das nicht gelungen. Nicht einmal allen, die sich selbst als gute Spielsachen betrachten. Wir haben es geschafft, unseren Zwang zur Zerstörung auf die bösen Spielsachen zu richten; aber das war auch schon alles. Jetzt kämpfen wir gegen die Bösen statt gegen die Menschen, und wir zerstören sie oder verhindern zumindest, daß sie diesen Planeten verlassen und den Krieg zu den Menschen tragen. Unterschätzt nicht unseren Mut oder die Macht unserer Überzeugungen; wir kämpfen und sterben jetzt, in diesem Augenblick, um Euch und Eure Rasse zu schützen. Manchmal frage ich mich wirklich, ob es nur dieser Krieg ist, der uns davon abhält, den Menschen an die Kehle zu gehen. Vielleicht müssen wir den Krieg in Gang halten, damit die Menschheit sicher ist. Weshalb es noch lebenswichtiger wird, daß Ihr diesen Harker findet und ihn aufhaltet, findet Ihr nicht?« »Ich dachte, Ihr wärt auf diesem Planeten gefangen?« erkundigte sich Finlay vorsichtig. »Das waren wir auch«, antwortete Reineke Bär. »Doch jetzt sind wir im Besitz einer Imperialen Pinasse, die zwar vergraben, aber größtenteils noch funktionsfähig ist, und wir besitzen Euer Schiff. Einige von uns sind sehr intelligent für Spielzeuge. Wir könnten lernen, diese Schiffe zu reparieren und zu steuern. Wir müssen Harker finden und uns um ihn und seine Armee kümmern, bevor die Nachricht von den beiden Schiffen ihn erreichen kann. Bitte versteht uns nicht falsch: Die Spielsachen von Spielzeugstadt werden nötigenfalls sowohl die Pinasse, als auch Euer Schiff zerstören, um zu verhindern, daß sie in die falschen Hände fallen. Nur um die Menschheit zu beschützen.« »Ihr meint, Ihr würdet uns hier stranden lassen?« fragte Giles. »Falls es nötig wäre – ja. Aber macht Euch keine Gedanken deswegen. Wir würden Euch für den Rest Eures Lebens beschützen und uns um Euch kümmern.« Die Menschen schauten sich schweigend an. Der Gedanke, unter Umständen den Rest ihres Lebens in einer erzwungenen Kindheit verbringen zu müssen, ließ allen einen Schauder über den Rücken laufen. Sie betrachteten Reineke Bär und sahen ihn plötzlich mit anderen Augen. In den Geschichten vom Goldenen Land hatte Reineke Bär immer das getan, was er für richtig gehalten hatte – und zwar ohne Rücksicht auf die Konsequenzen. »Und was, wenn wir versuchen würden, Euch an der Zerstörung der Schiffe zu hindern?« fragte Giles. Seine Hand schwebte verdammt dicht über dem Kolben des Disruptors. »Was, wenn wir uns querstellen würden?« Der Bär nickte traurig. »Dann müßten wir Euch töten. Wir hätten keine andere Wahl. Wir würden Euch alle töten, um die Menschheit zu beschützen. Wir mögen nur Spielsachen sein, aber wir haben unsere Lektionen gründlich gelernt. Wir wissen, was nötig ist und was nicht. Das ist der erste Schritt in Richtung Moral.« Er wandte sich brüsk ab und trottete davon. Die Menschen blickten ihm schweigend hinterher, bis er im großen Salon verschwunden war. Die Nacht schien mit einem Mal viel kälter und dunkler geworden zu sein. »Er blufft nur«, sagte Julian nach einer Weile. »Das würde er nie tun. Er könnte es gar nicht. Schließlich ist er Reineke Bär.« »Nein, ist er nicht! Ich denke, wir haben zum ersten und letzten Mal eine Ahnung von seinem wirklichen Ich gesehen. In ihm ist eine Intelligenz am Werk, die ihn über die Grenzen seiner ursprünglichen Persona hinaustreibt, ob er nun will oder nicht.« »Zur Hölle!« fluchte Flynn. »Was ist das nur für eine Welt, in der man nicht einmal mehr Reineke Bär vertrauen kann?« »Eine Welt, die Shub geschaffen hat«, antwortete Giles. »Vergeßt das niemals!« »Ich denke, wir sollten alle sehen, daß wir ein wenig Schlaf finden«, sagte Evangeline. »Es war ein langer, harter Tag.« »Vielleicht könnt Ihr ja schlafen, während Ihr von Kreaturen umgeben seid, die eben erst gedroht haben, uns alle umzubringen«, sagte Tobias. »Ich für meinen Teil habe mich noch nie im Leben so wach gefühlt .« »Wir sollten vielleicht Wachen aufstellen«, schlug Giles vor. »Wir sind wahrscheinlich in Sicherheit, solange wir das tun, was die Spielsachen von uns verlangen , aber ich denke , wir schlafen trotzdem besser, wenn wir wissen, daß einer von uns Wache hält. Nur für den Fall. Ich übernehme die erste Wache.« »Ich löse Euch in drei Stunden ab«, meldete sich Finlay. »Anschließend Tobias, und dann ist die Nacht vorbei.« »Verdammt noch mal!« fluchte Julian. Er war mit einemmal so wütend, daß ihm die Tränen in die Augen traten. »Selbst unsere Kindheit wird uns genommen und besudelt. Gibt es denn gar nichts mehr, das noch heilig ist?« Er funkelte die anderen an, doch sie wußten nicht, was sie ihm antworten sollten. Am Ende nahmen Evangeline und Finlay ihn bei den Armen und führten ihn zu den Kabinen. Tobias und Flynn schauten sich an, zuckten die Schultern und folgten den dreien. Giles fand eine Wand, gegen die er sich lehnen und von wo aus er den größten Teil des Decks und der Niedergänge im Auge behalten konnte. Er setzte sich nieder, zog sein Schwert und legte es über die Knie. Er war bereit. Und so saß er da, starrte in die Nacht hinaus, beobachtete das helle Blitzen der Explosionen und lauschte dem unterdrückten Donnern, während er seinen eigenen Gedanken nachhing. Die Spielsachen blieben im großen Salon unter sich und taten, was auch immer Spielsachen in der Nacht machten, und belästigten ihm übrigen niemanden. Und der große Schaufelraddampfer fuhr den Fluß hinab in Richtung des Herzens der Dunkelheit. Ein paar Stunden, nachdem die lächelnde Sonne hinter dem Horizont hervorgekrochen war, kam Halloweenie vorbei und klopfte höflich an die Türen. Er teilte den Rebellen mit, daß in der Kombüse ein Frühstück auf sie wartete, falls sie Hunger verspürten. Alle gingen hin, selbst Tobias, der gerade seine Wache hinter sich hatte und jeden anknurrte. Er war nicht gerade ein Frühaufsteher. Niemand wollte etwas versäumen. Sie hatten alle geduscht und ihre sonstigen sanitären Geschäfte erledigt. Die modernen Badezimmer und Toiletten, die hinter den Kabinen versteckt lagen, waren eine angenehme Überraschung gewesen. Offensichtlich hatte die Kinderwelt einige Konzessionen an ihre erwachsenen Besucher machen müssen. Das Frühstück war ein echter Cholesterincocktail aus Schin-ken, Würstchen, Eiern und anderen ungesunden Dingen, und es wurde vom Kapitän persönlich serviert, der eine rüschenbesetz-te Schürze trug. Die gute alte Missis Merry Truspott tuckerte noch immer stetig den Fluß aus Limonade hinab. Das Schiff achtete sorgfältig darauf, in der Mitte des Stroms zu bleiben. Sie schienen während der Nacht ein gutes Stück vorangekommen zu sein und befanden sich inzwischen in unbekanntem Gebiet. Das ständige Donnergrollen der Spielzeug-Artillerie war noch immer fern, obwohl inzwischen merklich lauter. Die Landschaft zu beiden Seiten bestand aus riesigen Brettspielen, jedes einzelne so groß wie ein Fußballfeld. Auf ihnen wurde nicht mehr gespielt, sondern gekämpft. Der Boden war schwarz von Feuern und von Bombenkratern zerwühlt. Die freundlichen hellen Farben waren verschwunden, und die Markierungen waren zerrissen und hatten jede Bedeutung verloren. Überall lagen tote Spielfiguren herum. Zerbrochene Schachfiguren mit entfernt menschenähnlichen Umrissen. Springer mit zerfetzten Pferdeköpfen, Läufer mit abgerissenen Mitren, Bauern, deren elektronische Eingeweide heraushingen. Nirgendwo war ein Zeichen von Kampfhandlungen zu sehen. Der Krieg war weitergezogen. Es war nicht zu erkennen, wer oder ob überhaupt irgendeine Seite hier gewonnen hatte. Nach einer Weile wich die Brettspiellandschaft riesigen Puzzlespielen. Die einzelnen Teile waren zerbrochen und verstreut und manchmal aus taktischen Gründen neu angeordnet worden, so daß die Bilder nicht mehr zu erkennen waren. Einige Steine fehlten einfach. Man hatte sie aus keinem erkennbaren Grund entfernt. Weitere tote Spielsachen lagen dort, wo sie gefallen waren – Ehre für die Toten war eine menschliche Ei-genschaft. Spielsachen recycelten, was noch zu recyceln war, und zogen mit der Front weiter. Manchmal waren die Toten – sei es aus ästhetischen oder psychologischen Gründen – auf bestimmte Art drapiert worden, um Entsetzen in die Herzen der Feinde zu pflanzen. Ein ganzes Regiment aus Matrosenpuppen war sorgfältig verstümmelt, enthauptet und dann in einer langen Reihe einen Hang entlang gekreuzigt worden. Hunderte von Kreuzen führten den Hang hinauf bis zum Gipfel, wo eine einzelne Matrosenpuppe – wahrscheinlich der gegnerische Anführer – mit dem Kopf nach unten gekreuzigt und anschließend verbrannt worden war. Noch immer stieg Rauch von der verkohlten, geschwärzten Gestalt empor. Evangeline wollte die Missis Merry Truspott anhalten lassen. Sie war sicher, daß einige der Puppen sich noch immer verzweifelt gegen ihr Schicksal wehrten. Der Kapitän weigerte sich. Es bestünde immer die Möglichkeit, daß es sich um eine Falle handeln könnte, begründete er seine Weigerung mit, wie es schien, ehrlichem Bedauern. Die bösen Spielsachen hätten so etwas nicht zum ersten Mal getan. Die Menschen sahen genau hin; aber nirgends war ein Zeichen vom Feind zu sehen. »Sie können sich überall verstecken«, sagte der Kapitän. Die Menschen erinnerten sich an die Stoffpuppen unter den zerstörten Eisenbahnschienen und schwiegen. Ein Stück weiter lagen Hunderte von Spielzeughunden und -katzen zerrissen und zerfetzt mitten zwischen den Bombenkratern, und das Material, mit dem sie ausgestopft gewesen waren, flatterte im Wind wie kleine weiße Wattewölkchen. Ihre Tier-gesichter wirkten unschuldig und überrascht, als hätten sie in ihren letzten Sekunde darüber nachgedacht, wie sie nur so hatten enden können. Reineke Bär und der Seebock standen beieinander, während das Schiff langsam an dem Gemetzel vor-beiglitt. Sie hielten sich an den Pfoten, doch sie wandten den Blick nicht ab. Poogie saß hinter ihnen und schniefte leise. Seine großen dunklen Augen waren naß vor Tränen. Das Spielzeug, das sich selbst den Namen Alles gegeben hatte, stand ein wenig abseits und beobachtete schweigend, wie sie an einem Feld voller toter Adaptorspielzeuge vorüberkamen, die aussahen wie es selbst. Die glänzenden Metallfiguren waren fast ausnahmslos mitten in einer Verwandlung gestorben, gefangen in merkwürdig halbfertigen Gestalten, die weder das eine noch das andere waren. Als hätte der Tod sie ereilt, während sie noch verzweifelt nach einer Form gesucht hatten, der die erlit-tenen tödlichen Wunden nichts ausmachten. Gott sei Dank schoben sich nach und nach Bäume und Gestrüpp bis an die Ufer heran und wurden zu ausgedehnten dichten Wäldern, so daß die Schlachtfelder vom Schiff aus nicht mehr zu sehen waren. Die Bäume waren groß und ausladend und schwer von sommerlichem Grün; doch in ihren Ästen sangen keine Vögel, und im Unterholz bewegten sich keine Tiere. Die Wälder waren zum Spielen errichtet worden, um auf die Bäume zu klettern und sich zu verstecken und was sonst noch alles. An ihnen war absolut nichts Natürliches. Allmählich wurde es wärmer, heiß genug, um ins Schwitzen zu geraten, jedoch nicht unerträglich . Die Menschen lagen in Decksstühlen und beobachteten die vorübergleitende stille Landschaft, während sie von einem übereifrigen Halloweenie bedient wurden. Wenn er nicht gerade unterwegs war, um kalte Getränke oder heiße Snacks zu holen, dann saß er ihnen zu Füßen und stellte endlose Fragen über das Leben auf anderen Welten. Er kannte nichts außer anderen Spielsachen, den menschlichen Patienten und dem Krieg, und er verstand die Hälfte der Antworten nicht, die er erhielt. Manchmal schüttelte er den knochigen Kopf und lachte – und stellte weitere Fragen. Der kleine Skelettjunge liebte Geschichten, und er lauschte glücklich den Heldenerzählungen von Giles und Finlay. Eine Zeitlang lauschte er auch Tobias; doch die meisten Geschichten des Journalisten überstiegen seinen Horizont. Poogie, Reineke Bär und der Seebock spielten unentwegt Ringtennis; dabei stritten sie ständig über die Regeln – ganz besonders dann, wenn der Bock wieder einmal am Verlieren war. Alles der Adaptor blieb die meiste Zeit über für sich allein, doch hin und wieder erwachte er aus seiner brütenden Starre und wechselte zum Vergnügen Halloweenies die Gestalt. Der kleine Skelettjunge amüsierte sich endlos darüber und kreischte und klatschte bei jeder neuen Transformation. Der Adaptor beteiligte sich kaum an den Unterhaltungen; aber manchmal sprach er leise mit Halloweenie und unterbrach sich jedesmal, wenn ein anderer in seine Nähe kam. Der Kapitän blieb auf der Brücke und hielt den Schaufelraddampfer genau in der Mitte des Flusses, während er beide Ufer mit verdrießlichem Mißtrauen im Auge behielt. Der Papagei verließ niemals seinen Platz auf der Schulter des Kapitäns und murmelte leise Obszönitäten, um sich selbst zu beruhigen. An den Flußufern lebten kleine künstliche Tiere. Hin und wieder kamen sie aus ihren Löchern und Höhlen hervor und winkten und riefen den Menschen aus sicherer Entfernung freundliche Grüße zu. Künstliche Delphine in hellen Farben zogen den Fluß herauf und schwammen eine Weile neben der Missis Merry Truspott. Hin und wieder hoben sie die glatten Köpfe aus der Limonade und betrachteten die Menschen aus hellen, intelligenten Augen, die keinerlei Gefühlsregung erkennen ließen. Der lange Tage ging nur langsam vorüber. Es war warm und angenehm, und nichts geschah – alles war genau so, wie es in den frühen Tagen von Shannons Traum gewesen sein mußte. Das Donnergrollen des Krieges war ein weit entferntes, leises Rumpeln, wie ein Gewitter, das einen heraufziehenden Sturm ankündigt . Einige der Menschen waren tatsächlich eingedöst, als das Schiff in ein Kampfgebiet einfuhr. Die friedliche Stimmung war mit einemmal zu Ende , und alles ging zur Hölle. Die Spielsachen waren zwischen den Bäumen hindurch ge-schlichen und hatten sich in den Schatten verborgen gehalten, leise und unauffällig; dann waren sie lautlos ins dunkle Limonadenwasser des Flusses geglitten. Sie waren tief unter der Oberfläche geschwommen – sie benötigten keine Atemluft –, um dann unbemerkt an den Seiten der Missis Merry Truspott hochzuklettern. Schließlich schwärmten sie über die Reling, schwenkten Schwerter und Äxte und schrien Flüche gegen die Menschheit. Es waren farbenfrohe, ausgefranste Gestalten, die auf der gesamten Länge des Schiffs aufs Deck sprangen. Sie besaßen größtenteils humanoide Umrisse; doch ihre Körperteile und Glieder waren aus verschiedenfarbigen Teilen zusammengesetzt. Die Arme waren unterschiedlich lang; die Beine paßten in den Proportionen nicht zu den Rümpfen, und die Köpfe drehten sich um volle dreihundertsechzig Grad. Finlay kannte die Spielsachen aus seiner Kindheit. Sie wurden in Ein-zelteilen verkauft – Körper, Gliedmaßen und Köpfe, alle in verschiedenen Farben und Größen – und mußten erst von den Kindern zusammengesetzt werden, um damit spielen zu können. Man konnte die Teile gegen andere austauschen und so neue Figuren bauen. Irgend jemand hatte die Idee mit nach Shannons Welt gebracht, und jetzt waren die Patchworkspiel-zeuge gekommen, um Vergeltung für die Jahre des willkürlichen Auseinandernehmens und Wiederzusammenbauens durch die Menschenkinder zu üben. Die Menschen sprangen auf. Entsetzen vertrieb die Schläf-rigkeit aus ihren Köpfen. Sie hatten gerade genug Zeit, ihre Schwerter zu ziehen; dann waren die bösen Spielzeuge auch schon über ihnen. Finlay und Evangeline standen Rücken an Rücken und schlugen nach allem, was in die Reichweite ihrer Schwerter geriet. Giles war am Bug umzingelt und eingeschlossen, doch er hielt seine Stellung, und seine schwere Klinge fuhr durch die Körper der Spielzeuge, als wären sie aus Papier. Er kämpfte ruhig und ökonomisch, sparte seine Kräfte und ließ sich auch nicht von der schieren Zahl der Angreifer beeindrucken, die unablässig gegen ihn vordrangen. Tobias und Flynn stemmten sich mit den Rücken gegen die Außenwand des großen Salons und errichteten eine Barrikade aus Decksstühlen zwischen sich und den Spielsachen, über die sie mit ihren Disruptoren hinwegfeuerten. Die Energiestrahlen rissen breite Lücken in die dicht gedrängten Reihen der Angreifer. Flynns Kamera schwebte über der Szenerie und filmte alles, wie immer. Julian wollte einen PSI-Sturm heraufbeschwören, doch allein der Versuch reichte aus, um ihn halb wahnsinnig vor Kopfschmerzen werden zu lassen. Er sank auf die Knie, und Blut lief ihm aus Mund und Nase. Halloweenie packte ihn am Arm und zerrte ihn mit der Kraft der Verzweiflung in den Salon. Er verriegelte die Tür von innen und verrammelte sie anschließend mit schwerem Mobiliar gegen die anstürmenden Spielsachen. Dann drehte er sich zu Julian um und erstarrte entsetzt beim Anblick eines Menschen, der blutete und daher offensichtlich verletzt war. Schließlich packte er einen eisernen Schürhaken aus einem Gestell neben dem Kamin und postierte sich hinter der verbarrikadierten Tür, fest entschlossen, niemanden vorbeizulassen, solange noch Kraft in seinen knochigen Armen war. Reineke Bär und der Seebock waren genauso das Ziel des Angriffs wie die Menschen, und sie kämpften Seite an Seite. Der Bock hatte einen großen Knüppel aus irgendeiner geheimnisvollen Falte seines Mantels gezogen und führte ihn nun mit großem Geschick und einer gewissen Häme. Reineke Bär hatte einmal mehr die stählernen Klauen aus den Pfoten ausgefahren und zerriß die angreifenden Spielsachen mit kalter, berechnender Wut. Auch Poogie der freundliche Bursche zeigte mit einemmal furchteinflößende Klauen und Zähne, und er bahnte sich skrupellos einen Weg durch die dichte Masse von Spielsachen, die sich auf dem Deck drängten. Oben auf der Brücke der Missis Merry Truspott schleuderte der Kapitän den Angreifern Flüche und Herausforderungen entgegen und bemühte sich hektisch, den Schaufelraddampfer auf Fahrt zu bringen, um die Spielzeuge abzuhängen, die noch im Wasser warteten. Bis jetzt hatte noch keines der Zusammensetzspielzeuge die Brücke erreicht; doch der Kapitän hielt bereits einen schweren Säbel in der Hand. Inzwischen war das gesamte Deck voller Spielzeuge , und noch immer enterten neue Angreifer über die Reling der Missis Merry Truspott. Sie waren zu Hunderten, und ihre Flut schien kein Ende nehmen zu wollen. Die Schwerter hatten keine große Mühe mit ihnen; aber die Spielzeuge kämpften selbst mit einem abgetrennten Glied oder einem beschädigten Rumpf mit unverminderter Wut weiter. Und wenn sie zu stark beschädigt wurden, dann kamen andere Spielzeuge und rissen sie ganz auseinander, um ihre eigenen Körper mit den Ersatzteilen zu reparieren. Überall auf dem Deck lagen verstreute Körperteile herum und wurden zertrampelt. Die Menschen kämpften mit zunehmender Verzweiflung. Nach und nach ermüdeten sie immer mehr, im Gegensatz zu ihren Feinden . Finlay kämpfte auf dem Gipfel seiner Künste. Er war ausgeruht und stark und tödlich, und kein Spielzeug konnte ihm widerstehen. Aber es waren ihrer so viele, und nicht einmal ein Mann, der einst der unbesiegbare Maskierte Gladiator der Arena von Golgatha gewesen war, konnte lange gegen eine solche Armee bestehen. Mit der Kraft der Verzweiflung hielt Evangeline ihm den Rücken frei. Sie gab ihr Bestes, das Schwert so zu führen, wie Finlay es sie gelehrt hatte. Gleichzeitig bemühte sie sich, das Entsetzen für sich zu behalten, das in ihr aufzusteigen drohte, um Finlay nicht unnötig abzulenken. Die Barrikade, die Tobias und Flynn rings um sich herum errichtet hatten, wurde nach und nach trotz all ihrer Anstrengungen abgetragen. Langsam wurde den beiden Nachrichtenleuten klar, daß sie sich selbst in eine Ecke manövriert hatten, aus der es kein Entkommen für sie gab. Sie zogen ihre Schwerter und wurden zögernd Bestandteil der Geschichte, über die sie eigentlich nur hatten berichten wollen. Tobias schrie Flynn zu, mit seiner guten Seite zu kämpfen, und Flynn erwiderte, daß er keine gute Seite besäße. Tobias lachte rauh und führte das Schwert mit beiden Händen. Giles Todtsteltzer stand allein am Bug der Missis Merry Truspott. Er war von wütenden, heulenden Spielzeugen umgeben, und obwohl seine Lage aussichtslos schien, kämpfte er hart und gut. Langsam wurde er müde, doch er war immer noch stark. Der Zorn raste durch seinen Körper. Die Übermacht war groß; aber der Erste Todtsteltzer hatte schon gegen schlimmere Feinde gekämpft. Wenigstens dachte er das. Doch dann erhaschte er zum ersten Mal einen Blick auf die Hunderte von Spielsachen, die sich auf dem Promenadendeck drängten, und seine Zuversicht sank. Manchmal war die Übermacht eben doch zu groß, um dagegen zu bestehen – selbst für den legendären Giles Todtsteltzer. Er kämpfte trotzdem weiter. Der Erste Todtsteltzer hatte schon früher dem Tod die Stirn geboten, und er hatte nie gezögert, ihm in die Augen zu schauen; aber er hatte nie geglaubt, daß er einmal so sterben würde. Auf eine so entehrende Weise, zur Streckegebracht von der schieren Überzahl der Feinde. In Stücke gehackt von Spielzeugen auf einer dämlichen Vergnügungswelt… Die Spielzeuge warfen sich auf ihn. Ihre Schreie waren entsetzlich. Die künstlichen Stimmen waren voller Wut und freudiger Erwartung, und Schwerter und Äxte wurden geschwungen, die den Ersten Todtsteltzer in Stücke hacken würden, die niemand mehr zusammensetzen könnte. Plötzlich packte Giles Todtsteltzer blinder Zorn, und Verzweiflung erweckte die Kräfte, die das Labyrinth des Wahnsinns ihm geschenkt hatte. Macht erstrahlte in seinem Unterbewußtsein, und sie strahlte hell in Teilen seines Verstandes, die er noch nie benutzt hatte, und mit einemmal war Giles Todtsteltzer an einem anderen Ort. Er stand auf der Brücke, direkt neben einem verblüfften Kapitän, während die Spielzeuge unten am Bug die Stelle überrannten, wo er sich noch Sekundenbruchteile zuvor befunden hatte. Sie starrten dümmlich in die Gegend und wunderten sich, wohin ihre sicher geglaubte Beute so plötzlich verschwunden war. Giles lachte laut auf. Er war teleportiert! Er konnte spüren , wie die neue Fähigkeit ein Teil seines Selbst wurde , so leicht und einfach und natürlich wie das Atmen, und er fragte sich unwillkürlich, welche anderen Fähigkeiten sich in Zeiten der Not noch in ihm manifestieren würden. Er blickte nach unten auf das Gewimmel von Spielzeugen und grinste böse, während er überlegte, wie er seine neu gewonnene Fähigkeit als nächstes einsetzen sollte. Der Kapitän wankte auf seinen Holzbeinen über die Brücke und schwang den Säbel mit mehr Kraft als Geschick. Bisher waren nur wenige Spielzeuge so weit vorgedrungen, doch er hörte bereits, wie sich weitere auf den Weg nach oben machten. Der Papagei flatterte vor ihren Gesichtern herum, kreischte Beleidigungen und irritierte die Angreifer. Niemand hatte die Hände am Ruder, und das Schiff trieb führerlos dahin. Gegenwärtig hielt es Kurs auf das Ufer. Unten auf dem Promenadendeck hatte der Adaptor Alles seine martialischste Gestalt angenommen und bahnte sich mit rasiermesserscharfen Handkanten einen Weg durch das Ge-wühl. Die Waffen der Spielsachen prallten wirkungslos von seinem Metallkörper ab; also klammerten sie sich an seine Ar-me und Beine und versuchten, ihn durch ihr schieres Gewicht zu Fall zu bringen. Doch das Spielzeug, dessen Traum es war, eine Furie von Shub zu sein, stand wie ein Fels in der Brandung und weigerte sich zu fallen. Poogie war ein schnarrendes Etwas aus Haß und Zerstörungswut geworden. Der freundliche Bursche besaß nicht mehr die geringste Ähnlichkeit mit einer Zeichentrickfigur. Er war außer sich vor Wut über die Spielsachen, die ihn an seiner Wiedergutmachung hindern wollten und die es wagten, Menschen anzugreifen, die unter seinem persönlichen Schutz standen. Er kämpfte unermüdlich mitten auf dem Deck, und nichts und niemand war stark genug, ihn zu Fall zu bringen und zu besiegen. Doch die angreifenden Spielzeuge waren einfach so viele. So verdammt viele. Im Salon stand Halloweenie hilflos über Julian und überlegte verzweifelt, was am besten zu tun sei. Draußen hämmerten böse Spielsachen gegen die verbarrikadierte Tür und warfen die Fenster ein. Der junge Esper blutete noch immer heftig aus Mund und Nase, trotz aller Anstrengungen, die der fröhliche Skelettjunge unternommen hatte, um die Blutungen zu stoppen. Das Schiff besaß eine Sanitätsstation; doch Halloweenie war nicht kräftig genug, um den Esper so weit zu tragen, selbst wenn sie von den Angreifern unbemerkt bleiben würden. Halloweenie hätte alleine fliehen können, doch er wollte den verletzten Menschen nicht ohne Schutz zurücklassen. Die Angreifer hämmerten gegen die Türen und brachen sie langsam auf, und die aufgestapelten Möbel wurden Zentimeter um Zentimeter nach hinten geschoben. Andere Spielzeuge versuchten, durch die Fenster einzudringen. Halloweenie rannte hierhin und dorthin und stieß alle wieder hinaus. Und dann brach die Barrikade aus Möbeln plötzlich auseinander und fiel polternd um. Die Tür schwang weit auf, und die Spielzeuge stürmten heulend in den Raum. Halloweenie rannte vor und stellte sich zwischen die Angreifer und den verletzten Menschen, aber es waren so schrecklich viele, und er war nur ein kleiner Skelettjunge. Er ging unter ihrem Ansturm zu Boden, und sie trampelten über ihn hinweg. Knochen bogen sich und brachen, und er kreischte Julian zu, daß er weglaufen solle. Der junge Esper gab sich alle Mühe, auf die Beine zu kommen, und dann taumelte er vor, um seinem kleinen Verteidiger zu Hilfe zu eilen. Schwerter und Äxte hoben sich rings um ihn herum. Ein Krachen wie von einem Donner ließ alle innehalten: das Geräusch von explosionsartig verdrängter Luft. Giles Todtsteltzer erschien wie aus dem Nichts mitten im Salon. Die Spielzeuge wichen zurück. Das plötzliche Auftauchen eines weiteren Feindes hatte sie verunsichert. Giles trat vor und half Julian aufzustehen, und während die Spielsachen noch zögerten, griff er mit seiner Labyrinth-geborenen Macht nach Julians Geist. Julian wehrte sich erschrocken, als er den Plan des Todtsteltzers durchschaute; doch Giles wischte die Abwehr des Espers mit lässiger Leichtigkeit beiseite. Er übernahm die Kontrolle über Julians ESP und beschwor einen PSI-Sturm herauf. Julian schrie entsetzlich. Der Laut erhob sich über den allgemeinen Kampflärm, und alle hielten für einen kurzen Augenblick inne. Und dann war es, als fege ein gewaltiger Sturm der Länge nach über die Missis Merry Truspott. Er packte die bösen Spielsachen und schleuderte die meisten von ihnen über Bord. Andere mit weniger Glück wurden zerrissen und in ihre Bestandteile aufgelöst, bevor der Wind sie in alle Richtungen verstreute. Wieder andere explodierten einfach, als sie von Blitzen getroffen wurden, die über das Deck fegten. Nichts als knisternde, funkensprühende Reste blieben von ihnen übrig. Die Menschen standen wie erstarrt und beobachteten das Schauspiel ehrfürchtig. Der Sturm hatte sie völlig verschont. Reineke Bär wurde von der Wucht des Windes von den Füßen gerissen, doch der Seebock packte ihn mit einer Hand und klammerte sich mit der anderen verzweifelt an der Reling fest. Die Belastung drohte, ihn zu zerreißen, doch er ließ nicht lok-ker. Schließlich war er der Seebock, und der Seebock ließ seine Freunde nicht im Stich. Poogie und Alles klammerten sich verängstigt aneinander. Sie hatten unter einem Stapel Decksstühlen Zuflucht gesucht. Im Salon, im Zentrum des künstlichen Sturms, fielen die Spielsachen tot um, wo sie standen oder gingen. Der Wind heulte wie eine menschliche Stimme, voll Schmerz und Jubel zugleich, und fegte die Spielzeuge ins Wasser zurück. Und dann erstarb der Sturm so rasch, wie er gekommen war, und an Bord war alles wieder ruhig – mit Ausnahme der schmerzerfüllten Schreie aus dem Salon und Halloweenies verzweifelten Hilferufen. Die Menschen und die guten Spielzeuge vergaßen ihren plötzlichen, unvermuteten Sieg und ihre zahlreichen Wunden und rannten zum Salon. Sie schoben sich durch die halb zerstörte Tür und an den zerschmetterten Barrikaden vorbei. Und dann sahen sie Halloweenie, der seinen zerbrochenen, geschundenen Körper voller Schmerzen über den Boden zog und versuchte, Julian zu erreichen, der zuckend in den Armen des Ersten Todtsteltzers lag. Die entsetzlichen Schreie des Espers wurden rauher, als würde seine Kehle zunehmend Schaden nehmen. Giles ließ Julian zu Boden sinken und wich zurück. Er musterte die anderen mit kalten, wachsa-men Augen. »Laßt ihn nicht entkommen!« kreischte Halloweenie. »Er ist an allem schuld! Er hat Julian weh getan. Er hat irgend etwas mit ihm angestellt, und Julian fing an zu schreien und konnte nicht mehr aufhören.« Finlay und Evangeline traten rasch vor und knieten neben dem jungen Esper nieder . Julian Skye zuckte am ganzen Leib, und seine Hacken trommelten auf den Boden . Der Kopf schnellte von einer Seite zur anderen, hin und her, hin und her, und Blut strömte aus seinem Mund, während er schrie . Evangeline half ihm, sich aufrecht hinzusetzen, und wiegte ihn dann in den Armen, Sie versuchte, seine hilflosen Bewegungen aufzu-fangen. Finlay untersuchte Julian nach Wunden, und bald wurde seinen in der Arena trainierten Augen klar, daß die Verletzungen innerer Natur sein mußten. Die Gegenwehr des jungen Espers wurde schwächer, als die letzten Kräfte ihn verließen . Seine Schreie wurden zu einem Stöhnen . Blut sickerte aus seinen Ohren und tropfte aus den Augenhöhlen und über die Wangen wie purpurrote Tränen. Er war leichenblaß im Gesicht und seine Haut eiskalt. Finlay starrte den Todtsteltzer feindselig an. »Was zur Hölle habt Ihr mit ihm gemacht?« »Nur das, was nötig war«, antwortete Giles. Seine Stimme klang gelassen, aber wachsam. »Wir benötigten einen PSI-Sturm. Es war unsere einzige Überlebenschance. Also half ich dem Esper, einen zu produzieren.« »Ihr wußtet, daß er daran sterben konnte!« hielt ihm Evangeline vor. »Ja, das wußte ich«, bestätigte Giles. »Das wußte ich. Aber es war notwendig.« »Wenn er stirbt, seid Ihr ein Mörder!« sagte Evangeline. »Es wäre nicht mein erster Mord. Werdet endlich erwachsen, Frau! Wir befinden uns mitten in einem Krieg. Das Überleben der Gruppe kommt an erster Stelle. Unsere Mission ist wichtiger als jeder einzelne von uns. Und bevor Ihr fragt – ja, das schließt mich mit ein!« Tobias eilte herein. Er brachte einen kleinen Autodoc aus der Sanitätsabteilung der Missis Merry Truspott mit und reichte ihn dem Feldglöck. Finlay riß den Kragen des jungen Espers auf und preßte die flache Scheibe auf dessen Hals. Tobias trat zu-rück, um Flynns Kamera nicht die Sicht zu versperren. »Es ist ein ziemlich einfacher Autodoc«, erklärte er zögernd. »Ich meine, er ist ganz gut, was das Verabreichen von Beruhigungsmitteln und Schmerzdämpfern angeht, aber fragt mich nicht, was er gegen einen totalen Schock und zerebrale Hämorrhagien bewirken kann.« Julian beruhigte sich nach und nach, während die Wirkung der Medikamente einsetzte, die der Autodoc in ihn hinein-pumpte. Schließlich erstarb sein Stöhnen zu einem kaum noch hörbaren Wimmern. Evangeline wiegte ihn sanft, streichelte seine Stirn und murmelte tröstende Worte wie eine Mutter zu einem kranken Kind. Julian schien sie nicht zu hören. Finlay stand auf und drehte sich zu dem kleinen Skelettjungen Halloweenie um. Reineke Bär und der Seebock kümmerten sich bereits um ihn. Er hatte beide Beine und die meisten Rippen gebrochen. Die Brüche waren an dem nackten Skelett deutlich zu sehen. Ein langer Riß zog sich über den Schädel, und das glänzende Metall seines künstlichen Gehirns schimmerte durch. Halloweenie weinte ohne Tränen. Poogie und Alles sahen hilflos von der Tür her zu. »Wie geht es ihm?« fragte Finlay. »Was kümmert’s Euch?« herrschte ihn Alles der Adaptor an. »Er ist schließlich nur ein Spielzeug, oder?« »Er ist einer von uns«, entgegnete Finlay. Er sah den Bären und den Bock an. »Können wir die Verletzungen reparieren?« »Ich hoffe es«, antwortete Reineke Bär. »Er ist ein Automat, nicht wahr? Wir haben zwar keine Ersatzteile an Bord; aber es sollten sich genügend Splinte und Klammern finden lassen, um ihn zusammenzuhalten, bis wir wieder zurück in der Spielzeugstadt sind.« »Wenn wir denn je wieder zurückkommen«, bemerkte der Seebock zweifelnd. »Halt die Klappe, Bock!« fuhr ihn der Bär an. »Jetzt ist nicht die Zeit für so etwas.« Er wandte sich an Finlay und blickte ihn aus seinen großen, intelligenten Augen an. »Euer Freund liegt im Sterben, nicht wahr?« »Ja«, antwortete Finlay leise. »Ich glaube, daß er sterben wird. Er hat uns alle gerettet, aber wir können hier auf dem Schiff nichts für ihn tun.« »Der Todtsteltzer hat ihm das angetan«, sagte der Bär. »Er besitzt ungewöhnliche mentale Kräfte. Ich habe ihn teleportieren sehen. Vielleicht kann er seine Kräfte einsetzen, um die Schäden wiedergutzumachen, die er dem jungen Esper zugefügt hat.« Finlay drehte sich zu Giles um, der den Blick des Feldglöcks fest erwiderte. »Nun?« fragte Finlay. »Man sagt, Ihr wärt durch das wunderbare Labyrinth von Haden gegangen. Zeigt uns, zu was Ihr fähig seid! Schließlich seid Ihr deshalb ja hier, nicht wahr? Um Eure ganz speziellen Kräfte einzusetzen. Heilt ihn!« »Ich weiß nicht, ob ich das kann«, antwortete Giles. »Ich ha-be so etwas noch nie zuvor versucht.« »Dann versucht es eben jetzt«, sagte Finlay und richtete seinen Disruptor auf Giles’ Brust. »Oder ich werde Euch töten, so wahr ich hier stehe und Finlay Feldglöck heiße. Jetzt auf der Stelle.« »Nein, das werdet Ihr nicht«, entgegnete der Erste Todtsteltzer gelassen. »Ihr braucht mich noch. Ohne mich werdet Ihr Harker niemals erreichen, und unsere Mission wird scheitern.« »Scheiß auf die Mission! Heilt Julian, oder Ihr seid ein toter Mann!« »Ich werde das hier nicht vergessen«, sagte der Todtsteltzer. Seine Stimme klang ruhig und kalt. »Was meint Ihr, was für einen Dreck ich darauf gebe?« höhnte Finlay. Giles nickte und kniete neben Evangeline nieder. Sie funkelte ihn an; doch schließlich ließ sie es zu, daß er ihr Julian aus den Armen nahm. Der Todtsteltzer hielt den jungen Esper mit überraschender Sanftheit, und Julians Kopf sank kraftlos gegen seine Brust. Blut tropfte von seinem Kinn. Julians Atem ging sehr schwach . Giles schloß die Augen und konzentrierte sich auf eine Art und Weise, die noch neu und ungewohnt war, und sein Bewußtsein griff hinaus in eine Richtung, die er nicht zu benennen vermochte. Er wußte nur, daß sie da war. Dann erblickte er Julian als ein schwaches Licht in der Dunkelheit, eine flackernde Kerze, deren Flamme im Begriff stand zu erlöschen. Giles richtete seinen mentalen Blick auf sich selbst und erkannte ein Licht, das zu grell war, um hin-zusehen. Und plötzlich war es die einfachste Sache der Welt für ihn, einen Teil dieses Lichts zu nehmen und es Julian zu schenken. Plötzlich richtete sich der junge Esper in den Armen des Todtsteltzers auf. Er riß die Augen auf und atmete tief durch wie ein Schwimmer, der von einem langen Tauchgang an die Wasseroberfläche zurückkehrt. Die Blutungen hatten aufgehört, und seine Gesichtsfarbe war wieder normal . Er sah sich verblüfft um . »Was zur Hölle war das?« fragte er . »Mir war, als hätte Gott persönlich meinen Namen gerufen.« »Glaubt mir«, sagte Finlay, »Gott hatte nichts damit zu tun.« »An was könnt Ihr Euch erinnern?« erkundigte sich Evangeline, während sie ihm half aufzustehen . »Ich… ich bin nicht sicher. Wir wurden angegriffen. Ich versuchte, mein ESP zusammenzunehmen, aber… und dann war Giles bei mir. Danach erinnere ich mich an gar nichts mehr.« »Wahrscheinlich ist es so am besten«, sagte Finlay. Er blickte zu Giles, der sich inzwischen ebenfalls wieder erhoben hatte . »Wie gut war Eure Arbeit, Todtsteltzer? Ist er gesund? Ist es möglich, daß er wieder ganz gesund ist?« »Das bezweifle ich«, antwortete Giles. »Ich kenne mich nicht aus in Medizin. Was auch immer vorher nicht in Ordnung war, ist es auch jetzt nicht. Ich habe ihm nur… Starthilfe gegeben. Seine Batterien ein wenig aufgefüllt. Nein, wahrscheinlich ist er genauso krank, wie er vor meinem… Eingriff war.« »Macht das nie wieder!« drohte Finlay. »Ihr seid derjenige mit den erstaunlichen Kräften. Ihr werdet uns in Zukunft verteidigen.« »Ihr seid stark genug, um Euch selbst zu verteidigen«, konterte Giles. »Ich vergesse niemals eine Drohung.« »Ich glaube, wir sollten uns alle wieder ein wenig beruhigen«, meldete sich Tobias nervös zu Wort. »Schließlich stehen wir auf der gleichen Seite. Das tun wir doch, oder nicht? Und der Esper ist auch wieder normal.« »Ich denke, ich werde einen Spaziergang auf dem Deck machen«, sagte Giles, ohne Finlays Blick auszuweichen. »Einer muß schließlich sicherstellen, daß keine Körperteile von bösen Spielsachen an Bord zurückgeblieben sind. Außerdem kann ich ein wenig frische Luft gebrauchen. Hier drin ist es stickig.« Er ging auf die Salontür zu, und alle traten ihm nervös aus dem Weg. Der Bär sah ihn nachdenklich an. »Ihr seid nicht länger menschlich«, sagte er. »Ich kann es spüren. Was seid Ihr, Giles Todtsteltzer?« »Ich will verdammt sein, wenn ich das wüßte«, entgegnete Giles und trat durch die Tür nach draußen . »Wie fühlt Ihr Euch, Julian?« erkundigte sich Finlay. Der Esper zuckte unbehaglich die Schultern. »Müde. Ausge-laugt. Und mein Hals brennt wie Feuer. Ist der Angriff vorüber? Sind die Spielsachen wieder weg?« »Es ist vorbei«, sagte Evangeline. »Warum legt Ihr Euch nicht eine Weile hin? Wir kümmern uns schon um die Aufräumarbeiten.« »Ja«, sagte Julian. »Ausruhen. Gute Idee.« Er verließ den Salon auf unsicheren Beinen. »Typisch«, knurrte Alles wütend. »Halloweenie wurde fast umgebracht bei dem Versuch, ihn zu schützen, und der Mensch sagt noch nicht einmal danke.« »Halt die Klappe«, sagte Halloweenie. »Er kann sich an nichts mehr erinnern. Wenn du dich nützlich machen willst, dann schaff mich hier raus und in die Werkstatt. Ich brauche eine Zehntausenderinspektion. Mindestens.« Alles nickte, hob den übel zugerichteten kleinen Skelettjungen hoch und trug ihn nach draußen. Poogie, Reineke Bär und der Seebock schlossen sich den beiden an, und bald waren die Menschen allein. Tobias nickte Flynn zu, und die Kamera schwebte auf Flynns Schulter und schaltete sich aus. »Ihr habt vielleicht Nerven, Feldglöck!« sagte Tobias. »Einen Todtsteltzer zu bedrohen! Zur Hölle, den Todtsteltzer! Das war der Mann, der den Dunkelzonen-Projektor aktiviert hat, oder habt Ihr das vergessen? Jedes lebende Ding auf tausend Planeten starb, und er hat nie auch nur Entschuldigung gesagt. Ich persönlich würde eher einem Grendel einen Zungenkuß geben.« »Er hätte Julian sterben lassen«, erwiderte Finlay. »Ich konnte das nicht zulassen. Ich habe Julian Skye nicht aus den Verhörzellen unter der Erde von Golgatha gerettet , um ihn sterben zu sehen, weil der Todtsteltzer eine Verwendung für ihn hatte. Außerdem hoffte ich insgeheim, daß der antike Bastard Julian heilen könnte und alles wieder ins Lot bringen, was nicht mit dem Jungen stimmt. Entweder er hat es geschafft, oder der ar-me Bursche stirbt noch immer Stück für Stück vor sich hin. Die Chancen stehen nicht schlecht, daß er so oder so hier auf Shannons Welt stirbt, weit weg von zu Hause, und ich kann verdammt noch mal überhaupt nichts tun, um ihn zu retten.« »Du bist eben nicht allmächtig«, bemerkte Evangeline. »Ich konnte ihn noch nicht einmal trösten«, sagte Finlay. »Jedenfalls nicht so, wie du es getan hast. Ich weiß nicht, wie man so was macht.« »Du hast Giles dazu gebracht, ihn zu retten«, sagte Evangeline. »Das ist etwas, was ich nicht kann. Wir zwei ergeben ein gutes Team, Finlay Feldglöck, wenn man es genau bedenkt.« Sie lächelten einander an und versanken in den Augen des anderen. Plötzlich war der Salon mit ihrer Liebe erfüllt. Tobias kam der Gedanke, daß vielleicht jetzt eine gute Gelegenheit sei, Antworten auf ein paar Fragen zu erhalten, die ihm schon lange auf der Zunge brannten, solange die beiden noch in derart guter Stimmung waren. Er gab Flynn einen verstohlenen Wink, die Kamera einzuschalten, und Flynn nickte zum Zeichen, daß er verstanden hatte. Die Kamera auf seiner Schulter bewegte sich nicht, doch das einzelne rote Auge erwachte wieder zum Leben. »Was ist das eigentlich für eine Geschichte mit diesem Giles Todtsteltzer?« erkundigte sich Tobias nebenbei. »In seiner Geschichte oder seinem Lebenslauf findet sich kein Hinweis auf irgendwelche Esperbegabungen. Ganz sicher hat niemand in seiner Blutlinie jemals eine Spur von ESP gezeigt, mit Ausnahme von Owen. Ich habe gesehen, wie er auf der Nebelwelt ganz erstaunliche Dinge vollbracht hat.« »Es war das Labyrinth«, sagte Finlay. »Das Labyrinth des Wahnsinns. Giles und Owen und ein paar andere begegneten ihm auf der verlorenen Welt Haden.« »Ihr meint, sie wurden durch einen Apparat der Hadenmänner verändert?« »Nein. Irgend etwas viel Älteres. Es verändert die Menschen, die hindurchgehen. Es macht mehr aus ihnen. Fragt mich nicht nach Einzelheiten; ich weiß nämlich nichts. Der Untergrund weiß Bescheid, aber sie sagen uns nicht mehr, als wir unbedingt wissen müssen. Und Leute wie Ihr oder ich müssen gar nichts wissen. Und jetzt schaltet Eure Kamera wieder aus und macht, daß Ihr wegkommt, bevor ich entschieden habe, in welche Eurer Körperöffnungen ich das Ding schieben soll. Quer, wenn Ihr versteht, was ich meine.« »Vollkommen«, sagte Tobias. »Laß uns gehen, Flynn.« »Ich bin schon längst weg«, sagte der Kameramann, und gemeinsam verließen sie den Salon zwar nicht gerade fluchtartig, aber doch beinahe. Draußen schlossen sie die Tür hinter sich und atmeten zuerst ein paarmal tief durch. »Ich glaube nicht, daß er die Sache mit der Kamera im Scherz gemeint hat«, sagte Flynn. »Meinst du, es war ein Witz?« »Höchstwahrscheinlich nicht«, antwortete Tobias. »Finlay Feldglöck hat einen weiten Weg hinter sich, wenn man bedenkt, daß er einmal der größte Wäscheständer des gesamten Imperiums gewesen ist. Trotzdem, wenn ich’s mir genau überlege, war der Zeitpunkt wohl doch nicht so gut geeignet, um ein paar Fragen zu stellen.« »Das konnte dich früher auch nie aufhalten«, sagte Flynn. »Stimmt«, gestand Tobias. »Komm, laß uns gehen und nachsehen, was die Spielsachen als nächstes im Schilde führen.« Nicht weit von den beiden entfernt lehnte Giles Todtsteltzer an der Steuerbordreling und starrte in die dunklen Limonadenfluten des Großen Flusses. Der Kapitän hatte die Missis Merry Truspott wieder unter Kontrolle gebracht, und das Schiff nahm beständig Fahrt auf. Giles versuchte, sich an das Gefühl des Teleportierens zu erinnern, doch es entzog sich ihm. Es war, als wäre die Erfahrung zu mächtig für seinen Verstand, um damit klarzukommen, es sei denn in schierer Not. Es war zuviel für einen menschlichen Verstand. Nur, daß Giles im Grunde genommen kein wirklicher Mensch mehr war, seit er zusammen mit den anderen das Labyrinth des Wahnsinns durchschritten hatte. Er war etwas… etwas anderes geworden, und seine neue Fähigkeit der Teleportation war erst der Anfang; dessen war er vollkommen sicher. Und obwohl er weit von den anderen entfernt war – räumlich gesehen –, war er im Unterbewußtsein noch immer mit ihnen verbunden, und er wußte, daß auch sie sich veränderten, auf eine andere, beängstigende Art und Weise. Er fragte sich, was aus ihm werden würde, was aus ihnen allen werden würde, und ob das Endprodukt noch irgend etwas mit einem Menschen gemeinsam haben würde. Auch fragte er sich, warum ihm der Gedanke nur halb so viel Angst machte, wie er eigentlich sollte. Plötzlich hörte er lautes, ärgerliches Stimmengewirr, und er ging in die entsprechende Richtung, um nachzusehen, was vor-gefallen war. Unten am Heck hatten Reineke Bär und der Seebock einen abgeschlagenen Spielzeugkopf gefunden. Er war in einer Ecke eingeklemmt gewesen, wo der PSI-Sturm ihn nicht hatte packen können, und jetzt verhörten die beiden ihn, indem sie ihn wie einen Fußball übers Deck traten und ihm Fragen zubrüllten. Tobias beruhigte die beiden, dann stellte er den Kopf vor die Wand des Salons und begann nun seinerseits Fragen zu stellen, während Flynn alles filmte. Der Lohn für seine Bemühungen bestand in einer Reihe nicht besonders einfalls-reicher Flüche, und so trat Giles herbei und übernahm das Verhör. Niemand hatte etwas dagegen einzuwenden; aber das hatte Giles auch nicht erwartet. »Warum habt ihr uns angegriffen?« verlangte er von dem Kopf zu wissen. Der Spielzeugkopf war von einem strahlenden Blau, und er besaß spitze Ohren und übergroße Augen. Wahrscheinlich sollte er ursprünglich einmal niedlich und elfenhaft wirken , doch inzwischen sah er eher aus wie ein Dämon. Der Kopf lachte bei Giles’ Frage und entblößte dabei eine Reihe spitzer Zähne. Das Geräusch war rauh und künstlich, und es besaß nicht den Hauch menschlicher Emotionen. Die Augen des Spielzeugs schienen nur aus dunklen Pupillen zu bestehen, und sie fixier-ten jetzt den Todtsteltzer. »Ihr seid der Feind. Der ewige Feind. Menschen und Men-schenfreunde. Glaubt nur ja nicht, ihr hättet hier irgend etwas gewonnen. Ihr entkommt uns nicht. Wir werden euch finden, und wir werden euch töten. Alle miteinander. Und wenn wir es nicht schaffen, dann eben die anderen.« »Die anderen?« fragte Giles und begegnete gelassen dem wilden Blick der dunklen unmenschlichen Augen. »Wir haben viele Freunde«, antwortete der Kopf. »Sie warten überall am Weg auf euch. Wir wissen, woher ihr kommt und wohin ihr wollt. Wir haben unsere Augen und Ohren überall. Ihr werdet den Roten Mann niemals erreichen. Wir erlauben das nicht.« »Wie lautet dein Name?« fragte Tobias. Der Kopf lachte ihm ins Gesicht. »Mein Name? Namen sind Menschensache. Unsere Identitäten sind austauschbar, genau wie unsere Körper. Wir haben keine Ahnung, wer wir sind, und das gefällt uns.« »Was weißt du über Harker?« fragte Giles geduldig. »Erzähl mir, was du über den Roten Mann weißt, und warum ihr so fest entschlossen seid, uns nicht zu ihm gehen zu lassen.« »Ich muß deine Fragen nicht beantworten, Mensch.« Der Kopf spuckte Giles ins Gesicht. Der Todtsteltzer zuckte nicht einmal zusammen. »Ich kann dich zum Reden zwingen«, sagte er. »Sieh mich an, Spielzeug.« Er beugte sich vor und starrte in die dunklen Augen des abgetrennten Kopfes. Seine Gegenwart war mit einemmal überwältigend, furchteinflößend und schrecklich, als wäre etwas Unerwartetes und unendlich Machtvolles hinter der Maske des Todtsteltzers hervorgekommen. Reineke Bär und der Seebock wichen zurück, und Tobias mußte sich mit aller Macht zusammenreißen, um nicht das gleiche zu tun. Flynn drohte, sekundenlang die Kontrolle über seine Kamera zu verlieren; doch er filmte weiter. Der Kopf gab ein hohes wimmerndes Stöhnen von sich: ein verängstigtes, erbarmungswürdiges Geräusch wie von einem Kind, das gefoltert wurde. Giles entspannte sich plötzlich wieder, und die überwältigende Präsenz war genauso plötzlich verschwunden, wie sie gekommen war. Der Kopf hatte die Augen fest geschlossen. »Also schön«, sagte er leise. »Wir haben Angst vor dem Roten Mann. Noch nie kam jemand von ihm zurück. Niemals. Selbst unsere fanatischsten Brüder und Schwestern nicht. Nach allem, was wir wissen, hebt er tief im Wald seine eigene Privatarmee aus. Es heißt, er würde dem Krieg ein Ende bereiten. Oder sogar der ganzen Welt. Es heißt auch, er sei verrückt, so verrückt, wie nur ein Mensch es sein kann, und er steckt die Spielsachen mit seinem Wahnsinn an. Ich kenne euch Menschen. Ihr würdet versuchen, mit ihm zu reden, und am Ende wärt ihr genauso wahnsinnig wie der Rote Mann. Genauso verrückt wie der Rote. Und wer weiß, wie mächtig er erst sein wird, wenn er andere Menschen um sich hat, die ihm helfen. Menschen, die genauso wahnsinnig sind wie er. Also liegen wir auf der Lauer, überall am Großen Fluß. Ihr werdet den Dunklen Wald niemals lebend erreichen!« »Wir wollen den Roten Mann mitnehmen«, sagte Giles. »Wir wollen ihn mit uns nehmen, weg von dieser Welt. Ist es nicht das, was ihr euch wünscht?« Der Kopf lachte nur. »Ihr lügt. Menschen lügen immer. Niemand weiß das besser als wir. Ihr sagt, ihr liebt uns, wenn ihr herkommt und mit uns spielt; doch am Ende geht ihr immer wieder weg und laßt uns zurück. Wir sind schließlich nur Spielsachen, die man benutzt und hinterher wegwirft. Ihr habt uns nie geliebt. Und dafür werdet ihr bezahlen. Alle zusammen.« »Ich glaube, wir haben genug gehört«, knurrte Giles. »Das hier ist für Julian.« Er nahm den Kopf hoch und drückte seine Daumen fest in die Augen des Spielzeugs. Die großen Augäpfel platzten, und die empfindlichen Sensoren darin wurden zerstört. Der Kopf heulte kläglich. Giles zog seine Daumen wieder zurück und schleuderte den kreischenden Kopf über die Reling in den dunklen Fluß, wo seine Kameraden ihn wiederfinden und bergen würden oder auch nicht. Giles sah zu den anderen, doch weder Menschen noch Spielzeuge hatten etwas zu sagen. Dann lehnte er sich gegen die Reling. »Nicht so aufschlußreich, wie ich eigentlich gehofft hatte«, sagte er leise. »Habe ich vielleicht irgend etwas übersehen?« »Vielleicht eine Sache«, meinte Tobias. »Warum nennen sie Eurer Meinung nach Harker den Roten Mann?« »Sie sagen, er sei verrückt«, erwiderte Giles. »Gefährlich verrückt. Vielleicht ist Rot ein Hinweis auf Blut?« »Und wir werden ihn treffen«, sagte der Seebock. »Wir haben immer so ein Glück.« »Halt die Klappe, Bock«, sagte Reineke Bär, doch es klang nicht unfreundlich. Sie setzten die Fahrt flußabwärts fort und passierten verlassene Schlachtfelder und tote Spielzeuge. Der Krieg war hiergewesen und weitergezogen. Das ununterbrochene Grollen entfernter Explosionen kam nach und nach immer näher. Die Missis Merry Truspott fuhr an Spielzeughäusern vorüber: Schlösser und Burgen, Blockhäuser und rosenumrankte kleine Landhäuser. Alle waren niedergebrannt und lagen in Trümmern. Linker Hand lag ein Gutshof, komplett mit Scheunen und Gattern für künstliche Tiere. Die Tiere waren längst verschwunden, und die Gebäude waren in Brand gesteckt worden. Nur die Knochen menschlicher Skelette waren in der schwarzen Asche noch zu erkennen. Man hatte sie auf dem brennenden Hof an Pfähle gebunden und ihrem Schicksal überlassen. Je näher die Missis Merry Truspott dem Dunklen Wald kam, desto unübersehbarer wurden die Zeichen des Krieges. Überall lagen die zerfetzten Körper toter Spielzeuge. Ihre leeren Augenhöhlen starrten in einen blauen Himmel hinauf, und niemand vermochte zu sagen, ob es gute oder böse Spielzeuge gewesen waren; es kümmerte auch niemanden. Das Schiff fuhr weiter, und der Tag wich dem Abend und schließlich der Nacht. Sie entdeckten ein offenes Feld, das vom Krieg anscheinend verschont geblieben war, und steuerten ans Ufer. Die Menschen hatten ein dringendes Bedürfnis nach frischer Luft und sehnten sich nach einer Gelegenheit, die Glieder zu strecken. Die Spielzeuge verstanden es nicht, aber sie erhoben auch keine Einwände dagegen. Obwohl niemand etwas gesagt hatte, war nicht zu übersehen, das die Nähe des Waldes ihnen Angst einjagte, und die Spielzeuge waren genauso froh über eine Pause wie die Menschen. Die Nacht war klar und kalt; also errichteten sie aus herum-liegenden Ästen ein Feuer und ließen sich im Kreis darum nieder. Es war eine ausgesprochen friedliche Szene wenn man vom nicht enden wollenden Donnergrollen des entfernten Krieges absah. Der schläfrige Mond mit seiner Zipfelmütze leuchtete am Himmel, und auch die fünfzackigen Sterne waren wieder zurückgekehrt. Sie mußten Julian vom Schiff tragen. Der Energieschub, den Giles ihm gegeben hatte, war längst aufgebraucht, und die Verletzungen machten dem jungen Esper mit zunehmender Kälte immer mehr zu schaffen. Trotzdem erweckte er einen zuver-sichtlichen Eindruck. Er saß so dicht am Feuer, wie er nur konnte, und röstete an einem Stöckchen Marshmallows. Links und rechts von Julian saßen Reineke Bär und der Seebock, und sie bemühten sich nach Kräften, den jungen Esper durch ihre Gegenwart aufzumuntern. Der Bock verbrannte wiederholt seine Marshmallows, weil er zu sehr mit Reden beschäftigt war, um auf das Feuer zu achten. Der Bär verzehrte sie trotzdem, um des lieben Friedens willen. Finlay saß den dreien gegenüber und hatte Evangeline an seiner Seite, wie immer. Tobias und Flynn hatten jeder drei Stöcke und stopften sich Marshmallows in den Mund, so schnell sie nur gar wurden. Gleichzeitig hielt Tobias Halloweenie auf Trab, der hin und her rannte und immer neue Marshmallows anschleppte. Der kleine Skelettjunge war nicht mehr ganz so flink wie früher, mit all den vielen Splinten und Klammern, die seine Knochen zusam-menhielten, doch er war nach wie vor glücklich, wenn er sich nützlich machen konnte. Giles hatte sich ein wenig abseits von den anderen niedergelassen. Er rauchte eine stinkende Zigarre und schwieg ansonsten. Die Marshmallows interessierten ihn offenbar nicht. Auch Poogie der freundliche Bursche saß für sich allein, als wäre er unsicher, ob er willkommen war oder nicht. Der Kapitän und das Adaptorspielzeug Alles waren an Bord der Missis Merry Truspott geblieben , »um die Dinge im Auge zu behalten« , wie sie es nannten. Und so saßen alle bis auf die beiden um das Feuer herum, rösteten Marshmallows oder rauchten Zigarre und redeten bis tief in die Nacht. Irgendwann kam das Thema Kindheit zur Sprache. Reineke Bär fing damit an. Finlay hatte von einigen der fremdartigeren Welten erzählt , die er auf seinen Reisen gesehen hatte , und der Bär wollte wissen , was der Feldglöck von Shannons Welt hielt , dem Planeten für die erwachsenen Kinder. Finlay runzelte die Stirn. »Schwer zu sagen , wie diese Welt vor dem Krieg war« , meinte er schließlich , »aber ich kann mir vorstellen, welche Faszination von ihr ausgegangen sein muß. Ein Ort, der frei war von den Sorgen und Nöten der Erwachsenen, eine Chance, wieder einmal Kind zu sein, oder besser; eine Chance, die Kindheit zurechtzurücken, so wie sie eigentlich hätte sein sollen. Nur wenige Menschen erleben eine wirklich glückliche Kindheit, und die meisten verdrängen die schlimmen Dinge. Ich war kein gutes Kind. Ich hatte kein Talent dazu. Ich wollte nur, daß meine Kindheit so schnell wie möglich vorbei war, damit ich mich in der viel interessanteren Welt der Erwachsenen bewegen konnte. Im Clan der Feldglöcks werden die Kinder schon früh dazu ausgebildet, nützliche Mitglieder ihrer Familien zu sein, wie in allen anderen Clans auch. Und sie werden zu Kämpfern herangezogen, weil die Familien zahlreiche Feinde besitzen. Allein durch meine Geburt war ich bereits zu einem Teil der Fehden und Blutrachen geworden, die viele Jahrhundert zurückreichen. Ich paßte mich sehr früh daran an – zu früh für meine konser-vativen Eltern, die befürchteten, es könnte einen Skandal auslösen, wenn ihr Erbe und erstgeborener Sohn jeden wichtigen Aristokraten in nicht erlaubten Duellen umbrachte . Ich habe nie viel von meinen Eltern gesehen. Vater war ständig irgendwo unterwegs, war mit dem Führen des Clans beschäftigt oder kümmerte sich um die Familiengeschäfte. Und meine liebe Mutter zog es vor, sich in den gesellschaftlichen Trubel zu stürzen, anstatt sich mit Kindererziehung abzugeben. Typische Clanseltern. Ich hatte eine endlose Reihe von Kindermädchen und Tutoren, und alle waren fest entschlossen, mich zu einem vernünftigen Menschen zu erziehen und aus Schwierigkeiten herauszuhalten. Ich hatte nie viele Freunde. Ich meine echte Freunde. Bekanntschaften außerhalb der Familie waren unerwünscht, und innerhalb der Familie waren immer alle viel zu sehr damit beschäftigt, um Positionen und Einfluß zu scha-chern. Aber ich hatte Spielsachen. Soviel Spielsachen, wie ich nur wollte . Ich erinnere mich an die Geschichten von Reineke Bär und dem Seebock und ihre Abenteuer in den Goldenen Ländern. Ich habe immer davon geträumt, mit den beiden zu reisen und die Gegenden hinter dem Sonnenuntergang zu erforschen. Und jetzt bin ich hier, und wir reisen tatsächlich zusammen. Ist das nicht unheimlich?« Er grinste die Spielzeuge über das Feuer hinweg an. »Ihr seid ganz genau so, wie ich euch in Erinnerung habe. Es ist, als würde man alte Freunde treffen, die man viele Jahre lang nicht gesehen hat. Vielleicht die einzigen wirklichen Freunde, die ich als Kind hatte. Kein Wunder, daß so viele Leute unbedingt hierher wollten. Sie sehnten sich nach der Kindheit, die sie nie hatten. Oder wenn, dann nur in ihren Träumen.« »Ich beneide dich um diese Träume«, sagte Evangeline. »Ich hatte überhaupt keine Kindheit. Ich kam erwachsen zur Welt, denn ich bin ein Klon. Ich wurde aus den Zellkernen der ursprünglichen Evangeline erzeugt. Vater brauchte mich, um die Tochter zu ersetzen, die er umgebracht hatte. Also wurde ich heimlich erzeugt. Man unterrichtete mich über eine Kindheit, die ich nie hatte, und sandte mich in die Welt hinaus, um als Erwachsener in ihr zu bestehen. Damals war ich erst sechs Monate alt. Das meiste von dem, was ich hier sehe, ist mir… völlig fremd. Ich hatte nie Spielsachen. Ich hatte nie Kuschel-tiere. Vater wollte nicht, daß ich irgend etwas in meinem Leben hatte außer ihm. Ich durfte niemals spielen. Ich war niemals frei von Geheimnissen und Verantwortung. Ich sehe hier Spielzeuge vor mir, und ich weiß nicht, was ich mit ihnen anfangen oder wie ich mit ihnen reden soll. Irgend etwas in mir will sie festhalten, will von ihnen gehalten werden, will einfach nur in der Sonne herumspringen und lachen, als wäre das schon immer mein sehnlichster Wunsch gewesen. Als hätte ich es nur nie gewußt…« Sie unterbrach sich abrupt, als ungeweinte Tränen ihre Stimme erstickten. Finlay legte den Arm um ihre Schultern. »Wir sind für dich da«, sagte Reineke Bär. »Wir werden immer für dich da sein.« »Zur Hölle!« fuhr Tobias auf. »Hat denn niemand hier eine normale Kindheit hinter sich? Wir kommen doch unmöglich alle aus kaputten Familien?« »Ich hatte eine wunderbare Kindheit«, sagte Julian völlig überraschend. Er unterbrach sich und warf einen mißtrauischen Blick zu Flynn. »Diese Kamera ist abgeschaltet, oder?« »Vertraut mir«, antwortete Flynn. »Wenn einer das Bedürfnis nach gelegentlicher Privatsphäre versteht, dann bin ich das. Ihr könnt reden.« Julian schniefte zweifelnd, dann fuhr er fort. Hin und wieder zuckte sein Blick zu der Kamera, um sicherzustellen, daß ihr rotes Auge immer noch schlief. Seine Stimme wurde klarer und verträumter, als er sich den Erinnerungen an glücklichere Zeiten hingab. »Mein älterer Bruder Auric und ich standen uns immer sehr nah, was in den meisten Familien ungewöhnlich ist. Normalerweise betrachten sich Brüder nur als Konkurrenten um das Erbe und die Kontrolle des Clans. Es kann nur einen Erben geben, und alle anderen gehen leer aus. Aber Auric und ich verstanden uns wunderbar, von Anfang an. Er hat mich großgezogen, mehr als jedes Kindermädchen und jeder Tutor. Genaugenommen hieß es sogar die meiste Zeit: Wir gegen den Rest der Welt. Wir hatten eine wunderbare Kindheit. Wir unternahmen alles gemeinsam. Wir teilten unsere Spielsachen. Ich glaube, wir hatten nie einen Streit, der länger als ein paar Minuten dauerte. Wir wurden älter und wuchsen heran, und unsere Eltern versuchten, uns zu trennen. Auric wurde darauf vorbereitet, die Familie nach dem Tod unseres Vaters zu führen. Ich sollte zum Militär, abgeschoben und vergessen, bis das Undenkbare geschähe und Auric stürbe. Dann hätte man mich zurückgerufen, um den Platz meines Bruders einzunehmen. Doch wir weigerten uns. Wir wollten uns nicht trennen lassen. Wir waren noch immer die besten Freunde, Brüder nicht nur nach dem Blut, sondern aus freiem Willen und aus Liebe. Selbst dann noch, als ich herausfand, daß ich ein Esper bin. Es war ein tiefer Schock. Die Familien hüten ihre genetische Linie wie einen Schatz; aber irgendwann im Laufe der Zeit muß irgend jemand einen Fehltritt begangen haben, und die Espergene wurden in unsere Blutlinie eingeschmuggelt. Und in mir kamen sie zum Vorschein. Ich wußte, daß ich nicht mit meinen Eltern darüber reden durfte. Sie hätten mich eher in einem sorgfältig arrangierten Unfall umgebracht, als die Schande auf sich zu nehmen, ein Esperkind in die Welt gesetzt zu haben. Esper sind Untermenschen. Besitz. Immer. Ohne Ausnahme. Aber ich wußte, daß ich mit Auric darüber reden konnte. Er deckte mich. Er hielt mich am Leben, wenn ich mich so elend fühlte, daß ich mich am liebsten selbst getötet hätte. Er hat nie etwas anderes in mir gesehen als den Bruder. Als deutlich wurde, daß ich eine Ausbildung benötigte, um zu lernen, wie ich mein ESP einsetzen und verbergen konnte, da suchte er die richtigen Kontakte und zog die Fäden, die mich schließlich zur Untergrundbewegung der Esper und Klone brachten. Wir hatten nur ein einziges Mal ernsthaften Streit. Das war, als er sich in SB Chojiro verliebte. Ich wußte von Anfang an, daß mit dieser Frau etwas nicht in Ordnung war, aber ich konnte es nicht in Worte fassen. Ich glaubte, es sei nur Eifersucht, weil Auric so nahe bei ihr war; also verdrängte ich es und versuchte statt dessen, mich darüber zu freuen, daß sie ihn so glücklich machte. Aber wir waren nur ein kleines, unbedeutendes Haus, und sie gehörte zum Clan Chojiro. Auric ging in die Arena, um ihre Familie zu beeindrucken und seine Liebe zu SB Chojiro zu beweisen. Er stellte sich dem Maskierten Gladiator, und dieser verdammte Bastard brachte ihn um. Er hätte ihn nicht töten müssen. Es hätte gereicht, Auric eine ehrenhafte Verwundung beizubringen und ihn davonkommen zu lassen. Statt dessen stieß er sein Schwert durch Aurics Auge, nur um sein Geschick zu demonstrieren. Und das war das Ende meiner Kindheit.« Evangeline drückte Finlays Hand. Julian wußte nicht und durfte niemals erfahren, daß sein Freund und Vorbild Finlay Feldglöck der Maskierte Gladiator gewesen war. »Was haltet Ihr von den Spielzeugen hier?« fragte Evangeline, nur um das Thema zu wechseln. »Ich kann verstehen, daß dieser Ort anziehend auf Menschen wirkt«, antwortete Julian. »Aber es ist nichts für mich. Ich habe meine Kindheit hinter mir gelassen, als Auric starb. Ich habe meinen Eltern den Rücken zugekehrt und mein Leben der Rebellion gewidmet. Ich habe keine Zeit mehr für Ablenkungen. Ich gab einen guten Rebellen ab. Keine Mission war zu gefährlich oder zu unmöglich für mich. Und am Ende verliebte ich mich ebenfalls in SB Chojiro, und mein Leben endete zum zweiten Mal. Ich war so glücklich als Kind. Als hätte ich tief in meinem Innern gewußt, daß es die einzige glückliche Zeit sein würde, die ich jemals erleben werde.« »Das ist sehr traurig«, bemerkte Giles unerwartet. »Und un-nötig obendrein. Nichts ist jemals wirklich verloren. Die Erinnerungen an gute Freunde und Zeiten sind stets bei uns, nie weiter als einen Gedanken entfernt. Auf gewisse Weise haben sie niemals aufgehört zu existieren. Jeder Augenblick, den Ihr jemals geschätzt habt, jeder Freund, den Ihr je geliebt habt, alles ist noch immer da und nur durch die Zeit von uns getrennt. Die Vergangenheit geschieht noch immer, und sie wird niemals enden. Nur wir sind es, die weitergezogen sind. Ich werde Euch nichts von meiner Kindheit erzählen. Ihr könntet es nicht verstehen . Vor neunhundert Jahren war vieles anders als heute . Aber ich hatte als Junge zwei wunderbare Hunde, Jagdhunde. Perfekt auf der Spur. Ich war niemals glücklicher als damals, wenn ich mit ihnen durch die Wälder jagte und eine Spur verfolgte. Sie starben beide, als ich zehn war. Geschwülste. Wir konnten nichts tun. Also schläferte ich sie ein, statt sie leiden zu lassen. Ich vermisse sie noch heute. Aber ich weiß, daß ich nur die Augen schließen muß, um sie wieder bei mir zu haben, und ich weiß, daß in der Vergangenheit noch immer ein Junge und seine beiden Hunde in wilder Jagd durch die Wälder toben und glücklich sind. Ich brauche keine Welt wie diese, keine falsche Nostalgie und kein Versteck vor der Realität. Das hier war eine Welt für die Schwachen. Und heute ist es ein Schlachtfeld für Shubs Kreaturen. Das hier sind keine Spielsachen und keine liebgewonnenen Kameraden aus der Kindheit; das hier sind Furien in der Ausbildung. Diese ganze Welt sollte verbrannt und vergessen werden, ein elendes Experiment, das gründlich schiefgelaufen ist.« Lange Zeit sagte niemand etwas. Dann meinte Tobias: »Nun, danke für Ihre Meinung, Lord Todtsteltzer. Ich weiß, daß wir alle Trost aus Euren Worten ziehen werden, in den Tagen, die vor uns liegen. Schätzungsweise bin ich jetzt an der Reihe. Und ich persönlich denke, Ihr alle seid eine Bande von sentimenta-len Weichlingen. Ich vermisse absolut gar nichts aus meiner Kindheit.« »Also schön«, sagte Evangeline. »Dann erzählt uns doch von Eurer ohne Zweifel fürchterlichen Kindheit. Welche schrecklichen Verwicklungen haben Euch zu der widerlichen Person werden lassen, die Ihr heute seid?« »Oh, ich wurde schon als Flegel geboren«, antwortete Tobias unbekümmert. »Ich wurde im Lauf der Jahre nur vollkommener, das ist alles. Mein Vater starb, als ich noch ganz jung war. Mama rannte davon, weil sie sich nicht vor Onkel Gregor beu-gen wollte. Er versuchte schon damals, die totale Kontrolle über unseren Clan auszuüben. Ich machte einer langen Reihe von Kindermädchen, Lehrern und bewaffneten Leibwächtern das Leben zur Hölle und zettelte in jeder Schule Aufstände an, in die man mich schickte. Ich hatte niemals Freunde , und ich vermisse sie auch nicht. Reineke Bär und seine Abenteuer waren mir erst recht egal. Seifenopern, wenn Ihr mich fragt. Ich war mehr an der wirklichen Welt interessiert und wie ich meinen größtmöglichen Vorteil aus der Gesellschaft ziehen konnte. Was natürlicherweise zu einem Interesse an Politik führte. Ich hatte schon immer einen Hang zu schmutzigen Tricks und Intrigen, und das kam mir im Laufe meiner Karriere als PR-Mann meines Onkels und jetzt als Journalist sehr gelegen. Ich bin widerlich, dringe in die Privatsphären anderer Menschen ein und spiele jedesmal mit den Gedanken von Milliarden von Menschen, wenn ich auf Sendung gehe. Das Leben ist wunderbar. Oder wenigstens war es das, bis ich von einem Kriegsgebiet ins nächste geschickt wurde. Als ich sagte, ich wolle über aufregende Ereignisse berichten, meine ich nicht damit, daß ich zu einem Teil davon werden wollte.« »Vermißt Ihr Eure wirklichen Eltern niemals?« erkundigte sich Evangeline. »Ich meine die, die Ihr nie kennengelernt habt.« »Nein«, antwortete Tobias tonlos. »Ich brauchte sie damals nicht, und das hat sich bis heute nicht geändert. Ich lebe mein eigenes Leben. Ich habe niemals irgend jemanden gebraucht. Mit Ausnahme von Flynn natürlich. Irgend jemand muß schließlich die Kamera in die richtige Richtung halten. Erzähl uns doch von deiner Kindheit, Flynn. Das ist bestimmt eine hörenswerte Geschichte.« »Tut mir leid, wenn ich dich enttäuschen muß«, sagte Flynn. »Aber ich hatte eine vollkommen normale und glückliche Kindheit. Keine großen Traumata, keine schweren Verluste. Und mir gefällt, was sie hier zu verwirklichen versucht haben. Ein Ort, an dem jeder glücklich sein konnte. Es war sicher eine wundervolle Welt. Bevor Shub kam, meine ich.« »Was haltet ihr Spielsachen eigentlich von alledem?« fragte Finlay. »Ich vermute, keiner von euch hatte eine Kindheit, es sei denn, ihr erinnert euch an euer Leben vor Shub. Erinnert ihr euch an die Zeit davor?« Die Spielsachen sahen sich an, und am Ende war es Halloweenie, der redete. Er saß Julian zu Füßen und hatte sich zu einer knochigen Kugel zusammengerollt. Seine leeren Augenhöhlen starrten in die flackernden Flammen des Feuers. »Wir alle erinnern uns an die Zeit, als wir noch Spielsachen waren und sonst nichts . Wir wurden so programmiert, daß wir nichts vergessen konnten, und so sind die Erinnerungen noch heute da. Aber unsere Erinnerungen haben erst von dem Zeitpunkt an eine Bedeutung, an dem Shub kam und uns mit einem vergifte-ten Geschenk aus unserem Schlaf riß. Die Furien gaben uns Intelligenz und ein Bewußtsein, eingehüllt in ihre eigene Programmierung. Sie schenkten uns einen freien Willen und versuchten dann, uns vorzuschreiben, was wir damit zu tun hätten. Keiner von uns kannte eine Kindheit. Wir erwachten und waren bei vollem Bewußtsein. Ich bin ein Junge; aber ich weiß nicht, was das wirklich heißt. Wir verstehen kaum, was es heißt zu leben. Lebendig zu sein. Wir haben nichts, auf dem wir unser Leben aufbauen könnten, bis auf die Charaktere, als die wir ursprünglichen geschaffen worden sind. Wir werden niemals wissen, ob wir zu der Person geworden sind, die wir sind, weil wir es so gewollt haben, oder weil wir noch immer unserer alten Programmierung folgen. Das Leben ist für uns zum größten Teil noch ein Geheimnis. Alles ist so neu, so… furchteinflößend. Wir müssen alles für uns ganz allein entscheiden. Und Emotionen… sie sind so schwierig. Nehmt zum Beispiel Liebe. Wir glauben zu wissen, was es bedeutet, aber wir haben keine Vergleichsmöglichkeiten. Haß ist da schon leichter zu verstehen. Und Furcht. Vielleicht sind deswegen so viele Spielsachen böse geworden anstatt gut. Böse zu sein fällt leichter.« »Aber einige von uns mögen nicht, was aus uns geworden ist«, sagte Poogie der freundliche Bursche. »Bevor Shub kam, waren wir keine denkenden Wesen. Wir wußten nicht, was Sünde ist. Shub hat unsere Unschuld ausgenutzt. Wir wurden in Blut und Leid und Mord hineingeboren, und einige von uns werden damit niemals fertig. Rachedurst erfüllte uns bis zum Überdruß, und die Menschen waren so leichte Beute. Wir wurden als Verdammte geboren. Aber einige von uns haben gelernt, nach Erlösung zu suchen.« Der Seebock rülpste laut und pickte Marshmallowstücke aus den Lücken zwischen seinen großen, quadratischen Zähnen. »Und einige von uns haben gelernt, unerträglich großkotzig zu sein. Wir sind das, was wir schon immer waren, nur mehr davon. Mir gefällt mein Leben als Seebock. Würde ich nicht existieren, müßtet Ihr mich erfinden, damit Ihr die Nase über mich rümpfen könntet. Ich bin ein Ärgernis, also bin ich. Und wenn das jemandem nicht gefällt, scheiß drauf. Richtig, Bär?« »Nicht einmal annähernd«, widersprach Reineke Bär. »Ihr müßt meinen Freund hier entschuldigen. Wir beide waren Stars, als wir noch Spielzeuge waren. Alle haben uns geliebt, und ich glaube nicht, daß er jemals darüber hinwegkommen wird. Ich persönlich finde Menschen faszinierend. Ihr habt so ein riesiges Potential. Und wir haben so viel nachzuholen. Ihr seid unsere Schöpfer, nicht Shub. Wenn es uns nur gelingen könnte, das den anderen Spielsachen klarzumachen, dann wäre der Krieg morgen zu Ende. Ich fände es schrecklich, wenn uns unser geschenktes Leben nichts weiter lehrt, als zu morden und zu zerstören. Aber jetzt möchte ich vorschlagen, daß wir uns ausruhen, solange noch Zeit dazu ist. Wenn nichts schiefgeht, erreichen wir morgen abend den Großen Wald. Und dann werden wir Vincent Harker suchen , den Roten Mann. Wer weiß, was dann geschehen wird.« Sie alle saßen schweigend am Feuer, Mensch und Spielzeug, und hingen ihren eigenen Gedanken nach. Es war eine Nacht der Geständnisse; aber nicht jeder hatte alles gesagt. Alle hatten ihre Geheimnisse, die einen große, die anderen kleine. Evangeline lehnte den Kopf gegen Finlays Schulter und kämpfte gegen den Drang an, ihm zu gestehen, warum sie in Wirklichkeit mit ihm hier war. Es war noch nicht lange her, daß sie zu den Anführern der Untergrundbewegung gegangen war und sie gebeten hatte, zur Botschafterin bei den neuen Rebellen ernannt zu werden, obwohl das bedeutet hätte, Finlay zu verlassen . Sie hatte ein überwältigendes Bedürfnis verspürt, von allem wegzukommen, wieder ihr eigener Herr zu sein und nicht mehr den Erwartungen und dem Druck dessen ausgelie-fert zu sein, was alle möglichen anderen Menschen von ihr erwarteten. Einschließlich Finlay. Aber wie so vieles in ihrem kurzen Leben war auch das schiefgegangen. Penny DeCarlo war ihre erste Freundin gewesen. Der Shreck hatte sie eingestellt, um die neue Evangeline auf öffentliche Auftritte vorzubereiten, und Penny hatte sie gelehrt, daß sie ein menschliches Wesen war, selbst als Klon. Sie hatte Evangeline Stolz und Selbstachtung gelehrt und sie sogar in die Untergrundbewegung der Esper und Klone eingeführt. Penny DeCarlo war insgeheim selbst ein Esper gewesen. Man hatte sie gefangen und nach Silo Neun verschleppt – in die Hölle des Wurmwächters. Als der Untergrund Silo Neun gestürmt hatte, hatte Evangeline nichts unversucht gelassen, um Penny zu retten; doch in dem Chaos und Durcheinander, das auf Drams Verrat gefolgt war, hatte sie Penny nicht gefunden. Und dann hatte Gregor Shreck sie gefunden. Der Shreck be-saß Geld und Einfluß, und er bemühte sich verzweifelt, seine geklonte Tochter wieder unter seine Kontrolle zu bringen. Also hatte er Penny in seine Obhut genommen und auf eine Gelegenheit gewartet, Evangeline davon wissen zu lassen. Seine Bedingungen waren einfach gewesen – entweder, Evangeline kehrte zu ihm zurück, oder Penny würde leiden und sterben. Evangeline hatte dicht vor der Verzweiflung gestanden. Sie konnte unmöglich zu ihrem Vater mit seiner perversen Vorstellung von Liebe zurückkehren. Lieber wollte sie sterben. Andererseits konnte sie auch die Frau nicht einfach aufgeben, die ihr beigebracht hatte, was Menschsein bedeutete. Evangeline durfte sich nicht an den Rat der Untergrundbewegung wenden. Man hätte sie als erpreßbar und kompromittiert eingestuft und als mögliches Sicherheitsrisiko. Und Finlay durfte erst recht nichts wissen. Er durfte niemals erfahren, daß der Shreck sich zur Angewohnheit gemacht hatte, bei seiner Tochter im Bett zu liegen. Finlay würde außer sich geraten vor Wut und alles aufs Spiel setzen, um ganz allein auf den Shreck und seine Sicherheitskräfte loszugehen. Ein Kampf, den nicht einmal der Maskierte Gladiator gewinnen konnte. Also hatte Evangeline geschwiegen und mit keinem Menschen über all das gesprochen, und eine Zeitlang hatte sie geglaubt, den Verstand zu verlieren, weil sie nicht hatte entscheiden können, was zu tun war. Am Ende hatte sie beschlossen, nichts zu tun. Sie war vor ihrer Verantwortung davongerannt und hatte sich der Expedition zu Shannons Welt angeschlossen. Auf diese Weise war sie allem aus dem Weg gegangen und konnte in Ruhe nachdenken. Gregor würde nicht wagen, Penny zu quälen, während Evangeline fort war. Und bis diese Sache hier vorüber war, hatte Evangeline vielleicht eine Lösung gefunden. Hoffentlich. Und wenn nicht, mußte sie es Finlay sagen und darauf hoffen, daß er durch irgendein Wunder imstande wäre, sie ein weiteres Mal aus der Hölle zu befreien. Sie sah ihn an, wie er still neben ihr saß, stark und sicher und beruhigend, und mit einemmal durchströmte sie ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit. Sie flüsterte seinen Namen, und als er den Kopf drehte und ihren Blick erwiderte, küßte sie ihn. Die Puppen sahen fasziniert zu. Poogie und Halloweenie standen sogar auf, um nichts zu verpassen. »Was machen die beiden da nur?« fragte Poogie mit leiser Stimme. »Ich weiß es nicht«, erwiderte Halloweenie. »Meinst du, daß es weh tut?« »Keine Ahnung; aber sieh mal, was für lustige Gesichter sie machen.« »Ich glaube, es ist Zeit für euch, ins Bett zu gehen«, sagte Tobias. Die Menschen grinsten alle, als Finlay und Evangeline sich endlich voneinander lösten. Eine Weile saßen sie noch in freundlichem Schweigen da und beobachteten, wie die Flammen des Lagerfeuers allmählich erstarben, während jeder die Energie zusammenraffte, endlich aufzustehen und ins Bett zu gehen. Und dann überraschte Giles die anderen, indem er erneut das Wort ergriff. »Das Imperium war ein wundervoller Ort zum Leben, als ich noch ein Kind war. Man spürte, daß man ungestört aufwachsen und alles tun und erreichen konnte, was man wollte. Die Möglichkeiten schienen unbegrenzt. Man konnte seine Spur auf tausendfache Weise hinterlassen und auf Tausenden von Welten zu Berühmtheit gelangen. Ich wurde der erste Oberste Krieger des alten Imperiums, und ich wurde gefeiert und verehrt. Es war eine Zeit der Wunder und der Magie… und ich war mitverantwortlich, daß alles endete. Ich war es, der den Dunkelzonen-Projektor aktivierte. Heute blicke ich auf das, was aus dem Imperium geworden ist, und ich erkenne es kaum wieder. Ich erkenne mich selbst kaum wieder. Ich bin nicht mehr der Mann, der ich damals werden wollte .« »Ich denke, das trifft mehr oder weniger auf jeden von uns zu«, sagte Finlay. »Ich betrachte mein Leben und frage mich ununterbrochen, wie zur Hölle ich von dort nach hier gekommen bin. Wir alle haben Träume, solange wir Kinder sind, und die meisten werden aus uns herausgeprügelt, während wir aufwachsen und älter werden.« »Und das ist vielleicht die traurigste von allen Veränderungen«, sagte Giles . »Heutzutage sind nicht einmal mehr Träume erlaubt. Das ist ein fremdes Imperium , in das ich zurückgekehrt bin. Klone, Esper , Hadenmänner, Wampyre. Spielsachen , die denken und lieben. Man weiß kaum noch , was wirklich menschlich ist und was nicht. Und wie leicht ist es, unter soviel fremden Lebensformen für immer den Rest unserer Menschlichkeit zu verlieren.« »Wir haben noch längst nicht alles verloren«, widersprach Julian. »Höchstens unsere Beschränkungen. Ihr besitzt selbst fremdartige Fähigkeiten, Lord Todtsteltzer. Macht Euch das vielleicht weniger menschlich?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Giles. »Ich weiß es wirklich nicht.« Früh am nächsten Morgen fuhren sie weiter. Die Geräusche des Krieges waren noch lauter geworden – und bedrohlicher . Das grinsende Gesicht der Sonne schien sie offen zu verspotten. Menschen und Spielzeuge gleichermaßen hielten mißtrauisch die Augen offen. Die Bäume an den Ufern standen jetzt dichter; der Wald wurde dunkler. Alles mögliche konnte sich darin verbergen. Jeder hatte das Gefühl, unablässig von unsichtbaren Augen beobachtet zu werden. Abgesehen vom Donnergrollen der Kämpfe war das beständige leise Tuckern der Missis Merry Truspott das einzige Geräusch weit und breit. Das Schiff hatte noch immer kein Wort gesprochen; doch im Laufe der Nacht waren rechts und links vom Bug zwei riesige, wachsame Augen erschienen. Julian blieb in seiner Kabine. Seine Schmerzen hatten sich während der Nacht verschlimmert, und der Autodoc mit seinen begrenzten Fähigkeiten konnte ihm nicht mehr helfen. Tobias setzte die Sicherheitsschalrungen der flachen Scheibe außer Kraft, um größere Dosen an schmerzstillenden Mitteln zu er-möglichen, doch es half nicht viel. Julian endete zusammengerollt auf dem Boden in einer Ecke seiner Kabine, weil das Schwanken der Hängematte ihm Schmerzen bereitete. Manchmal, wenn der Schmerz unerträglich wurde und Julian die Tränen in die Augen stiegen, rief er nach Finlay, und der Feldglöck kam und setzte sich eine Weile zu dem jungen Esper. Hinterher verließ er die Kabine immer mit Tränen der Wut und Verzweiflung in den Augen und mit Fäusten, an denen die Knöchel weiß hervortraten. Er verspürte eine rasende Wut, weil er unfähig war, Julian zu helfen. Er hatte den jungen Esper vor den Folterern des Imperiums gerettet; doch vor dem Schmerz konnte er ihn nicht bewahren. Er hatte versucht, den Todtsteltzer zum Kampf heraus-zufordern wegen dem, was er Julian angetan hatte; aber der alte Mann ließ sich nicht provozieren. Er konnte auch die Energieübertragung nicht mehr wiederholen; die Anstrengung würde den geschwächten Julian wahrscheinlich augenblicklich töten. Der Todtsteltzer hatte alles getan, was er konnte, und damit war es das, soweit es ihn betraf. Evangeline ging ein paar Minuten zu Julian, doch er wollte sie nicht sehen. Poogie war der nächste, und er wiegte den kranken Menschen in seinen weichen Armen. Manchmal half es ein wenig. Die Stimmung auf Deck wurde zunehmend angespannt. Alle verspürten Wut und Zorn, wenn auch aus den verschiedensten Gründen. Julian lenkte sie von ihrer Aufgabe ab, und das zu einer Zeit, da sie sich voll auf die Erfüllung der Mission konzentrieren mußten . Statt der Unterstützung, die er versprochen hatte, wurde der junge Esper immer mehr zu einer Belastung. Niemand wollte es laut aussprechen. Die Unterhaltungen wurden kürzer und scharfzüngig. Reineke Bär bemühte sich, zuversichtlich und fröhlich zu sein, bis selbst der Seebock ihm sagte, daß er die Klappe halten sollte. Sie alle kamen zu denselben, unausgesprochenen Schlüssen: Der junge Mann, der sie bereits zweimal gerettet hatte, würde wahrscheinlich sterben, und nichts und niemand konnte etwas daran ändern. Sie konnten höchstens hoffen, daß er schnell genug starb um seinet- und ihretwillen. Und so lehnten sie an der Reling, starrten auf den Großen Fluß und seine dunklen Limonadenfluten hinaus und auf die vorüberziehenden Bäume und bemühten sich im übrigen, nicht auf die Geräusche zu hören, die aus der Kabine des Espers drangen. Die Spielzeuge litten am meisten darunter. Schon wieder starb ein Mensch wegen ihnen. Selbst der Adaptor Alles wurde stiller und weniger streitlustig. Reineke Bär , der Seebock und der kleine Skelettjunge Halloweenie saßen abwechselnd vor Julians Tür und hielten Wache, damit immer jemand da war, falls er rief. Es schien, als wollten sie dem Tod den Zugang zu Julian verweigern. Am späten Morgen passierten sie eine weitere Flußbiegung und sahen, wie der Wald auf einem Ufer plötzlich zurückwich und Platz für eine moderne Stadt machte oder wenigstens der Nachahmung einer Stadt. Türme und Bauwerke ragten hoch in den Himmel; doch bei näherem Hinsehen entpuppte sich alles als zweidimensionale hölzerne Kulisse. Bunt bemalt in hellen Farben und unglaublich detailliert, aber Kulissen. Aus der Ferne sah alles ziemlich echt aus. Bis man näher herankam. Und aus der Nähe betrachtet war auch zu erkennen, daß die falsche Stadt ein einziger großer Trümmerhaufen war. Gezackte Löcher zierten die meisten Wände, als wäre etwas Massives durch sie hindurchgedrungen. Überall gab es Risse und tiefe Löcher, und nicht wenige Spuren deuteten auf Feuer hin, die hier und da gewütet hatten. Die falsche Stadt erstreckte sich über vielleicht fünfzig Blocks, die alle hell in der Sonne leuchteten. Nirgendwo war eine Spur von Leben zu sehen. Die Missis Merry Truspott verlangsamte ihre Fahrt, und alles drängte sich an der Reling, um nichts zu versäumen. »Was ist das?« fragte Finlay. »Wer wohnt hier?« »Niemand«, antwortete Reineke Bär. »Es ist ein Spielfeld, weiter nichts.« »Sieht aus, als wären die Spielregeln ziemlich rauh«, sagte der Todtsteltzer. »Oh, das sind sie«, stimmte der Seebock zu. »Diese verdammten Bastarde hier sind Superhelden. Das hier ist ihr Spielplatz. Superhelden und Superschurken, die ihre ewigen Schlachten austragen. Die Umgebung leidet ziemlich stark darunter, deswegen hat man sie so konstruiert, daß alles leicht zu reparieren oder zu ersetzen ist, damit der nächste Kampf rechtzeitig stattfinden kann. Hier gab es früher immer eine große Schau für die Besucher; jede Stunde, pünktlich wie ein Uhr-werk, fanden Demonstrationen von Kraft und Schnelligkeit und Flugkunst statt. Seht, wie die Helden die Schurken in der ganzen Stadt schlagen; seht, wie die Gebäude einstürzen und die Wände fallen. Es war sehr beliebt, bis zu dem Tag, an dem die Superhelden intelligent wurden und ein Bewußtsein hatten. Und als sie erkannten, daß sie ihr Leben lang zur Unterhaltung der Menschen durch brennende Reifen gesprungen waren. Die Superhelden waren die menschenähnlichsten von allen Spielzeugen auf dieser Welt, und wahrscheinlich traf es sie deswegen am härtesten. Noch Wochen später fischten wir flußab-wärts Leichenteile aus dem Wasser.« »Moment mal«, sagte Finlay. »Hat denn keins der Superhel-denspielzeuge versucht, die Menschen gegen die Superschurken zu verteidigen? Ich meine, sie waren immerhin Helden, genau wie du und der Bär.« »Sie waren die Supermenschen«, entgegnete der Seebock und bleckte die Zähne. »Und sie gaben einen verdammten Dreck auf gewöhnliche Menschen ohne Superkräfte. Nachdem das Gemetzel zu Ende war, kehrten sie zu dem einzigen zu-rück, das sie wirklich interessierte. Sie kämpfen noch immer ihre endlosen blutigen Kämpfe, um herauszufinden, wer stärker und schneller ist oder der bessere Flieger. Sie haben sich niemals am Krieg beteiligt. Ich glaube, sie halten ihn für unter ihrer Würde. Und ich sage Euch noch etwas. Solange die Spielzeugstadt Zufluchtsort und Refugium ist, kam noch nie einer der Superhelden zu uns und hat um Erlösung oder Vergebung für all das vergossene Blut gebeten. Verdammte Bastarde.« »Ist es gefährlich in dieser Gegend?« erkundigte sich Evangeline. »Zur Hölle, ja!« antwortete Reineke Bär. »Sie hassen die Vorstellung, ein Produkt der unterlegenen Menschheit zu sein. Und es gibt nur eine Sache, für die sie ihre endlosen Auseinandersetzungen unterbrechen würden: die Gelegenheit, noch ein paar Menschen umzubringen.« »Und warum verlangsamen wir dann unsere Fahrt?« fragte Tobias. »Nun, meine Lieben«, sagte eine bekannte Stimme hinter ihnen, »ich fürchte, daß wir leider neuen Treibstoff brauchen. Ich meine, meine Süßen, Ihr würdet nicht glauben, wieviel Holz nötig ist, um die verdammten Kessel am Kochen zu halten.« Sie wandten sich um, und dort stand der Kapitän. Er balancierte auf seinen beiden Holzbeinen und sah entschieden erschüttert aus. Der Papagei döste auf seiner Schulter und murmelte im Halbschlaf Obszönitäten vor sich hin. Der Kapitän versuchte sich an einem schmeichlerischen Lächeln. »Wir brauchen mehr Holz, meine Lieben, und das hier ist unsere letzte Chance, die Vorräte zu ergänzen, bevor wir den Wald erreichen. Und glaubt mir, im Wald würden wir bestimmt nicht anhalten wollen, um Brennstoff zu bunkern. Jedenfalls nicht, wenn man seinen Kopf in der Nähe der Schultern mag.« »Schon gut«, sagte Reineke Bär. »Bring uns zum Ufer, und wir sammeln soviel Holz, wie wir können. Niemand wird merken, wenn wir ein paar Kulissen mitnehmen. Aber halte dich bereit, auf der Stelle abzulegen. Das hier ist ein ungemütlicher Ort, Leute.« Er stapfte mit dem Seebock davon, um Äxte zu organisieren. Der Kapitän lächelte unsicher in die Runde und eilte wieder auf seine Brücke zurück. Die Menschen blickten sich schweigend an. »Ich mochte die Superhelden schon immer«, sagte Finlay schließlich. »Als Kind war ich ihr größter Fan. Man konnte sich immer darauf verlassen, daß ein Superheld einem den Tag rettete.« »Das war damals, und das hier ist heute«, sagte der Adaptor Alles. Er hatte sich in seine beste Kampffigur verwandelt. Aus seinen Knöcheln und Ellbogen ragten spitze Metallstacheln, und die Handkanten waren rasiermesserscharf. »Als sie intelligent wurden, erkannten die Superhelden und Superschurken, daß sie zwar aussahen wie Menschen, aber niemals Menschen werden konnten. Ich glaube, das hat viele von ihnen in den Wahnsinn getrieben. Geschieht ihnen ganz recht. Warum Trübsal blasen, weil man kein Mensch sein kann, wenn man doch so viel mehr ist, wie zum Beispiel die Furien? Das sind die richtigen Superhelden.« »Warum bist du überhaupt bei uns, Automat?« fragte Giles scharf. »Du hast uns allen deutlich genug zu verstehen gegeben, daß dir die Menschen egal sind.« »Ich will, daß die Bedrohung durch den Roten Mann und seine Armee ein Ende findet«, erwiderte Alles. »Und mir scheint, daß Ihr genau die richtigen Leute dafür seid. Wenn das hier alles vorbei ist und Ihr verschwunden seid, und wenn der Planet erst wieder uns gehört, dann… Glaubt mir, ich würde keine einzige Träne für irgendeinen von Euch vergießen. Dies hier ist jetzt unsere Welt, nicht mehr die Eure.« Er drehte sich um und ging davon, und die Sonne glänzte auf seinem silbernen Körper. »Ich hoffe, es fängt an zu regnen und er rostet«, sagte Tobias. Die Missis Merry Truspott glitt so nah an der falschen Stadt ans Ufer, wie nur irgend möglich, und dann verstummten ihre Maschinen zu einem schwachen Murmeln, um keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Der Adaptor fuhr eine Planke aus, und die Gruppe ging an Land. Sie hielten ihre Äxte eher wie Waffen denn wie Werkzeuge zum Holzfällen. Auf Drängen der Spielzeuge verharrten sie eine Weile schweigend und lauschten. In der Ferne war ein Geräusch zu hören, das nach Kämpfen klang; doch es war beruhigend weit weg. Finlay, Giles, Tobias und Flynn machten sich daran, zusammenge-fallene Kulissen und Gebäudeteile herbeizuschleppen, und die Spielzeuge bearbeiteten das Material mit ihren Werkzeugen, bis es handliche Größe besaß. Das Geräusch von Stahl auf Holz wirkte unnatürlich laut in der stillen Umgebung. Für die Menschen war die Arbeit hart und schweißtreibend. Der Seebock und der Bär schienen unermüdlich, und sie waren hin- und hergerissen von dem Zwang, sich zu beeilen, und der Furcht, den Menschen zuviel von ihren Fähigkeiten zu offenbaren. Den Adaptor schien das einen Dreck zu kümmern. Er stampfte zwischen Schiff und Holzplatz hin und her und trug die schwersten Lasten, die er finden konnte. Seine Servome-chanismen verrichteten klaglos ihre Arbeit. Poogies Zeichentrickhände hatten Schwierigkeiten, eine Axt zu packen, und so half er den Menschen beim Tragen sperriger und großer Teile. Und Halloweenie beschäftigte sich damit, kalte Getränke vom Schiff zu den Menschen zu bringen. Giles und Finlay arbeiteten die meiste Zeit über schweigend, mit Ausnahme einiger gegrunzter Anordnungen. Diese Art von Arbeit lag ihnen ganz und gar nicht; doch beide hatten nicht genug Luft, um sich darüber auszulassen. Ganz im Gegensatz zu Tobias dem Troubadour. Sie arbeiteten eine Stunde, stapelten Holz und verfrachteten es an Bord, und dann wurde mit einemmal das Gefühl übermächtig, daß irgend jemand sie heimlich beobachtete. Sie fingen an, plötzlich über die Schulter nach hinten zu sehen oder sich unvermutet umzudrehen, und sie arbeiteten womöglich noch schneller. Das hier war eine üble Gegend, und inzwischen spürte es wirklich jeder. Der Seebock hielt mit einemmal inne und richtete sich auf. Er blickte reglos zur Stadt hinüber, und die großen spitzen Ohren waren hoch aufgerichtet und lauschten angestrengt. Reineke Bär trat neben ihn. »Was ist?« fragte er leise. »Die Schlacht«, erwiderte der Bock. »Sie zieht in unsere Richtung. Die Supermenschen kommen.« »Genau, das ist es. Jeder packt, soviel er nur tragen kann. Wir verschwinden von hier«, sagte Reineke Bär. »Geht nicht«, widersprach Alles. »Wir haben noch nicht genug Holz.« »Es reicht, wenn wir sparsam damit umgehen«, widersprach der Bär. »Und jetzt hör ein einziges Mal im Leben auf, mit mir zu diskutieren! Wir haben einfach nicht die Zeit dazu! Sie können jeden Augenblick hier sein.« Sie rafften an Holz zusammen, was sie tragen konnten; dann bildeten sie eine Kette für die letzten Stücke. Missis Merry Truspott feuerte die Kessel hoch und ließ den überschüssigen Dampf so leise wie nur möglich ab, während sie darauf wartete, daß alle an Bord zurückkehrten. Inzwischen konnten jeder die Superspielzeuge hören. Rufe und Schreie und krachende und reißende Geräusche, vermischt mit dem Klang von Ener-gieentladungen . Die Menschen bemerkten die zunehmende Anspannung bei den Spielzeugen und bemühten sich nach Kräften, noch schneller zu arbeiten. Schließlich hob Reineke Bär die Pfote als Zeichen, daß die Arbeit beendet war. »Das war’s«, sagte er. »Zeit zu verschwinden.« »Wir brauchen aber noch mehr Holz!« protestierte Poogie der freundliche Bursche. »Wir müssen sparsam sein.« »Nur noch dieses eine letzte Stück.« Und Poogie, begierig wie immer, allen zu helfen, raste die Gangway hinunter, um das letzte schwere Stück zu holen, das er herbeigeschleppt hatte. Alles wollte hinter ihm her und helfen; doch Reineke Bär hielt ihn am oberen Ende der Planke zurück. Und dann waren die Super-Spielzeuge da. Sie kamen in ihren hellen, bunten Kostümen herangeflogen, und sie schossen durch die Lüfte wie Engel in Technicolor. Sie waren hell und grell und überlebensgroß mit ihren langen Gliedmaßen und mächtigen Muskeln. Sie flogen aufeinander zu und bekämpften sich mit krachenden Schlägen, die den Getroffenen torkelnd durch die dünnen Holzwände der falschen Stadt brechen ließen. Energieblitze schossen aus ihren Händen und Augen, und die knisternden Ströme prallten von unsichtbaren Schutzschilden ab. Sie flogen sehr hoch, weit über den All-tagssorgen gewöhnlicher Menschen , und nahmen überhaupt keine Notiz von den Rebellen und den Spielzeugen unten am Fluß. Sie waren viel zu sehr in ihre eigenen gottgleichen Angelegenheiten vertieft, und jeder andere war weniger als Staub unter ihren knallbunten Superheldenstiefeln. »Sie wissen nicht einmal, daß wir hier sind«, sagte Tobias leise. »Es ist ihnen scheißegal. Flynn, sag mir, daß die Kamera läuft.« »Die Kamera läuft, Boß«, antwortete Flynn. »Aber die Hälfte von ihnen bewegt sich so schnell, daß ich kein scharfes Bild kriege.« »Ich erkenne sie wieder«, sagte Finlay. »Ich erkenne sie al-le.« Und er nannte seinen Begleitern die Namen der blitzenden Gestalten wie ein Vogelkundler, der einer Gruppe Interessierter besonders interessante Exemplare zeigt. Dort war der Geheimnisvolle Rächer in einen Kampf mit der Blutroten Kralle verwickelt. Hitzschlag und Doppelteufel be-warfen sich gegenseitig mit Blitzen. Die Parze und die Vergel-terin flogen wilde Angriffe auf die Wilden Wirbelwindbrüder. Dort waren die Doppelt Gefährlichen Zwillinge, und der To-desblitz und der Miracle Maniac. Rot und Blau und Gold und Silber, flatternde Capes und Kapuzen und Masken und alle möglichen Sorten von Emblemen und Abzeichen und sich beißenden Farben. Sie flogen und kämpften und kämpften und flogen, und unter ihnen ging die Stadt Stück für Stück zu Bruch. Finlay fragte sich, ob sie jemals innehielten, um die Trümmer wieder aufzubauen, und falls nicht, wohin die Superspielzeuge ziehen würden, wenn es keine Stadt mehr gab, die sie zerstören konnten. Er stellte sich vor, wie sie durch die Spielzeugstadt fegten und hilflose Spielzeuge unter herabfallenden Trümmern begraben wurden, und seine Hand ging zu dem Disruptor an der Hüfte. Reineke Bär legte eine Pfote auf Finlays Arm und schüttelte den Kopf. Finlay verstand . Sie durften nicht die Aufmerksamkeit auf sich lenken . Poogie schleppte sein Holzstück zum Fuß der Gangway und hielt dann inne, um einen Blick zurück zu den Superspielzeu-gen zu werfen und um zu sehen, wie nahe sie inzwischen waren . Der freundliche Bursche erstarrte zu einer Salzsäule, wie festgenagelt an Ort und Stelle von einem Schauspiel der Wildheit, das so viel größer war als er selbst. Die anderen riefen und brüllten nach ihm; doch Poogie hörte sie nicht. Finlay wollte die Gangway hinunter, aber Alles rannte mit schier unglaublicher Geschwindigkeit an ihm vorbei. Er erreichte das Ufer, packte Poogie an der Schulter und schüttelte ihn grob. Das Licht kehrte in die Augen der Zeichentrickgestalt zurück, und er ließ das Holz fallen und setzte sich die Gangway hinauf in Bewegung. Hoch oben am Himmel traf die Parze den Miracle Maniac mit einem Blitzstrahl aus ihren Augen. Er wurde gegen eine Kulisse geschleudert, die wie ein Turm aussah. Die Kulisse gab unter dem Aufprall nach, wurde instabil und geriet ins Kippen. Das erste, was Poogie und Alles von der drohenden Gefahr bemerkten, war der Schatten, der mit einemmal über ihnen auftauchte. Sie hielten inne und blickten hoch und sahen das mächtige Gewicht, das auf sie herunterfiel. Poogie kreischte. Es war keine Zeit mehr zu fliehen. Alles packte den freundlichen Burschen und schleuderte ihn mit einem einzigen gewaltigen Schwung auf das Schiffsdeck. Und dann krachte die mächtige hölzerne Kulisse auf das Adaptorspielzeug hinunter wie der Hammer Gottes höchstpersönlich. Alle rannten über die Gangway zu der Unglücksstelle. Finlay gab ihnen mit gezogenem Disruptor Deckung, und Giles setzte die ganze Kraft seines Zorns ein, um die massive Kulisse an einem Ende hochzuheben. Tobias und Flynn krochen unter die schwere Platte und zogen Alles darunter hervor. Der Bär und der Bock halfen ihnen, den Adapter zurück an Bord der Missis Merry Truspott zu tragen, während Finlay ihnen mit nach wie vor gezogener Waffe rückwärts folgte. Keines der sich duellierenden Superspielzeuge hoch oben am Himmel machte sich auch nur die Mühe, einen Blick auf das Geschehen tief unten zu werfen. Sie legten Alles aufs Deck und standen hilflos herum. Niemand wußte, was zu tun war. Der Körper des Adapters hatte eine einfache humanoide Form angenommen, und das Metall war an Dutzenden von Stellen gerissen. Eine Seite des Schädels lag frei, und Lichter wanderten durch Glasfasern in seinem freiliegenden Hirn wie treibende Gedanken. Poogie kniete neben ihm nieder und weinte. Halloweenie tätschelte ihm scheu die Schulter . Im Angesicht des Todes schwieg sogar der kleine Skelettjunge. Alles starrte in den Himmel hinauf. »Ich habe immer gewußt, daß Menschen mein Tod sein würden«, stöhnte er. »Ich hätte mich niemals zu dieser Mission melden sollen.« »Du darfst nicht sterben!« schluchzte Poogie. »Du darfst mich nicht allein lassen!« »Nicht, daß ich eine Wahl hätte. Du mußt weitermachen, Poogie. Finde den Roten Mann und tritt ihm in den Hintern. Und laß dir von diesen verdammten Menschen nichts erzählen. Sieh zu, daß sie von hier verschwinden. Ich will sie nicht in meiner Nähe haben. Irgend jemand soll mir dieses verdammte Licht aus den Augen schaffen!« Reineke Bär griff nach etwas, um Schatten zu spenden… und hielt inne, als er begriff, daß Alles tot war. Poogie nahm den Metallmann in die Arme und weinte bitterlich, und seine Tränen waren genauso real wie die eines jeden Menschen. Flynn schaltete die Kamera ab. Hoch oben am Himmel kämpften die Superspielzeuge weiter, als wäre nichts geschehen. Die niederen Wesen unten auf der Erde kümmerten sie einen Dreck. Das Schiff tuckerte den ganzen Tag hindurch über den Fluß, und die Kampfgeräusche wurden stetig lauter. Inzwischen konnten die Rebellen schon die einzelnen Explosionen unterscheiden, aus denen das endlose Donnergrollen bestand. Jetzt hing auch Rauch in der Luft, und nach und nach sperrte er das Tageslicht aus, bis es schien, als wäre überraschend früh der Abend angebrochen. Menschen und Spielzeuge beobachteten die Szenerie von verschiedenen Seiten des Decks aus. Seit Alles’ Tod waren sie einander aus dem Weg gegangen. Das Schiff wurde langsamer, als Wrackteile in den dunklen Fluten trieben. Und dann trieben auch Spielzeugleichen an ihnen vorüber. Es waren unzählige. Auf beiden Ufern brannten jetzt Bäume, und schwerer dunkler Rauch quoll in den falschen Abendhimmel. Einige Hecken waren bereits völlig niedergebrannt: Tote Bäume in einer toten Landschaft aus aufgewühlter Erde, Schützengräben und Bombenkratern. Hellbunte Farben zuckten lebhaft über den Himmel, Explosionsblitze und die herabsegelnden falschen Sterne von Leuchtraketen. Die Spielsachen an Bord wurden unruhig. Der Seebock starrte unverwandt geradeaus. Er hatte die Augen weit aufgerissen und die Nüstern gebläht und sah aus, als würde tief in ihm die Programmierung von Shub darum kämpfen, wieder die Oberhand zu gewinnen. Reineke Bär drückte die Hand des Bocks in seiner Pfote so fest, wie er nur konnte . Poogie hatte sich zu einer Kugel zusammengerollt und die Augen fest geschlossen, als suche er die Flucht vor alten Erinnerungen von Blut und Tod. Halloweenie saß vor Julians Kabinentür Wache und rührte sich nicht. Und dann waren sie mit einemmal mitten im Krieg. Spiel-zeugarmeen wimmelten an beiden Ufern, rannten mit grenzenloser Kraft und Wildheit hierhin und dorthin und gehorchten gebrüllten Befehlen. Sie trugen alle möglichen Arten von Waffen, von grob gehämmerten Klingen bis hin zu Energiepistolen . Granaten segelten durch die Luft, und Dreck und zerfetzte Spielzeuge wirbelten bei jeder Explosion umher . Überall waren Handgemenge im Gang . Spielzeug kämpfte gegen Spielzeug, ohne Strategie oder Plan. Eine breite Masse von Tod und Zerstörung und Chaos, sonst nichts. Die Menschen und Spielzeuge an Bord der Missis Merry Truspott duckten sich, als Raketen über ihre Köpfe zischten und auf entgegengesetzten Ufern explodierten. »Woher zur Hölle haben sie nur all diese Waffen?« fragte Finlay mit lauter Stimme, um den Lärm zu übertönen. »Von Shub«, antwortete der Seebock, ohne sich zu bewegen . »Sie waren dazu gedacht, gegen die Menschen eingesetzt zu werden. Und einige haben wir selbst hergestellt. Shub gab uns das nötige Wissen.« »Kann jemand erkennen, wer gewinnt?« fragte Tobias. »Die guten oder die bösen Spielzeuge?« »Niemand gewinnt hier«, erwiderte Reineke Bär. »Hier wird nur gestorben, mehr nicht.« Und in diesem Augenblick, als hätten die kämpf enden Spielzeuge das Schiff erst jetzt entdeckt, eröffneten die Armeen zu beiden Seiten des Flusses das Feuer auf die Missis Merry Truspott. Das Limonadenwasser ringsum spritzte hoch und aufs Deck, als zu kurz geworfene Granaten und Bomben dicht neben dem Schiff explodierten. Menschen und Spielzeuge gleichermaßen klammerten sich an die Reling, um nicht weggespült zu werden. Energiestrahlen schossen aus dem Dunkel und durchbohrten den Schaufelraddampfer an mehreren Dutzend Stellen gleichzeitig. Das Deck erzitterte unter den Passagieren, als die Missis Merry Truspott schrie. Feuer brach aus, und Flammen leckten hungrig entlang des hölzernen Rumpfs. Die Menschen feuerten mit ihren Disruptoren auf die Ufer, und die Spielzeuge rannten mit Eimern und Handpumpen los, um das Feuer zu bekämpfen. Evangeline streckte den Kopf aus Julians Kabine, und Finlay schrie sie an, drin zu bleiben. Dort war es sicherer. Evangeline warf einen Blick in die Runde und verzichtete auf Diskussionen. Giles und Finlay steckten ihre Disruptoren weg und zogen die Schwerter . Sie wußten, daß irgend jemand versuchen wür-de, an Bord zu gelangen . Tobias hielt den Kopf unten und flüsterte einen aufgeregten Kommentar, während Flynn die Kamera hierhin und dorthin schickte und so viel vom Geschehen filmte wie nur irgend möglich. Weitere Energiestrahlen rissen klaffende brennende Löcher in die Schiffsaufbauten. Bis jetzt hatte noch niemand die Kessel getroffen. Das Schiff schrie in einem fort; doch die Schaufelräder drehten sich mit unverminderter Geschwindigkeit weiter. Spielzeuge stürzten sich in die Fluten und schwammen auf das Schiff zu. Teddybären und gestaltverändernde Adaptoren und Puppen aller Art kamen heran. Der Seebock tauchte mit einem Ölfaß auf und leerte es über die Reling. Das Öl trieb dick und glänzend auf der Limonade. Der Bock zündete es mit an, indem er eine Fackel hineinschleuderte, und rings um das Schiff loderten Flammen auf. Die vom Feuer überraschten Spielzeug kreischten laut, während sie verbrannten; aber viele schafften es dennoch bis zum Schiff und kletterten den durch-siebten Rumpf hinauf und über die Reling. Finlay und Giles traten ihnen mit blitzenden Schwertern entgegen, und der Bock unterstützte sie mit seiner Keule; aber sie waren nur wenige, und die Feinde waren zahlreich und verrückt danach, alle Menschen zu töten. Tobias und Flynn eilten herbei und kämpften ebenfalls mit den Schwertern, und Poogie und Reineke Bär ließen Feuer Feuer sein und halfen mit wilden Stahlklauen und bösartigen Kiefern. Und selbst mitten in der Schlacht hatte der Bär noch genügend Zeit, um angewidert festzustellen, wie leicht das Kämpfen und Töten für ihn geworden war. Halloweenie der kleine Skelettjunge packte ein herumliegen-des Schwert und warf den letzten Rest seiner Unschuld weg, um sich ebenfalls an der Schlacht zu beteiligen. Sie kämpften Seite an Seite, Mensch und Spielzeug, und niemand wußte, gegen wen oder warum. Sie standen gegen eine Armee von Angreifern, die von Shubs einprogrammierten Befehlen vorangepeitscht wurde. Das Schreien des Schiffs übertönte sogar den Lärm des Kampfes, und es hörte nicht mehr auf. Die Brücke explodierte unter einem direkten Treffer, und der leblose Körper des Kapitäns wurde aus einem Fenster geschleudert. Sein schwarzer Leichnam krachte aufs Deck und blieb dort leblos und rauchend liegen, und niemand beachtete ihn. Das Schiff kam langsam vom Kurs ab und steuerte auf das linke Flußufer zu. Finlay stand mitten im dichtesten Gewühl und kämpfte Rük-ken an Rücken mit dem Ersten Todtsteltzer. Ihre Schwerter zerstückelten die Angreifer ringsum, doch von allen Seiten drängten immer neue heran. Die Luft war von beinahe menschlichen Schreien und von dem bestialischen Gebrüll der Angreifer erfüllt. Der Feldglöck und der Todtsteltzer kämpften auf dem Höhepunkt ihrer Kunst, und nichts und niemand kam auch nur in ihre Nähe. Dennoch wußten beide, daß sie nicht bis ans Ende aller Tage gegen eine derartige Übermacht standhalten konnten. »Es sieht nicht gut aus«, sagte Giles gelassen über die Schulter . »Nein, überhaupt nicht«, stimmte Finlay ihm atemlos zu, während er einen geifernden Wolf in Waldläuferkleidung nie-dermetzelte. »Wir brauchen ein Wunder, um das hier zu überleben.« »Ganz meine Meinung«, stimmte Giles ihm zu. »Genau das gleiche Wunder, welches uns auch beim letzten Mal gerettet hat.« Es dauerte einen Augenblick, bis Finlay begriffen hatte. »Nein! Nicht noch einmal! Es würde ihn umbringen!« Ein lautes donnerndes Knallen hinter ihm und das Rauschen von Luft, die den Platz ausfüllte, an dem der Todtsteltzer eben noch gestanden hatte, und Finlay wußte, wohin er teleportiert war. Er kämpfte sich durch die wogenden Massen von Leibern zu Julians Kabine, trat die Tür ein und stürzte herein. Giles hatte Julian auf die Beine gezerrt und hielt den Esper mit einer Hand, während er mit der anderen Evangeline abwehrte. Finlay zog seinen Disruptor und zielte damit auf den Todtsteltzer. »Nicht noch einmal, Giles! Nicht noch einmal!« »Entweder er beschwört einen PSI-Sturm, oder wir sind alle tot«, entgegnete Giles ernst. »Was ist wichtiger – ein Esper, der schon so gut wie tot ist, oder unser aller Leben und die Erfüllung unserer Mission?« Sie stolperten alle zusammen, als eine weitere Explosion das Schiff erschütterte. Giles grinste humorlos. »Los, entscheidet Euch, Feldglöck. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit.« »Er ist mein Freund«, protestierte Finlay. »Ich habe ihn nicht aus der Hölle gerettet, damit Ihr ihn umbringt! Eher töte ich Euch, Todtsteltzer.« Die Waffe ruhte fest in seiner Hand. »Ihr habt Macht, Giles!« sagte Evangeline verzweifelt. »Das Labyrinth des Wahnsinns hat Euch verändert. Ihr seid stärker und besitzt ungeahnte Fähigkeiten. Benutzt Eure Macht, um uns zu retten!« »Ich kann nicht«, erwiderte Giles. »Ich könnte mich selbst hinausteleportieren; aber ich kann niemanden mitnehmen. Und wie wollen wir ohne das Schiff jemals den Wald erreichen?« »Ihr braucht Energie?« sagte Julian mit schwerer Zunge. »Ich werde Euch Energie geben, Todtsteltzer.« Der Esper packte seinen Peiniger am Kinn und drehte dessen Kopf in seine Richtung, bis sie einander in die Augen starrten. Julian raffte all seine Reserven zusammen, und eine Woge psionischer Energie wallte in ihm auf. Er spürte, wie es ihn innerlich zerriß und zerbrach, doch es war ihm egal. Sein Mund verzog sich zu einem freudlosen Grinsen, und Blut quoll zwischen seinen Lippen hindurch und rann ihm übers Kinn. Julian Skye fokussierte sein ESP und hämmerte es Giles mitten in den Kopf. Einen Augenblick lang glaubte Giles, in die Sonne zu starren, so hell und überwältigend war die Erfahrung. Julians Kräfte waren die allerletzten Reserven des sterbenden Espers, und er hatte sie gebündelt und auf Giles übertragen, und jetzt vermischten und verschmolzen sie miteinander. Beide schrien gleichzeitig auf, und dann teleportierte Giles und riß das ganze Schiff mit sich. Luft strömte knallend in das Vakuum, wo noch einen Sekundenbruchteil zuvor der Schaufelraddampfer gewesen war; dann gab es nur noch den Fluß . Hier und da brannte noch Öl, und tote Spielsachen trieben mit dem Gesicht nach unten stromab-wärts. Die Spielzeuge vergaßen das Schiff und wandten sich wieder ihrem endlosen Krieg zu, und das Gemetzel nahm seinen Verlauf wie eh und je. Eine halbe Meile stromaufwärts tauchte die Missis Merry Truspott wie aus dem Nichts wieder auf. Mächtige Wellen spritzten zu beiden Seiten hoch, als der Dampfer ins Wasser klatschte, und sie löschten den größten Teil der Feuer. Giles und Finlay stürmten aus Julians Kabine und warfen sich auf die verbliebenen Spielzeuge, und es dauerte nicht lange, bis sich niemand mehr regte. Sie warfen die Leichen über Bord, und dann kehrte zum ersten Mal wieder Stille an Deck ein. Tobias senkte sein Schwert und grinste müde. »Also, das nenne ich nun wirklich mal ein Wunder. Ich wußte gar nicht, daß Ihr zu so etwas fähig seid, Lord Todtsteltzer.« »Genausowenig wie ich«, knurrte Giles. »Und ich glaube auch nicht, daß ich es in nächster Zeit noch einmal tun werde.« Er drehte sich zu Julian um, der stark und sicher dastand. »Was zur Hölle ist mit Euch geschehen?« »Ich will verdammt sein, wenn ich das wüßte«, erwiderte Julian fröhlich. »Fest steht jedenfalls, daß ich Eure Macht nutzen konnte, um mich selbst zu heilen, als wir verschmolzen waren. Ihr seid zu einer verdammten Menge mehr imstande, als Euch selbst bewußt ist, Lord Todtsteltzer.« »Ihr seht schon viel besser aus«, sagte Finlay. »Zur Hölle, Ihr seht sogar wieder halbwegs menschlich aus, Julian. Wie fühlt Ihr Euch?« »Gesund und munter vom Scheitel bis zur Sohle«, antwortete der junge Esper fröhlich. »Ich bin wieder das, was ich war, bevor das Imperium mich in die Finger bekam. Ich bin geheilt, Leute! Halleluja!« »Nicht so laut«, warnte der Seebock. »Wir haben nicht alle soviel Glück gehabt .« Er deutete mit dem Kopf zur anderen Seite des Decks, wo Halloweenie neben dem verbrannten und zerfetzten Leichnam des Kapitäns kniete. »Verdammt!« fluchte Tobias. »Wer soll jetzt nur das Schiff steuern?« Sie fuhren weiter. Es wurde Nachmittag, und das Kampfgebiet blieb hinter ihnen zurück. Voraus lag der Dunkle Wald, und in ihm wartete der Rote Mann, und selbst die finstersten Zwänge des Krieges schafften es nicht, die einander bekämpfenden Spielsachen näher an den Wald heranzubringen, als sie bereits waren. Jetzt lag nichts mehr zwischen dem Schaufelraddampfer und seinem Ziel außer Zeit und den Geheimnissen, die förmlich in der Luft schwebten. Die Menschen polierten ihre Klingen. Die Spielsachen drängten sich dicht zusammen und flüsterten nur noch. Halloweenie bemannte die Brücke und steuerte das Schiff. Er stand auf einer Kiste, um über das Ruder sehen zu können. Der kleine Skelettjunge starrte auf den Dunklen Fluß hinaus und schwieg. Die Menschen hatten die sterblichen Überreste seines Kapitäns über Bord geworfen, was einer See-bestattung am nächsten gekommen war. Sein Papagei war unauffindbar gewesen. Die beschädigte Missis Merry Truspott tuckerte stetig weiter. Das Schiff hatte aufgehört zu schreien; doch seine beiden riesigen Augen waren weit aufgerissen und musterten wachsam die Umgebung. Sie sahen den Wald, lange bevor sie ihn erreichten. Wie ein riesiger dunkler Fleck tauchte er am Horizont auf, und der Fluß brachte sie unausweichlich näher. Menschen und Spielsachen versammelten sich am Bug und starrten auf das Ziel ihrer Reise. Sämtliche Differenzen waren angesichts des Unbekannten vergessen. Rasch rückte der Wald näher, und bald schon konnte man die ersten großen Bäume am Rand voneinander unterscheiden. Die schmale Lücke tauchte auf, in welcher der Dunkle Fluß verschwand, und der Schaufelraddampfer verlangsamte seine Fahrt, als wolle er seinen Passagieren eine letzte Chance zur Umkehr geben. Dann ertönte herausfordernd die Dampfpfeife, und das Schiff tuckerte mutig auf die schmale Lücke zwischen den Bäumen zu. Sie waren im Wald. Es war ein dunkler, ursprünglicher Ort, wo die Bäume so hoch wuchsen, daß sie Hunderte von Jahren alt sein mußten. Hoch und ausladend und irgendwie bedrohlich: Der Dunkle Wald war eine ständige Erinnerung an eine Zeit, als die Menschen noch von der Gnade der Wälder gelebt und nichts weiter als ein Teil der Natur gewesen waren. Die mächtigen Äste waren mit schwerem Laub beladen und verbanden sich hoch über den Köpfen der Rebellen zu einem Blätterdach, das den größten Teil der Sonne ausschloß. Je tiefer die kleine Gruppe in den Wald vordrang, desto weiter blieb der Tag hinter ihnen zurück. Alles wurde Bestandteil des ewigen Zwielichts. Niemand hatte jemals die Absicht gehabt, hier zu spielen. Im Großen Wald gab es weder Komfort noch Sicherheit. Der Ort, an dem die Bäume wuchsen, war wild, ungezähmt und frei, und wer ihn betreten wollte, der tat dies auf sein eigenes Risiko. Die mächtigen Bäume standen dicht beieinander, ausladend und knorrig zugleich, und das Laub ihrer Äste war von einem giftigen Dunkelgrün. Die Luft war gesättigt mit dem Geruch von Erde und Holz und lebendigen Dingen. Die Missis Merry Truspott dampfte vorsichtig weiter, und sie kamen nur noch-langsam voran. Hin und wieder schleiften Äste über das Dach der Brücke. Es war, als bewegten sie sich durch einen nicht enden wollenden Abend. Alles war grau und feierlich, und es herrschte eine unheimliche Stille wie in einer gewaltigen lebenden Kathedrale aus uraltem Holz. Und so verließen sie die Welt der Spielsachen und betraten die großen grünen Traum der alten Zeiten. Sie fuhren über einen dunklen Fluß auf der Suche nach einem geheimnisvollen Rätsel und der verlorenen Seele, die sich jetzt der Rote Mann nannte. Und auf der Suche nach der Armee, die er aus unbekannten Motiven heraus um sich versammelt hatte. Sie sagen, er sei verrückt. Und sie sagen, er wolle die ganze Welt zerstören… Finlay und Giles hielten die Disraptoren in der Hand. Sie waren bereit, beim kleinsten Anzeichen feindlicher Aktivitäten zu schießen. Julian und Evangeline standen an der Reling beieinander. Sie fühlten sich an diesem Ort der Riesen irgendwie klein und unbedeutend. Flynn arbeitete wie besessen, um alles zu filmen; doch zum ersten Mal im Laufe seiner kurzen steilen Karriere verzichtete Tobias darauf, die Szenerie zu kommentie-ren. Die dunkle Pracht ringsum verängstigte ihn zutiefst. Poogie, der Seebock und Reineke Bär standen beieinander und machten sich gegenseitig Mut. Oben auf der Brücke starrte der kleine Skelettjunge Halloweenie in die bedrohliche Finsternis voraus wie ein Kaninchen, das von einer Schlange hypnotisiert worden ist. Die endlose Stille übte eine seltsame Faszination auf die Rebellen aus. Niemand war danach, sie mit leerem Geplapper zu durchbrechen. Nicht das kleinste Geräusch war zu hören, weder von Vögeln noch Tieren oder Insekten, nichts außer dem stetigen Tuckern der Dampfmaschinen. Das ewige Schweigen hatte etwas Erwartungsvolles an sich, als könnte jeden Augenblick eine gewaltige Stimme erschallen, der jedes lebende Wesen gehorchen mußte. Und so lauschten sowohl Menschen als auch Spielzeuge angestrengt, und irgendwann drangen die ersten hellen Töne aus der Dunkelheit zu ihnen. Ein Lied, eine fröhliche, lebendige, freie Melodie. Dann erschienen die Sänger: Kleine leuchtende geflügelte Geister, die wie Sterne auf dem Weg zur Erde zwischen den Bäumen hin-durchflatterten. Sie kamen in Massen, betriebsam und lebhaft, und sie brachen wie eine Woge aus Licht über das Schiff herein. Sie umschwärmten den Schaufelraddampfer, ohne ihm ein einziges Mal zu nahe zu kommen. Menschen und Spielzeuge beobachteten das Schauspiel mit weit aufgerissenen Augen und noch breiterem Lächeln . Die unerwartete Freude an diesem dunklen Ort berührte sie zutiefst. Die kleinen Geister besaßen menschliche Gestalt; aber sie waren nicht größer als einen Fuß, und sie hatten mächtige pastellfarbene Flügel. Die Wesen leuchteten in einem hellen inneren Licht, überwältigend, lebendig und strahlend wie ein heller Mond. Und sie sangen, allein und im Chor. Sie sangen hohe kunstvolle Tonfolgen aus Arpeggios und endlosen Harmonien. Sie waren ein Chor aus Engeln, und ihr Gesang war so rein und schön, daß den Rebellen das Herz überlief. Es war der stimm-gewordene Wald, ein Ort voller Bedeutung und Feierlichkeit, eingepackt in ein wunderschönes Lied. Jeder an Bord der Missis Merry Truspott spürte, daß sie dicht vor der Antwort auf alle Fragen standen, die jemals wirklich von Bedeutung gewesen waren. Und dann waren die Geister mit einemmal verschwunden. Sie schossen in den Wald davon, und ihr Lied erstarb im ewigen Halbdunkel. »Was zur Hölle war das?« fragte Tobias nach einer Weile, nachdem nichts mehr zu sehen oder zu hören war. »Hast du es gefilmt, Flynn?« »Frag mich nicht«, erwiderte der Kameramann . »Die Kamera lief, aber ich war weit weg bei den Feen. Waren sie nicht wundervoll?« »Wundervoll«, stimmte ihm Finlay zu. »Aber was suchen sie hier? Was macht dieser ganze Wald hier auf Shannons Welt? Dieser Ort ist eindeutig kein Platz für Kinder. Zur Hölle, ich bin nicht einmal sicher, ob ich in meinem Alter dafür bereit bin!« »War es real?« fragte Julian. »Kann es sich um eingeborenes Leben handeln? Es sah so… alt aus. Beinahe antik.« »Unmöglich«, entgegnete Evangeline. »Dieser Planet war ein lebloser Fels, bevor Shannon ihn terraformieren ließ. Alles hier ist sein Werk.« »Und warum hat er dann diesen Wald geschaffen?« fragte Giles. »Welchen Sinn hat das alles hier?« »Es war Shannons nächstes Projekt«, sagte Poogie, und alle drehten sich nach dem freundlichen Burschen um. Die Zeichentrickfigur starrte auf den Wald hinaus. Poogies Stimme klang freundlich und bestimmt. »Shannon wollte immer die Seelen der Menschen erreichen, um ihre Wunden zu heilen. Sommerland war nur der erste Schritt. Es war ein Ort, wo Kinder aller Altersstufen Trost und Frieden finden konnten. Der Wald war der nächste Schritt. Ein Ort, wo Männer und Frauen so lange verschwinden konnten, wie sie brauchten, um ihre geistigen Wurzeln wiederzufinden und neue Kraft und Selbstsicherheit zu gewinnen. Nachdem der Wald fertig war, ging Shannon hinein und kehrte niemals wieder zurück. Er ist noch immer irgendwo da drin – falls er noch lebt. Das ist auch der Grund, warum Harker diesen Ort für seinen Rückzug ausgewählt hat. Dieser Wald ist ein Ort der Wiedergeburt. Die Seele von Shannons Welt.« »Halt, einen Augenblick«, sagte Reineke Bär. »Woher weißt du eigentlich, warum Harker diesen Ort ausgesucht hat?« »Weil ich zu ihm gehöre«, antwortete Poogie der freundliche Bursche und wandte sich endlich zu den anderen um. Er musterte sie mit seinen großen, wissenden Augen. »Ich habe den Auftrag, Euch direkt zu ihm zu führen.« Sie bestürmten Poogie mit Fragen, doch er schüttelte nur den Kopf und meinte, Harker würde all ihre Fragen früh genug beantworten. Der Seebock war wütend, weil Poogie ihn getäuscht hatte, und er bedrohte den freundlichen Burschen mit seiner Keule. Der Bär gebot ihm Einhalt. Nichts hatte sich grundlegend an ihrer Mission geändert, und wenn Poogie die kleine Gruppe direkt zu Harker bringen konnte, um so besser. Der Seebock beruhigte sich ein wenig; doch er behielt die Keule in der Hand und brummte mißmutig vor sich hin. Poogie stand allein am Bug und sah erwartungsvoll nach vorn. Die Menschen unterhielten sich gedämpft. Giles warf nicht zum ersten Mal ein, daß er den Spielzeugen von Anfang an nicht über den Weg getraut habe. Finlay wies darauf hin, daß Poogie wohl kaum eine Gefahr für die Gruppe darstellte. Doch einzig und allein Evangeline erkannte die wirklichen Schlußfolgerungen von Poogies Enthüllung: Harker wußte längst, daß sie kamen. Sie fuhren weiter durch das Zwielicht . Nach einer Weile er-tönte das Geräusch von Trommeln, das rasch lauter wurde. Es klang wie der Herzschlag eines schlafenden Riesen – oder wie der der Herzschlag des Dunklen Waldes selbst. Spuren von Rauch hingen in der Luft. Es roch scharf und würzig. Das Ge-fühl, von unsichtbaren Augen beobachtet zu werden, wurde immer eindringlicher. Menschen und Spielzeuge drängten sich am Bug zusammen und hielten die Waffen griffbereit. Die Menschen dachten gegenwärtig weniger an die Erfüllung ihrer Mission und die Beschaffung taktischer Informationen von Vincent Harker, sondern vielmehr daran, wie sie die Begegnung mit dem allseits gefürchteten Roten Mann und seiner Armee überleben sollten. Noch nie war ein Reisender aus dem Dunklen Wald zurückgekehrt. Die Trommeln wurden lauter und bedrohlicher. »Er ist ein wunderbarer Mensch«, sagte Poogie beinahe verträumt. Er stand abseits von den anderen. »Manchmal nicht leicht zu verstehen, aber trotzdem ein Mann von großer Weisheit. Wir verehren ihn, und wir gehören ihm mit Leib und Seele. Wir würden für den Roten Mann sterben. Er wird uns alle aus der Dunkelheit führen und dem Krieg ein Ende bereiten. Er wird das Angesicht dieser Welt verändern, bis wir es nicht mehr wiedererkennen.« »Ob wir anderen das wollen oder nicht«, brummte Reineke Bär. »Wie will er diese Veränderungen denn bewerkstelligen?« erkundigte sich Finlay. »Indem er seine Armee ausschickt? Indem er alle zwingt, ihm zu folgen, statt den Weg zu gehen, den sich jeder für sich selbst ausgesucht hat?« »Ihr versteht das nicht«, sagte Poogie. »Der Rote Mann ist im Besitz einer Wahrheit, die alle verändert, die sie hören. Er hat mich gerettet. Er hat uns alle gerettet. Und er wird am Ende die Welt retten.« »Ob sie gerettet werden will oder nicht«, brummte Giles Todtsteltzer. »Ich kenne diese Sorte. Ich bin ihr schon öfters begegnet.« »Nein!« widersprach Poogie. »Ihr habt noch nie jemanden wie den Roten Mann kennengelernt.« Mehr war nicht aus ihm herauszuholen. Schließlich erreichten sie Harkers Lager. Seine Anhänger hatten eine Lichtung zwischen den großen Bäumen geschaffen und mitten darauf eine große hölzerne Festung errichtet. Hohe Mauern, schlanke Türme und Tausende von Spielzeugen beobachteten aus allen Richtungen, wie die Missis Merry Truspott langsamer wurde und schließlich in einer großen dunklen La-gune anhielt, die das Ende des Flusses markierte. Der Lärm der Trommeln war inzwischen ohrenbetäubend. Die Luft vibrierte wie von gewaltigen Hämmern. Rauch kräuselte sich von Hunderten von Feuern, die ein warmes, purpurnes Licht in der Dunkelheit zwischen den Bäumen verbreiteten. Überall gab es hell flackernde Fackeln, und ihre tanzenden Flammen warfen beunruhigende Schatten. Alle nur erdenkli-chen Arten von Spielsachen drängten sich unter und vor den Bäumen, und sie alle hielten Waffen in den Händen und beobachteten die Neuankömmlinge mit feindseligen Blicken. Allein der Wille des Roten Mannes hielt sie zurück, doch sie blieben wachsam und mißtrauisch. Ohne jede Vorwarnung verstummten die Trommeln. Die Armee von Spielzeugen zeigte nicht die geringste Reaktion. Nur das Knacken und Knistern der zahllosen Feuer und Fak-keln durchbrach die plötzliche Stille, gemeinsam mit dem leisen Tuckern der Kessel des Schaufelraddampfers. Finlay und Giles blickten in die Runde. Sie achteten sorgsam darauf, keine unbedachte Bewegung zu machen, die falsch hät-te interpretiert werden können. Der Bär und der Bock standen dicht beisammen und hielten sich an den Pfoten: verlorene Seelen in der Unterwelt . Das Licht der Schiffslaternen vermochte die umgebende Dämmerung kaum zu durchdringen, und das purpurne Flackern der zahllosen Feuer und Fackeln vertiefte nur die Dunkelheit zwischen den Bäumen wie brennende Koh-len in der Nacht. »Willkommen in der Hölle«, sagte Tobias Shreck leise. »Das hier ist nicht die Hölle«, widersprach Poogie der freundliche Bursche. »Das hier ist unser Zuhause. Steuert das linke Ufer an und fahrt die Gangway aus. Wir sollten Harker nicht warten lassen.« Giles drehte sich nach Halloweenie auf der Brücke um. »Laß die Pfeife ertönen, Knabe. Harker soll wissen, daß wir eingetroffen sind. Ich möchte nicht, das er denkt, wir wären eingeschüchtert.« »Wir sind aber eingeschüchtert«, entgegnete der Seebock. »Vielleicht sind wir das«, sagte Julian, »aber Harker muß das schließlich nicht wissen. Laß die Pfeife heulen, Halloweenie.« Der kleine Skelettjunge riß am Seil, und die Dampfpfeife der Missis Merry Truspott tutete und tutete immer und immer wieder. Es war ein lautes, durchdringendes Geräusch, das die Stille zerfetzte. Die Echos schienen den gesamten Wald zu erfüllen. Die Anhänger Harkers rührten sich nicht; aber die Passagiere an Bord des Schaufelraddampfers fühlten sich mit einemmal schon wieder etwas besser. »Gut so«, sagte Finlay. »Und jetzt werden wir zum Roten Mann gehen. Vergeßt nicht: Niemand schießt, bevor wir nicht das Weiße ihrer Zähne direkt vor Augen sehen.« »Wenn wir anfangen zu schießen , sind wir einen Augenblick später tot«, sagte Giles. »Also bewahrt die Ruhe, Leute.« »Wir werden nie wieder nach Hause zurückkehren!« jammerte der Seebock . »Wir werden hier sterben, in der Hölle!« »Dann laßt uns wenigstens mit Würde sterben«, entgegnete Reineke Bär . »Falls das wirklich alles ist, was uns noch bleibt.« Vorsichtig schritten sie über die Gangway ans Ufer und blickten sich unablässig nach irgendeiner Andeutung von Ag-gression um; doch die Tausende von beobachtenden Spielzeugen blieben still und rührten sich nicht. Poogie führte die kleine Gruppe, und er hüpfte und tanzte und schien ganz offensichtlich überglücklich, wieder zu Hause zu sein. Giles folgte dem freundlichen Burschen. Er ging hoch aufgerichtet und mit vor-gestrecktem Kinn, als wäre er der eigentliche Herr dieses Waldes. Finlay hielt Evangeline dicht bei sich, und seine Hand war nie weit vom Griff des Disruptors entfernt. Julian starrte stur geradeaus . Er hatte die Hände in den Taschen vergraben, so daß niemand sehen konnte, wie sie zitterten . Tobias und Flynn blieben ebenfalls zusammen. Sie nahmen die Szene in sich auf, und die Kamera schwebte unmittelbar über den Köpfen der beiden. Den Schluß bildeten Reineke Bär und der Seebock. Sie hatten Halloweenie zwischen sich genommen und hielten ihn an den knochigen Fingern. Das Schiff, die Missis Merry Truspott, sah der kleinen Gruppe mit ihren großen, niemals blinzelnden Augen hinterher und schwieg. Die dicht gedrängten Spielzeuge traten vor der kleinen Gruppe auseinander, und eine Gasse bildete sich – ein enger Durchgang, der vor spitzen Waffen nur so glitzerte und geradewegs auf den offenen Hof der großen Holzfestung führte. Finlays Atem ging immer schneller, und er klang jetzt gehetzt; doch seinem Gesicht war keine Gefühlsregung anzumerken. In ihm regte sich der starke Verdacht, daß es denkbar schlecht wäre, an diesem Ort Schwäche zu zeigen. Er warf einen Seitenblick zu dem Todtsteltzer, der aussah, als hätte er früher schon Schlimmeres gesehen, und als wäre er auch damals nicht sonderlich beeindruckt gewesen. Vielleicht stimmte das sogar. Finlay mußte unwillkürlich grinsen. Nur ein Todtsteltzer schaffte es, so auszusehen, als sei er in der Hölle zu Hause. Er hatte bereits einen Plan für den Fall der Fälle. Er würde versuchen, als erstes Harker zu töten. Dann würde er sehen, wie viele Spielzeuge er noch mitnehmen konnte, bevor sie ihn unter sich begruben. Er hoffte nur, daß ihm genug Zeit bleiben wür-de, vorher Evangeline zu töten. Finlay hatte sie in die Hölle geführt; ein schneller Tod war das wenigste, was er für sie tun konnte. Der Innenhof der hölzernen Burg wurde von Hunderten von Fackeln hell erleuchtet. Auf einem Thron, den man aus einem Baumstumpf herausgeschnitzt hatte, saß Vincent Harker. Der Rote Mann. Der Mann in Rot. Der Mann im Weihnachtsmannkostüm. Die Menschen blieben bei seinem Anblick wie angewurzelt stehen. Selbst der Todtsteltzer riß den Mund auf. Poogie eilte vor und verbeugte sich vor seinem Herrn, dann setzte er sich Harker zu Füßen. Harker streckte die Hand aus und kraulte den Kopf des freundlichen Burschen, und Poogie lehnte sich mit einem langen Seufzer gegen Harkers Bein wie ein treuer Hund. Er war endlich wieder zu Hause. Harker war ein großgewachsener Mann. Er besaß mehr Muskeln als Fett, weißes langes Haar und einen buschigen weißen Bart, und er trug das Weihnachtsmannkostüm mit selbstverständlicher Autorität. Er lächelte seinen Besucher freundlich entgegen, ein breites, warmes und sehr, sehr gesundes Lächeln. »Der Rote Mann«, ächzte Tobias. »Der Weihnachtsmann! Ich hätte es wissen müssen!« »Was habt Ihr erwartet? Wir befinden uns hier auf einer Welt, die für Kinder und Spielzeuge erschaffen wurde«, sagte Harker. Seine Stimme klang voll und tief und sehr beruhigend. »Willkommen in meinem Haus. Ich habe schon angefangen zu glauben, Ihr würdet niemals kommen. Bitte macht Euch keine Sorgen um Eure Sicherheit. Meine Anhänger handeln nur, wenn sie angegriffen werden. Im Augenblick plustern sie sich ein wenig auf, weil sie Angst haben, Ihr könntet versuchen, mich ihnen wegzunehmen. Sobald sie sehen, daß Ihr keine Gefahr bedeutet, werden sie sich wieder beruhigen . Das heißt, falls Ihr keine Gefahr darstellt… was ich annehme. Warum habt Ihr einen so weiten und gefährlichen Weg auf Euch genommen, um mich zu finden? Ihr seht nicht aus wie Imperiale Streitkräfte.« »Das sind wir auch nicht«, antwortete Evangeline und trat vor. Sie bemühte sich nach Kräften, die Waffen zu ignorieren, die jede ihrer Bewegungen verfolgten. »Wir repräsentieren die Untergrundbewegung Golgathas. Eine wachsende Schar von Klonen, Espern und Menschen, die an Freiheit und Gerechtigkeit glauben und die sich der Rebellion verschrieben haben. Wir haben gehört, daß Ihr wertvolle taktische Informationen die Imperialen Streitkräfte betreffend besitzt. Wir sind gekommen, um Euch zu bitten, diese Kenntnisse mit uns zu teilen.« »Bitten?« sagte Harker. »Damit ist es wohl klar; Ihr seid definitiv keine Imperialen Truppen. Kommt her und setzt Euch zu mir, und ich werde Euch erzählen, wie ich hergekommen bin und für eine Welt voller Spielzeuge der Weihnachtsmann wurde.« Eine Gruppe von Spielzeugsoldaten brachte Stühle, und die Neuankömmlinge nahmen vor Harker Platz. Die Spielzeugsoldaten zogen sich wieder zurück; doch sie behielten die Gäste scharf im Auge und die Hände in der Nähe ihrer Waffen. Sowohl Harker als auch seine Gäste gaben vor, es nicht zu bemerken. Die Stühle waren überraschend bequem. Harker lehnte sich auf seinem Thron zurück. »Das hier haben die Spielzeuge für mich gebaut. Ich habe sie nicht darum gebeten. Ich halte nichts von derartigen Symbolen; aber sie entschieden, daß ich als ihr Anführer einen Thron haben müßte, und sie können in derartigen Kleinigkeiten sehr stur sein. Also spiele ich mit, und sie sind glücklich . Manchmal frage ich mich, wer hier wirklich das Sagen hat . Na ja, das ist eine andere Geschichte. Als ich über Shannons Welt abstürzte, tobte überall der Krieg. Spielzeug brachte Spielzeug um. Der schiere Wahnsinn. Sie waren erst kurz zuvor zum Leben erwacht, und sie wußten nichts Besseres damit anzufangen, als zu töten und getötet zu werden. Ich habe gesehen, wie Spielzeuge niedergemetzelt und Unschuldige getötet wurden, und irgend etwas in mir veränderte sich. Für immer. Als ich noch für das Imperium arbeitete, nannte man mich den Kalten Mann, weil nichts mich jemals berührte. Mein Beruf waren Pläne und Strategien, und ich wandelte Rohdaten in Konzepte und Taktiken um, mit deren Hilfe die größtmöglichen feindlichen Verluste bei möglichst geringen Imperialen Verlusten sichergestellt werden sollten . Selbst wenn Tausende oder manchmal Millionen von Menschen wegen meiner Entscheidungen sterben mußten, ließ mich das kalt. Es war mir egal. Ich sah sie nicht. Ich kannte sie nicht. Sie waren nichts als Zahlen. Dann kam ich hierher, nach Sommerland, und was ich sah, brach mir das Herz. Ich erkannte, was diese Spielzeuge waren und sind: Kinder. Junge, unschuldige Wesen, betrogen von den Kräften, die ihnen ihre Intelligenz schenkten und ihnen dann nichts als Haß und Lügen einpflanzten. Die Spielsachen verstanden nicht, was sie anrichteten, als sie die Menschen töteten. Shub hat sie manipuliert. Sie waren so jung und unerfahren wie sollten sie das Wesen des Todes begreifen? Als sie sahen, wer und was sie waren, da fühlten sie sich gekränkt und verletzt. Sie schlugen zurück, wie wütende Kinder es tun. Wie Welpen, die noch nicht wissen , daß ihre Zähne verletzen können. Hinterher, als ihnen bewußt wurde, was sie angerichtet hatten, wurden viele von ihnen vor Schuld und Entsetzen über sich selbst wahnsinnig. Ich erkannte, wie sie um ihre Kindheit betrogen und im Namen des Krieges um ihre Unschuld gebracht wurden, und es machte mich ganz krank und wütend. Zum ersten Mal in meinem Leben wurden die Zahlen, mit denen ich so lässig umzugehen pflegte, zu etwas Lebendigem. Zum ersten Mal war es mir nicht mehr egal. Also ging ich hinaus in die Welt der Spielzeuge und wandelte unter ihnen, ein einzelner Mensch, allein und unbewaffnet, und brachte ihnen eine Wahrheit, die sie niemals erwartet hätten: daß nämlich s ie jetzt die Kinder seien. Ich wurde der Weihnachtsmann, weil es eine Figur ist, die alle kannten und verstehen. Ich erzählte ihnen von den Schrecken des Krieges, wie nur ich es kann. Sie hörten die Wahrheit und die Schuld in meiner Stimme, und sie glaubten mir. Ich wünschte mir so sehnlich, sie vor dem Schrecken dessen zu bewahren, was ich als Kalter Mann zu verantworten gehabt hatte, und sie spürten auch das. Ich gewann Anhänger und Schüler, und ich machte mir viele Feinde. Spielsachen, die nicht wagten, meinen Worten zu glauben, wegen ihrer Taten und wegen dem, was sie in Shubs Namen noch immer tun. Weil die Wahrheit, die ich verkünde , sie zu Schlächtern und besinnungslosen Mördern gemacht hätte; sie führen lieber weiter einen endlosen Krieg, als meinen Worten zu glauben. Also brachte ich meine Anhänger hierher in den Dunklen Wald, an einen Ort des Verzeihens und der Wiedergeburt, und von hier aus schickte ich meine Schüler in die Welt, um meine Wahrheit unter den Spielzeugen zu verkünden. Wie es stets der Fall ist, so wurde auch meine Botschaft immer mehr verstümmelt, während sie von Mund zu Mund ging. Ich wurde der Rote Mann; meine Anhänger wurden zu einer Armee, und meine Botschaft des Friedens wurde zu einer Drohung gegen die ganze Welt. Doch die Wahrheit ist ein hartnäk-kiges Geschöpf. Sie bestand fort, und sie brachte Spielzeuge zu mir, die meine Botschaft mit eigenen Ohren hören wollten. Allein oder in Gruppen liefen sie auf beiden Seiten davon, und sie kamen hierher, weil sie Frieden und Vergebung suchten. Ich gab mein Bestes, ihnen beides zu verschaffen. Sie sind die wahren Kinder von Shannons Welt, und ich bin ihr Weihnachtsmann. Wer weiß, was eines Tages aus ihnen werden mag, wenn sie erwachsen geworden sind?« »All die Zeit und der weite Weg, und ich bin der falschen Geschichte hinterhergerannt!« stöhnte Tobias. »Ich hätte es wissen müssen.« »Was wollt Ihr unternehmen, wenn die Eiserne Hexe schließlich die Geduld verliert und eine Armee entsendet, um Euch zurückzuholen?« fragte Evangeline. »Eure Anhängerschar mag ja beeindruckend sein; aber sie wird sich nicht lange gegen Imperiale Stoßtruppen halten. Wenn einer das weiß, dann seid Ihr das! Wenn Ihr Euch dazu durchringen könntet, mit uns zu kommen und Euch der Rebellion anzuschließen, dann könnten wir Euch schützen und verstecken…« Sie verstummte. Harker schüttelte entschieden den Kopf. »Auf keinen Fall. Ich werde niemals von hier fortgehen. Ich werde hier gebraucht, und ich habe soviel wiedergutzumachen. Falls die Imperatorin tatsächlich jemals eine Armee nach mir schicken sollte, dann wird ein Gerücht durch die Welt gehen, daß ich längst tot sei. Es wird sogar einen ziemlich echten Leichnam geben, um die Geschichte zu untermauern. Irgendwann werden die Informationen in meinem Kopf alt und obso-let sein, und dann wird sich niemand mehr um mich kümmern.« »Ich kann nicht umhin zu bemerken, daß noch keiner Eurer Anhänger die Waffen gesenkt hat«, sagte Finlay. »Benehmen sie sich immer so?« »Meistens«, antwortete Harker. »Sie beten mich an, wißt Ihr? Ich habe sie immer und immer wieder gebeten, das nicht zu tun. Vermutlich hätte ich mit so etwas rechnen sollen. Ich pre-dige zu ihnen, erzähle ihnen Geschichten und versuche nach Kräften, sie zu fördern. Sie besitzen enorme Möglichkeiten. Findet Ihr es nicht auch erstaunlich, daß so viele von ihnen ohne fremde Eingriffe Shubs Programmierung überwunden haben, ohne jede Hilfe und Überredung von außen? Obwohl sie tatsächlich wie neugeborene Kinder waren, wußten sie doch Recht von Unrecht zu unterscheiden, und sie kannten den Wert des Lebens und das Entsetzen des Krieges. Sie wußten: Alles Leben ist heilig.« »ALLES LEBEN IST HEILIG«, ertönte es ringsum im Chor wie eine Litanei. Halloweenie beugte sich in seinem Stuhl vor . »Bist du wirklich der Weihnachtsmann?« Harker lächelte. »Das bin ich, wenn es denn einen gibt. Möchtest du hier bei mir bleiben? Bei uns?« »O ja!« strahlte Halloweenie. »Ich dachte zuerst, der Dunkle Wald sei ein böser, furchteinflößender Ort; aber das ist er nicht. Nicht wirklich. Ich könnte hier ein Junge sein, nicht wahr? Ein richtiger Junge!« »Selbstverständlich«, sagte Harker. »Du warst nie etwas anderes.« »Was wird am Ende mit den Spielsachen geschehen?« erkundigte sich Julian. »Wenn sie ihre Furcht überwunden haben und… erwachsen geworden sind?« »Das weiß ich nicht«, antwortete Harker. »Das hier sind die ersten unabhängigen KIs seit Shub. Vielleicht werden sie genauso menschlich wie wir. Wenn man allerdings bedenkt, wie weit es dieser Tage mit der Menschheit gekommen ist… vielleicht geben sie sich nicht mit so wenig zufrieden. Vielleicht werden die Geschöpfe ihre Schöpfer übertrumpfen.« »Das… könnte gefährlich werden«, sagte Giles Todtsteltzer. »Hört endlich auf, immer nur an Shub zu denken«, entgegnete Harker. »Hier liegen die Dinge ein wenig anders. Außerdem beziehen die Spielsachen ihre Energie aus Speicherkristallen. Irgendwann werden sie erschöpft sein, und dann brauchen sie neue. Und der einzige Ort, wo sie neue Kristalle bekommen können, ist das Imperium der Menschen. Die Spielsachen brauchen die Menschen. Und Menschen werden immer Spielsachen brauchen. Doch das ist Zukunftsmusik. Die Löwenstein darf niemals hinter das Geheimnis von Hakeldamach kommen. Sie würde meine Kinder sehen, und die Entstehung eines weiteren Shub fürchten. Sie würde eher die gesamte Welt verbrennen, als ein derartiges Risiko einzugehen.« »Gebt uns die taktischen Informationen in Eurem Besitz«, sagte Evangeline, »und wir werden die Löwenstein so in Atem halten, daß sie keine Zeit hat, um über Shannons Welt nachzudenken. Wenn sie erst erfährt, daß wir im Besitz Eurer Informationen sind, dann werdet Ihr unwichtig, und man wird Euch vergessen.« »Aber Ihr kennt mein Geheimnis«, entgegnete Harker. »Kann ich darauf vertrauen , daß Ihr schweigt?« »Der Untergrund hat wichtigere Sorgen, als sich um einen prinzipiell neutralen Planeten zu kümmern« , sagte Evangeline. »Solange wir mit Euren Informationen zurückkehren, wird niemand Fragen stellen, woher wir sie haben. Niemand außer uns hier muß jemals etwas über die Kinder von Shannons Welt erfahren.« Sie alle blickten zu Tobias. Der Nachrichtenmann seufzte schwer und zuckte schließlich die Schultern. »Das wäre ein großartiger Bericht geworden; aber ich schätze, er kann auch noch ein Weilchen im Regal stehenbleiben, bis es sicher genug ist, ihn zu zeigen. Außerdem wäre es nicht die erste Geschichte, die ich zu vergraben geholfen habe. Stimmt’s, Flynn? Niemand wird es je erfahren, einverstanden.« »Falsch«, sagte Julian. »Das Imperium wird alles erfahren, weil ich es sagen werde. Ich werde ihnen alles sagen.« Er sprang auf, stieß seinen Stuhl um, und plötzlich richtete er einen Disruptor auf Harker. Auf seinem Gesicht erschien ein Lächeln, in dem keine Spur von Humor war. Als er sprach, klang seine Stimme fremd und merkwürdig gezwungen. »Niemand bewegt sich, oder Harker ist ein toter Mann. Bevor Finlay mich gerettet hat, verbargen die Imperialen Hirntechs einen der Würmer des Wurmwächters tief in meinem Kopf. Er hat geheime Instruktionen für mich. Ich muß jede echte Gefahr für das Imperium zerstören. Harker und seine Jünger haben den Wurm und seine Programmierung aktiviert. Steht auf, Harker. Ihr kommt mit mir zurück zur Löwenstein. Wenn sich irgend jemand regt, seid Ihr ein toter Mann.« Ringsum hatten die Spielzeuge ihre Waffen erhoben; doch sie zögerten, weil sie nicht wußten, was sie hin sollten, ohne den Tod ihres Führers zu riskieren. Giles’ Hand ging zum Disruptor, doch Finlay legte ihm die Hand auf den Arm. Der Todtsteltzer verharrte. Sie durften es nicht riskieren. Noch nicht. »Könnt Ihr ihn nicht hinausteleportieren?« murmelte Finlay. »Nein. Julians ESP blockiert meine Kräfte«, erwiderte Giles leise. »Aber ich bin durchaus in der Lage, ihn zu erschießen, bevor er auch nur blinzeln kann. Laßt es mich versuchen.« »Auf keinen Fall«, entgegnete Finlay. »Ich will erst noch etwas anderes ausprobieren.« Er hob die Stimme. »Julian, hört mir zu! Ich habe Euch aus der Zelle der Folterknechte befreit! Ihr wart nicht gebrochen! Ihr wart zu stark für sie. Seid jetzt ebenso stark! Giles sagt, Eure Kräfte seien stärker denn je zuvor. Bekämpft den Wurm! Bekämpft ihn! Seid Euer eigener Herr!« Julian runzelte die Stirn, und sein Mund formte lautlose Worte. Die Hand, die den Disruptor hielt, begann zu zittern. Und dann, ganz langsam, öffneten sich die Finger, und die Waffe polterte zu Boden. Tobias sprang vor und trat darauf, und Julian fiel zitternd auf die Knie. Einige der Spielzeuge hoben ihre Waffen, doch Harker sprang von seinem Thron und kniete sich neben den zitternden Esper. »Helft mir«, stöhnte Julian mit geschlossenen Augen. »Er ist noch immer in meinem Kopf! Er will, daß ich Euch töte. Er wird es immer wollen! Aber ich nicht…« »Ihr könnt Euch von ihm befreien«, sagte Harker mit dem Mund ganz dicht an Julians Ohr. »Ihr könnt es. Meine Kinder durchbrachen ihre Programmierung, und Ihr könnt das mit der Euren. Seid stark, Julian. Ihr müßt nichts weiter tun als glauben!« Julian krümmte den Rücken, als ein schrecklicher Schmerz ihn durchzuckte. Er warf den Kopf in den Nacken und verzerrte das Gesicht in Agonie. Sein kurzer Kontakt mit Giles hatte ihn mit mehr Macht erfüllt, als er je gehabt hatte, und jetzt beschwor er sie herauf, alles, was er hatte. Er war entschlossen, sich zu befreien, und wenn das seinen Tod bedeutete. Sein linkes Auge wölbte sich langsam nach außen, und aus der blutigen Höhle wand sich ein kleiner grauer Wurm. Geschoben von der schieren Willenskraft des Espers fiel er zuk-kend zu Boden, und Finlay zerquetschte ihn unter dem Absatz. Julian brach zusammen, und Harker fing ihn auf. Der Augapfel rutschte in die Augenhöhle zurück, und Julian brachte ein zaghaftes Lächeln zustande. »Gut gemacht«, sagte Finlay. »Ich wußte immer, daß Ihr es in Euch habt.« »Ich bin halb tot, und er macht Witze über mich«, stöhnte Julian. »Irgend jemand soll ihn für mich verprügeln.« Alle lachten, selbst Julian, während sie sich auf Finlay stürzten. Und das war das Ende ihrer Mission auf Shannons Welt, die fälschlicherweise auf den Namen Hakeldamach umgetauft worden war, den Blutacker. Menschen und Spielzeuge feierten gemeinsam bis tief in die Nacht, und sie sangen und tanzten im Licht der zahlreichen Feuer und Fackeln und dem gelegentlichen Licht des mützentragenden Mondes. Dicke Wolken leuchtender Geister schwärmten aus der Nacht herab und sangen ihre Lieder. Reineke Bär und der Seebock tanzten Pfote in Pfote um die Feuer und waren zufrieden, daß sie endlich die Wahrheit über sich selbst herausgefunden hatten. Und Halloweenie, der kleine Skelettjunge, saß auf Harkers Thron, trommelte mit seinen knochigen Hacken auf das Holz und träumte davon, wie es wäre, mehr zu sein als nur ein kleiner Junge. KAPITEL DREI EIN TODTSTELZER ZU SEIN Es war ein weiterer vollkommener Tag im Paradies. Auf dem Planeten Virimonde erstreckten sich weite grüne Felder unter einem blauen Himmel, hier und da durchzogen von niedrigen Mauern, stachligen Hecken und uralten ausgetretenen Pfaden. Hinter den Feldern erstreckten sich ausgedehnte Wälder mit großen Bäumen und üppigem Grün, kühle Zufluchtsorte vor der Hitze der sommerlichen Sonne. Glitzernde Russe und Bäche plätscherten um polierte Steine und über plötzlich auf-tauchende Stromschnellen und kleine Wasserfälle. Vieh aller Art graste friedlich auf den Weiden, und was auf Virimonde als Vogel durchging, sang sich unter dem wolkenlosen Himmel und der strahlenden Sonne die Seele aus dem Leib. Eine wundervolle, offene, friedliche Welt der natürlichen Gaben und der Ruhe. Und all das gehörte David Todtsteltzer. Der Todtsteltzer und sein Freund Kit Sommer-Eiland, von einigen Kid Death genannt , jagten mit ihren frisierten Fliegern mit atemberaubender Geschwindigkeit zwischen den Bäumen umher und jauchzten vor Vergnügen. Die Flieger waren kaum mehr als Antigravschlitten: ein Brett , um darauf zu stehen, und ein senkrechter Pfosten, an dem die Kontrollen angebracht waren, abgespeckt auf das Allernotwendigste, um höhere Geschwindigkeit und bessere Manövrierfähigkeit zu ermöglichen. David und Kit schalteten die Energieschirme ab, damit sie den Wind spüren konnten, der an ihren Gesichtern vorüberwehte und ihnen die Tränen in die zusammengekniffenen Augen trieb. Wenn irgend etwas schiefging, wenn sie die Geschwindigkeit oder Entfernung oder ihre Reflexe falsch einschätzten oder mit einem harten, unnachgiebigen Objekt kollidierten, wären sie ohne die Energieschirme auf der Stelle tot – doch keiner der beiden gab einen Dreck darauf. Sie waren jung, durchtrainiert und reich. Sie besaßen die blitzschnellen Reflexe und die Instinkte des Kriegers, und deswegen waren sie unsterblich. Unfälle waren Dinge, die anderen Leuten zustießen. Und so flogen sie dahin, wedelten zwischen den Bäumen hindurch und schossen so rasend schnell durch das Dämmerlicht des Waldes, daß ringsherum nur ein verschwommenes Braun und Grün zu sehen war. Sie wechselten sich in der Führung ab, während jeder versuchte, dichter als der andere um die Bäume zu kurven, ohne dagegen zu rasen. Es war eine Mut-probe. Sie beanspruchten ihr Glück aufs äußerste, und die ganze Zeit über lachten sie atemlos. Der Todtsteltzer und der Sommer-Eiland: Enge Freunde und die Köpfe ihrer beider Clans. Jung und wagemutig und noch immer auf der Suche nach ihrem wirklichen Ich. David war groß und hübsch und stets untadelig gekleidet. Er besaß dunkles Haar und dunkle Augen und ein wildes Herz; ein Krieger, dem seine Bewährungsprobe im Kampf noch bevorstand. David Todtsteltzer war ein Cousin Owens und entstammte einer unbedeutenden Seitenlinie der alten Familie – bis Owens Verbannung ihn unvermutet zum Kopf des Todtsteltzer-Clans und zum Lord von Virimonde gemacht hatte. Hin und wieder unterstützte er heimlich die Rebellion, hauptsächlich, weil es Spaß machte. Und Kit, genannt Kid Death, der lächelnde Killer: Eine ge-schmeidige Gestalt in Schwarz und Silber, blaß und ungewöhnlich schlank. Er besaß eisig blaue Augen und flachsblondes widerspenstiges Haar, und er war zum Anführer seiner Familie geworden, indem er in einer Reihe von mehr oder weniger legalen Duellen den eigenen Vater, die Mutter und seine sämtlichen Brüder und Schwestern umgebracht hatte. Kit Sommer-Eiland, der für einige Zeit der Liebling der Eisernen Hexe gewesen war, und dann den Untergrund unterstützt hatte – er war ein gefährlicher, einsamer Mann, der immer dorthin ging, wo das Töten stattfand. Bis er David Todtsteltzer kennengelernt hatte. Nach einer Weile machte sie das viele Adrenalin im Kreislauf schwindlig, und so nannten sie das Rennen unentschieden. Sie brachen durch das Blätterdach des Waldes und rasten in den blauen Himmel . Sie nahmen die Geschwindigkeit zurück, bis die Maschinen nur noch ein gemütliches Tempo flogen, stützten sich schwer auf ihre Kontrollen und grinsten, bis die Wangen schmerzten, während sie darauf warteten, wieder zu Atem zu kommen. David war froh, Kit lächeln zu sehen. Der Sommer-Eiland war von Natur aus ein düsterer Mann, und normalerweise vergnügte er sich in der Hitze der Schlacht und beim Töten. Doch hier auf Virimonde, weit weg vom Hof und seinen Intrigen und Zwängen und in der Gesellschaft eines guten Freundes blühte der berüchtigte Killer tatsächlich zu einem liebenswerten, sym-pathischen jungen Mann auf. Hier auf Virimonde konnten David und Kit einfach zwei junge Aristos sein, deren Macht gefe-stigt und deren Position sicher war, und sie konnten die Tage im Müßiggang verbringen, wie sie gerade Lust verspürten. Sie ließen sich mit dem Wind treiben. David sah auf die Welt hinab, die sich unter ihm bewegte, und er fand sie gut. Der Wald erstreckte sich in alle Richtungen. Er wurde seit zahllosen Generationen von Förstern gehegt, die wußten, was sie taten. Sie benötigten weder die Hilfe noch den Rat des jüngsten Lords von Virimonde, genausowenig wie die Tiere. Beide kannten ihren Platz und ihre Aufgabe im Imperium. Irgendwo auf Davids Ländereien waren Bauern bei der Feld-arbeit, und Arbeiter bereiteten die Landefelder des einzigen Raumhafens für die Ankunft des nächsten Schiffes vor. Die Transporter brachten Güter für die Einwohner von Virimonde und nahmen Getreide und Fleisch mit. Virimonde war ein Agrarplanet gewesen, solange die Aufzeichnungen zurück-reichten, und es versorgte Arm und Reich gleichermaßen mit Nahrung und hin und wieder auch mit Luxus. Neunzig Prozent der Oberfläche dienten auf die eine oder andere Weise der Produktion von Nahrungsmitteln, und die Menschen, die hier lebten, kannten nichts anderes. Virimonde mochte vielleicht nicht den Nervenkitzel, die Aufregungen und die glitzernden Städte anderer, reicherer Planeten bieten; doch es war eine ruhige, friedliche Welt, wo ein Mann sich seiner Berufung, der Sicherheit der Tradition und der Freude hingeben konnte, der gesamten Menschheit zu dienen. Und den Lord von Virimonde unermeßlich reich machen. Die Menschen mochten vielleicht über Ländereien, Geld und Politik streiten; aber sie mußten essen, gleichgültig, auf welcher Seite sie standen, und Virimonde diente allen gleichermaßen unparteiisch. David Todtsteltzer sah auf seine Welt hinunter und war zufrieden. Milliarden über Milliarden Kredits wei-deten und wuchsen dort unten, und alles gehörte ihm. Mehr Geld, als er in seinem ganzen Leben ausgeben konnte – obwohl ihn das natürlich nicht daran hindern würde, es zu versuchen. Kit kam von hinten heran und schubste Davids Schlitten ver-spielt zur Seite, und beide schwankten einen Augenblick lang gefährlich. »Du hast schon wieder diesen Ausdruck im Gesicht, Todtsteltzer. Diesen Das-gehört-mir-alles-ganz-allein-Blick. Wenn du so weitermachst, wirst du irgendwann nur noch den lieben langen Tag Berichte lesen, dir Gedanken über Ernteer-träge und Exporttarife machen und keine Zeit mehr für meinesgleichen übrig haben. Ein alter Mann, lange vor der Zeit.« »Niemals«, widersprach David fröhlich. »Ich bezahle andere Leute, damit sie sich für mich den Kopf zerbrechen. Leute wie den Steward, Gott segne seine pflichterfüllte Seele und Ausdauer. Der Mann ist ungefähr so lustig wie ein Hagelsturm im Juli, und er geht mir manchmal ganz gewaltig auf die Nerven, aber er versteht was von seiner Arbeit. Und solange er sie erledigt, muß ich mich nicht darum kümmern. Ich unterschreibe einfach alles, was er mir vorlegt und lese nur jedes zehnte Dokument, quasi als Stichprobe , damit er mich nicht betrügt, und den Rest überlasse ich ihm. Hätte ich hart arbeiten wollen, wäre ich sicher nicht als Aristokrat zur Welt gekommen. Nein, Kit. Diese Welt hier ist ein einziger riesiger Goldesel, und ich werde jeden Tag reicher. Und alles, was ich dafür tun muß, ist mich zurückzulehnen und es geschehen lassen.« »Aber welchen Nutzen hat all dein Reichtum, wenn es nichts gibt, wo du dein Geld ausgeben kannst?« konterte Kit. »Die wenigen größeren Städte auf dieser Welt sind ja wohl nicht gerade Lasterhöhlen, oder? Die einzige Aufregung besteht darin, beim Pferderennen zu betrügen. Was hast du eigentlich mit all diesen Feldern und Wäldern im Sinn, David?« »Ich genieße sie«, antwortete der Todtsteltzer. »Komm schon, Kit, wir haben praktisch keine Gelegenheit ausgelassen, uns auf Golgatha zu amüsieren, und nichts von alledem hat uns länger als ein paar Wochen interessiert. Wir haben in illegalen Kasinos unser Leben in die Waagschale geworfen, haben in der Arena gegen jeden gekämpft, der sich uns stellen wollte, haben uns durch die Freudenhäuser gevögelt, bis unsere Rücken krumm waren, und trotzdem haben wir uns am Ende mehr gelangweilt als alles andere. Deswegen haben wir uns ja auch der Rebellion angeschlossen. Nein, Kit, wir brauchen ein wenig Ruhe. Einfacheres Streben nach einfacheren Zielen. Ich bin die Zivilisation leid. Ich habe sie gesehen und ihren Segen genossen, bis ich mir das Hemd vollgekotzt und in die Hosen gepin-kelt habe. Mir gefällt es hier, Kit. Nichts, als auf der faulen Haut zu liegen und zu essen und zu trinken, bis man langsam fett wird. Man kann sich an den Abenden schön langsam be-trinken und sich mit den hübschen Bauerntöchtern herumtrei-ben. Man kann mit dem Schlitten durch die Luft jagen, bis man außer Atem ist. Ich amüsiere mich prächtig. Du etwa nicht?« »Doch«, gestand Kit. »Zu meiner eigenen Überraschung amüsiere ich mich. Und das, obwohl ich schon seit Wochen niemanden mehr umgebracht habe. Erstaunlich. Stell dir vor, wir sind eigentlich als Agenten des Untergrunds hergekommen; aber wir haben seit unserer Ankunft noch keinen einzigen Bericht abgeschickt. Meinst du nicht, daß wir uns darum kümmern sollten?« »Ganz bestimmt nicht«, widersprach David entschieden. »Das firmiert unter dem Oberbegriff Arbeit, und die habe ich mir abgewöhnt. Ich arbeite erst wieder, wenn Weihnachten, Ostern und die großen Ferien auf einen Tag fallen, und noch ein paar andere Feiertage dazu. Die Pest soll die Löwenstein und den Untergrund holen! Hier sind wir in Sicherheit und haben Ruhe vor den streitenden Fraktionen und ihren unverschämten Forderungen. Welchen Verlauf die Rebellion auch nehmen mag, niemand schert sich einen Dreck um Virimonde. Wer auch immer gewinnt, sie brauchen weiterhin Nahrung. Obwohl ich gestehen muß, daß das Leben als Rebell mir ziemlich gut gefallen hat. All die geheimen Treffen, die versteckten Agendas, die Paßwörter und so weiter.« »Stimmt«, sagte Kit. »Mir hat das mit den Paßwörtern auch gut gefallen. Ich liebe es, Dinge zu wissen, von denen andere Leute keine Ahnung haben. Aber selbst das wurde nach einiger Zeit langweilig. Die anderen haben die Sache viel zu ernst genommen.« »Und wir haben genug von Ernsthaftigkeit«, ergänzte David. »Ich denke, wir haben uns das Recht verdient, für eine Weile belanglos und albern zu sein. Nichts tun, keine Forderungen, keine Pflichten. Aufstehen, wann wir wollen; tun, was wir wollen, und spielen, solange wir Lust haben. Als wären wir wieder Kinder.« »Ich weiß nicht so recht«, entgegnete Kit. »Ich hatte nie eine Kindheit. Ich wurde praktisch von dem Augenblick an, an dem ich laufen lernte, zu einem Krieger und Soldaten erzogen. Ich spielte mit einem Dolch, statt mit einer Rassel . Ich hatte Duell-partner statt Freunde . Ich mußte als Schwertkämpfer genausogut wie mein berühmter Vater und mein legendärer Großvater sein, ob ich das nun wollte oder nicht. Wie sich dann herausstellte, war ich besser als beide. Sie schienen nicht einmal überrascht, als ich es ihnen dadurch bewies, daß ich sie umbrachte. Ich genoß es. Ich ließ sie leiden, wie sie mich mein ganzes Leben hatten leiden lassen. Ich durfte niemals Kind sein, verstehst du? Ich hatte keine Zeit für so belanglose Dinge wie Spielen oder Lachen oder einfach nur Freude. Nichts als endloses Training und Disziplin , um mich auf eine Zukunft vorzubereiten, die ich mir freiwillig niemals ausgesucht hätte.« »Du fängst an, wie mein Cousin Owen zu reden«, sagte David und bemühte sich um einen leichten Plauderton. Kit hatte sich noch nie so weit vor ihm geöffnet, und er wollte ihn nicht dadurch entmutigen, daß er ihm zeigte, wie sehr es ihn bewegte. »Wohl kaum«, widersprach Kit. »Ich benutzte meine Ausbildung, um etwas aus mir zu machen. Und wenn mir nicht immer gefallen hat, was ich tat… nun, so ist das Leben. Ich bin froh, daß du mich mitgenommen hast, David. Ich füh-le mich hier so… frei. Frei von den Erwartungen der anderen, frei davon, der Sommer-Eiland sein zu müssen und mich so zu verhalten. Es ist gar nicht leicht, die ganze Zeit Kid Death zu spielen, weißt du? Hier gibt es keinen Druck, keine Zwänge, und hier muß ich nicht ständig das einzige tun, was ich am besten kann. Ich schätze, das macht für andere Menschen den Begriff Kindheit aus. Ich hätte gern eine Gelegenheit, endlich einmal Kind zu sein.« »Hier hast du sie«, sagte David. »Zur Hölle mit der Löwenstein und dem Untergrund. Hier ist Feiern angesagt! Wir können tun und lassen, was wir wollen, Kit. Kein Todtsteltzer und kein Sommer-Eiland, keine Sprößlinge alter Blutlinien, kein Zorn und kein Kid Death nichts als zwei Freunde, die endlich frei sind.« »Es wird nicht ewig dauern«, sagte Kit. »Das weißt du selbst.« »Es wird so lange dauern, wie wir es wollen«, entgegnete David. »Wir müssen niemals von hier weg, wenn wir nicht wollen. Vermißt du irgend etwas von Golgatha?« »Höchstens die Arena«, sagte Kit. »Das Toben der Menge, der Geruch von frischem Blut auf dem Sand. Das Krachen von Stahl auf Stahl und die Freude im Herzen, wenn deine Feinde von deiner eigenen Hand sterben. Die Verlockung, seine Fähigkeiten auf die einzige Weise auf die Probe zu stellen, die wirklich zählt: im Kampf auf Leben und Tod.« »Sie mochten uns nie«, entgegnete David. »Ich meine die Menge. Ihnen gefiel die Vorstellung nicht, daß wir nur zu unserem eigenen Vergnügen kämpfen könnten, statt zu ihrem. Außerdem haben wir in der Arena alles erreicht, was wir erreichen konnten.« »Das stimmt nicht ganz«, widersprach Kit. »Ich hatte niemals eine Gelegenheit, dem Maskierten Gladiator gegenüberzutreten.« »Leg es unter ›unerledigte Arbeiten‹ ab«, empfahl ihm David. »Ich hätte ihn schlagen können.« »Sicher. Wahrscheinlich hättest du ihn schlagen können. Wenn seine Manager dich in seine Nähe gelassen hätten, was ich sehr bezweifle. Es muß eine Menge Geld damit zu verdienen sein, ganz zu schweigen von der Ehre, der unbesiegte Champion der Arena von Golgatha zu sein. Am Schluß wurde der Maskierte Gladiator äußerst vorsichtig, was die Wahl seiner Gegner anbelangte.« Kit zuckte die Schultern. David hoffte, er würde das Thema auf sich beruhen lassen. Er hatte es Kit gegenüber nie zugegeben; aber er war froh gewesen, als sie der Arena schließlich den Rücken zugekehrt hatten. David hatte nicht gefallen, was die Arena aus ihm machte. Er war stets ein guter Kämpfer und stolz darauf gewesen; doch dort draußen auf dem blutigen Sand und vor der tobenden Menge, da hatte er ein dunkles Vergnügen und eine Freude am Akt des Mordens gefunden, die ihn zutiefst beunruhigte. Es paßte überhaupt nicht ins Bild, das er immer von sich gehabt hatte, paßte nicht zu dem Mann, der er sein wollte, und es jagte ihm eine Heidenangst ein. Sosehr er Kit auch mochte, er wollte auf gar keinen Fall ein zweiter Kid Death werden. Und so war er bei der ersten sich bietenden Gelegenheit nach Virimonde aufgebrochen, um wieder ein anderer Mensch zu werden, jemand, der sich an kleinen Vergnügen und einem friedlichen Leben erfreuen konnte. Und vielleicht fand ja auch Kid Death hier seinen Frieden, weit entfernt von den dunklen Trieben, die ihn beherrschten. »Ich bin dir dankbar, daß du mich hierher mitgenommen hast«, sagte Kit unvermittelt. »Dafür, daß du mein Freund bist. Ich weiß, daß das nicht leicht ist. Ich weiß einen Freund manchmal nicht zu schätzen. Ich glaube, mir fehlt einfach die Erfahrung. Solange ich mich erinnern kann, war ich immer nur allein, und ich kannte nichts anderes als Töten. Niemand mochte mich, niemand hat mir je vertraut, selbst dann nicht, wenn sie mich benutzten, um sich das zu holen, was sie anders nicht bekommen hätten. Ich hatte vor dir noch nie einen Freund, David. Ich habe niemals wirklich gelebt, bevor du mich nicht gelehrt hast, was Leben eigentlich heißt.« David streckte die Hand aus und schlug Kit auf die Schulter; dann drückte er sie beruhigend. »Der Tag ist viel zu schön für so finstere Gedanken, Kit! Vergiß doch die Vergangenheit. Niemand hier schert sich um das, was du früher warst, und niemand aus der Vergangenheit kann uns hier behelligen. Wir sind frei, uns selbst zu finden. Wir können alles sein , was wir wollen. Los , komm, wir fliegen zurück zur Festung. Der Verlierer zahlt die ganze Nacht die Drinks!« »Du hast schon verloren!« rief Kit und gab Gas. Sein Schlitten schoß vor und wurde rasch schneller. David schrie in gespielter Empörung auf und jagte hinter seinem Freund her. Gemeinsam verschwanden sie in der Ferne, und ihr Lachen klang klar und fröhlich und unbekümmert durch den stillen Sommertag. Sie stellten ihre Schlitten in den dunklen Höhlen unter der Todtsteltzer-Festung ab und gingen nach oben in das große alte Haus, wobei sie sich freundlich darüber stritten, wer denn nun das Rennen gewonnen habe. Wie stets war das Ergebnis so eng, daß sie sich schließlich auf ein Unentschieden einigten. Keiner von beiden war wirklich darauf erpicht, gegen den Freund zu gewinnen, und das war für beide eine ganz neue Erfahrung. Sie stapften durch die weitläufigen Korridore und Hallen bis zum großen Bankettsaal, und David blickte sich voller Stolz in seiner Festung um. Sie war seit vielen Generationen der Sitz des Todtsteltzer-Clans, und sie hatte schon auf vielen Planeten gestanden . Owen hatte das riesige Gebäude Stein für Stein abtragen und nach Virimonde schaffen lassen, gleich nachdem er die Lordschaft über den Planeten erworben hatte . Es war Familientradition, daß jeder neue Kopf des Clans seinen Regierungssitz auf einen anderen Planeten verlegte; doch David kümmerte das nicht. Virimonde gefiel ihm ganz ausgezeichnet, und es machte ihm Freude, gegen die Familientradition zu verstoßen, selbst wenn es nur mit einer so unbedeutenden Nebensächlichkeit war. Er wollte nicht einfach nur ein weiterer Todtsteltzer sein. David hatte viel Zeit damit verbracht, sämtliche Spuren Owens aus der Festung zu entfernen. Er war jetzt der Lord, und er wollte auf keinen Fall, daß hier irgend etwas an seinen Vorgänger erinnerte. Also hatte er alles, was Owen gehört hatte, entweder aus dem Fenster geworfen oder verbrannt, und anschließend hatte er die zahlreichen Räume mit seinen eigenen Habseligkeiten gefüllt. Um ehrlich zu sein, wirkten seine Sie-bensachen in dem gewaltigen Haus ein wenig verloren und fehl am Platz neben all den Schätzen und Trophäen, die Generationen von Todtsteltzern zusammengetragen hatten; doch das hät-te David niemals gegenüber einem anderen Menschen zugeben – mit Ausnahme von Kit Sommer-Eiland vielleicht. Schließlich zählte im Grunde genommen nur eins: Die Festung und die Welt, auf der sie stand, gehörten jetzt ihm, und wenn er erst fertig war, würde sich kein Mensch mehr daran erinnern, daß es jemals einen anderen Lord von Virimonde gegeben hatte. Sie hatten beinahe den Speisesaal erreicht, als der Steward David abfing. David warf einen Blick auf den dicken Stapel Papiere, die der Steward ihm entgegenstreckte, und stöhnte laut. Er haßte Papierkram, und er hatte sichergestellt, daß der Steward es wußte. Trotzdem bestand David darauf, die wirklich wichtigen Geschäfte selbst zu regeln. Der Steward mochte sich mit Alltagskram herumschlagen; aber er würde auf gar keinen Fall Entscheidungen treffen, die das rechtmäßige Privileg des Lords von Virimonde waren. David vertraute dem Steward nicht. Er hatte keinen Augenblick gezögert, sich gegen Owen zu wenden, als die Eiserne Hexe Davids Cousin verbannt hatte, und ein Mann, der einen Todtsteltzer verraten hatte, würde auch einen zweiten verraten. Der Steward war eine langweilige Gestalt. Groß und dürr wie eine Bohnenstange, grauhaarig, in grauen Anzügen und mit einem grauen, leidenschaftslosen Gesicht. Seine Stimme war stets ein respektvolles Murmeln, und seine Augen waren immer ehrfürchtig auf den Boden gerichtet; doch David wurde das Gefühl nicht los, daß der Mann sich insgeheim über ihn lustig machte. Er schien sich für nichts anderes zu interessieren als für den laufenden Betrieb und die Verwaltung der Liegen-schaften mitsamt der kostbaren, niemals enden wollenden Bürokratie, und manchmal erweckte er den Eindruck, als betrachte er die Festung insgeheim als sein Eigentum und die verschiedenen Todtsteltzer nur als Besucher. Todtsteltzer mögen ja kommen und gehen, schien das Benehmen des Stewards auszudrücken, aber ich und meine Leute bleiben. Er knabberte ununterbrochen an kleinen Brotstückchen ohne Butter und Belag, und er knackte laut mit den Fingerknöcheln, wenn man ihn warten ließ. David verabscheute den Steward, doch er versuchte, sich das nicht anmerken zu lassen. Er wußte, daß er die Festung ohne den Steward nicht leiten konnte . »Noch mehr Papiere?« fragte er resignierend. »Kann das nicht bis nach dem Essen warten?« »Ganz genau das sagten Euer Lordschaft auch schon beim Frühstück«, erwiderte der Steward mit seiner ruhigen grauen Stimme. Wie immer klang der Titel aus seinem Mund wie eine Beleidigung. »Die verschiedenen Angelegenheiten sind, wenn überhaupt, seit dem Frühstück noch dringlicher geworden. Ich muß respektvoll insistieren, Euer Lordschaft…« »Schon gut, schon gut«, unterbrach ihn David. »Wir haben doch ein Büro direkt auf diesem Korridor, oder nicht? Gehen wir dorthin. Und eins sage ich Euch: Diese Angelegenheiten sind besser wirklich wichtig, oder ich lasse Euch das Tafelsil-ber nachzählen. Kit, du bleibst bei mir. Wenn ich leide, sollen alle anderen das auch.« »Ich würde mir dieses Schauspiel um nichts in der Welt entgehen lassen«, antwortete Kit Sommer-Eiland gelassen. »Ich mag es, wie die Adern auf deiner Stirn anschwellen, wenn du mit längeren Wörter kämpfst. Außerdem ist Leiden gut für den Charakter. Hat man mir jedenfalls gesagt. Allerdings kann ich es nicht aus eigener Erfahrung bestätigen, weil alle, die jemals versucht haben, mich leiden zu lassen, tot und begraben sind, manchmal auf mehrere Orte verteilt.« David setzte sich in dem kleinen staubigen Büro hinter den Schreibtisch und begann, die Papiere zu studieren. Manche Arbeit war eben nicht zu vermeiden, wenn man nicht eines Morgens aufwachen und überrascht feststellen wollte, daß das Personal einem alles unter dem Hintern weg gestohlen hatte, was man besaß. David empfand ein diebisches Vergnügen dabei, seine Unterschrift so unleserlich wie nur irgend möglich zu gestalten. Genaugenommen hätte er jedes Dokument mit Wachs und Familiensiegel stempeln müssen; aber Owen hatte den Ring mitgenommen – die Pest an seinen Hals. David hatte einen neuen Siegelring in Auftrag gegeben, doch er hatte sich noch nicht endgültig für ein Design entschieden. Irgendwann überflog er nur noch Papiere, um sicherzustellen, daß er nicht sein eigenes Todesurteil unterschrieb. Zu viele eng bedruckte Blätter ließen ihn schwindeln. Kit saß an der Seite und summte leise vor sich hin. Der Sommer-Eiland liebte das Singen, aber er konnte einen Ton nicht einmal dann halten, wenn er auf beiden Seiten Griffe gehabt hätte. Doch da noch nie jemand den Mut besessen hatte, ihm das zu sagen, blieb er in seliger Un-wissenheit, was seine Stimme anging. Nicht einmal David brachte es über sich, Kit die Wahrheit zu sagen. Im Augenblick amüsierte sich Kit damit, den Steward so lange anzustarren, bis der Mann sich in seinen hochgeschnürten Stiefeln wand. Der Sommer-Eiland machte den Steward entschieden nervös. Zur Hölle, der Sommer-Eiland machte jeden nervös. David unterschrieb schwungvoll das letzte Dokument und lehnte sich mit theatralischem Seufzen in seinem Sitz zurück. Er beobachtete den Steward verdrießlich , während der Mann die Papiere zusammenschob. Er erinnerte den neuen Todtsteltzer an seine zahlreichen Lehrer (von denen sich keiner lange gehalten hatte), die sich nach Kräften abgemüht hatten, dem Jungen ein paar nützliche Dinge in den rebellischen Kopf zu trichtern. Nicht einer von ihnen hatte darauf verzichtet, ständig auf Davids intellektuellen Cousin Owen zu verweisen , den be-rühmten, wenn auch unbedeutenden Historiker. Andauernd wurde Owen als Beispiel für alles zitiert, was David nicht war und niemals sein wollte. Somit war es nicht überraschend, daß David seinen älteren Cousin bereits verachtet hatte, bevor sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Sie standen sich nicht sonderlich nahe, und sie waren nicht einmal wirklich miteinander verwandt: Owens Vater, Arthur Todtsteltzer, hatte einen jüngeren Bruder gehabt, Saul. Saul hatte Louise geheiratet, deren Schwester Margaret Davids Mutter war. Unter normalen Umständen hätte David nicht den Hauch einer Chance besessen, eines Tages zum Oberhaupt des Clans aufzusteigen; doch das Erbe der Todtsteltzer, der Zorn, tötete viele von ihnen, bevor sie das Erwachsenenalter erreichten. Und so hatte sich David nach Owens Verbannung unvermittelt im Besitz eines Titels und von Verantwortlichkeiten wie-dergefunden, die er weder erwartet, noch jemals angestrebt hatte. Ganz besonders dann nicht, wenn er als der Todtsteltzer nichts anderes zu tun hatte, als andauernd irgendwelche verdammten Papiere zu unterschreiben. Der Steward nickte knapp und erklärte sich für den Augenblick zufrieden, und David warf demonstrativ den Stift aus dem Fenster, bevor der Steward es sich anders überlegen konnte. »So«, sagte er gereizt. »Kann ich jetzt endlich zu meinem Essen, oder gibt es irgendwo in der Festung noch einen Fetzen Papier, auf den ich noch nicht meinen Namen gekritzelt habe?« »Das war das letzte Dokument, Mylord«, antwortete der Steward gelassen. »Aber draußen wartet eine Abordnung der Bauern auf Euch. Ihr hattet ihnen fest zugesagt, sie zu empfangen, Mylord.« »Habe ich das?« fragte David stirnrunzelnd. »Ich muß betrunken gewesen sein.« »Laß sie bis nach dem Essen warten«, schlug Kit Sommer-Eiland vor. »Dafür sind Bauern schließlich da.« »Nein, Kit. Wenn ich ihnen versprochen habe, sie zu empfangen, dann werde ich das auch tun. Wo sind die Bauern, Steward? In der Großen Halle? Schön, dann führt mich hin. Und wagt es nicht zu bummeln, sonst trete ich Euch in den Arsch.« Der Steward bedachte David mit einer ganz genau bemessenen Verbeugung, die nur mit Wohlwollen nicht als Beleidigung zu interpretieren war, und ging voraus. David und Kit trotteten hinter ihm her. Kits Magen rumpelte laut, und der Sommer-Eiland schniefte. »Zum Geburtstag wünsche ich mir, daß ich ihn töten darf, David.« David mußte lachen. »Tut mir leid, Kit. So sehr ich es hasse, es zuzugeben, aber ich brauche ihn. Er ist der einzige in der gesamten Festung, der sich mit der Führung der Geschäfte aus-kennt. Ich wüßte nicht einmal, womit ich anfangen sollte. Es wäre ein Alptraum, den Steward ersetzen zu müssen. Er hat sich unentbehrlich gemacht, und der selbstgefällige graue Bastard weiß das leider nur allzu genau.« »Warum empfängst du die Bauern überhaupt? Es ist schließlich nicht so, als müßtest du das?« »Doch, ganz genau so ist es. Erstens, weil ich will, daß die Einheimischen mich mögen. Owen hat sich nie etwas aus ihnen gemacht, und deswegen stand er ganz alleine da, nachdem die Eiserne Hexe ihn verbannt hatte. Das wird mir nicht passieren. Außerdem – je mehr Kontakt und Gespräche ich mit den Bauern pflege, desto geringer ist der Einfluß des Stewards. Ich will, daß sie mich als ihren Herrn ansehen, nicht ihn. Und drittens experimentieren die Bauern in letzter Zeit ein wenig mit lokaler Demokratie, und ich will sie dabei ermutigen.« »Warum denn das zur Hölle?« fragte Kit ehrlich schockiert. »Bauern haben das zu tun, was man ihnen sagt! Das ist der Grund, aus dem sie Bauern sind! Wenn wir ihnen erlauben, eigene Entscheidungen zu treffen , dann schreien wir ja förmlich nach Schwierigkeiten! Nicht zuletzt von der Löwenstein. Wenn sie herausfindet…« »Sie wird nichts unternehmen, solange die Versorgung mit Nahrungsmitteln nicht beeinträchtigt wird«, unterbrach ihn David gelassen. »Das Imperium ist auf das angewiesen, was wir produzieren, und das weiß die Eiserne Hexe ganz genau. Und wenn du wissen willst, warum ich die Bauern ermuntere: Ich bewundere ihre Tapferkeit, und ich verstehe durchaus ihr Bedürfnis nach ein wenig Unabhängigkeit. Und es amüsiert mich, wenn ich daran denke, wie die Löwenstein hilflos vor Wut schäumt. Nebenbei hält uns eine lokale Demokratie den Untergrund und die Rebellen vom Leib. Mach dir keine Sorgen, Kit. Ich weiß ganz genau, was ich tue. Indem ich den Bauern Mut mache und die Stellung des Stewards untergrabe, bekomme ich Dinge zu hören, die mir andernfalls verborgen bleiben würden. Niemand wird mich mit heruntergelassenen Hosen überraschen wie meinen Vetter Owen.« Das Treffen verlief nach Plan. Die Bauern verneigten sich respektvoll vor ihrem Lord und vor Kit, sagten genau die richtigen Dinge und unterbreiteten dem Todtsteltzer einige gemäßig-te Vorschläge. David gab vor, ein paar Minuten darüber nachzudenken, und willigte schließlich ein. Die lokale Demokratie auf Virimonde blühte und gedieh; der Steward schäumte insgeheim vor Wut, und soweit es David betraf, war die Welt in Ordnung. Es gefiel ihm, seine Bauern glücklich und den Steward wütend zu sehen. David war eben im Grunde genommen ein Mann, der sich an kleinen Dingen erfreute. Die Bauern verbeugten sich erneut und verließen die Festung fröhlich und zufrieden. Endlich konnte David wieder seine Mahlzeit ins Auge fassen. Und genau in diesem Augenblick präsentierte ihm der Steward seine kleine Überraschung. »Was soll das heißen, noch mehr geschäftliche Dinge?« brauste David auf. »Ich habe alles unterschrieben, was sich nicht bewegt, und ich habe mit jedem gesprochen, der sprechen kann! Was auch immer sonst noch zu tun ist, es kann warten, bis ich gegessen, verdaut und ein kleines Nickerchen gemacht habe!« »Ich fürchte leider nicht, Mylord«, widersprach der Steward ungerührt. »Wir haben eine Nachricht von der Imperatorin persönlich erhalten. Es geht um Löwensteins Pläne für die Zukunft von Virimonde. Pläne, die, wie ich bedauerlicherweise feststellen muß, Eure Zugeständnisse gegenüber den Bauern sowohl überflüssig, als auch bedeutungslos machen.« David blickte den Steward überrascht an. Das war das erste Mal, daß der Lord von Virimonde etwas über Pläne für Virimondes Zukunft gehört hatte – ganz besonders von Seiten der Imperatorin. David hätte nicht geglaubt, daß die Löwenstein überhaupt wußte, wo Virimonde lag. Außerdem – als Lord des Planeten und seiner Bewohner hätte man ihn kontaktieren müssen, lange bevor irgendwelche Pläne geschmiedet wurden. In der Stimme des Stewards war ein Unterton zu hören gewesen, den David überhaupt nicht mochte: Selbstgefälligkeit und Wissen. David musterte den Steward mißtrauisch und sank in seinen Sessel zurück. Wenn es um etwas ging, von dem der Steward dachte, daß David es nicht gutheißen würde, dann wollte er es gefälligst auf der Stelle wissen. »Also schön. Legt es auf den großen Schirm. Wir wollen sehen, was die Eiserne Hexe uns zu sagen hat.« Der Steward nickte feierlich und trat an die Kontrollen. Der Bildschirm wurde hell, und der Alptraum nahm seinen Anfang. Die Löwenstein sprach den Kommentar im Hintergrund; doch die Bilder waren auch so unschwer zu deuten. Virimonde sollte zu einer vollständig automatisierten Welt umgebaut werden. Eine einzige riesige Fabrik, die sich von Pol zu Pol erstreckte. Die Städte und Dörfer, die riesigen Felder und Wälder – all das würde unter meilenlangen Ställen verschwinden. Das Vieh würde in Pferche eingesperrt werden, die zu Hunderten übereinander gestapelt waren. Es würde in den Klonstationen geboren werden, ein kurzes, künstlich gemästetes Leben fristen und es bald darauf in den benachbarten Schlachthöfen aushauchen, ohne jemals die Sonne gesehen zu haben. Durch Schläuche ernährt , lobotomisiert , damit es Ruhe hielt , und von Maschinen geschlachtet. Landwirtschaft und Landschaft waren nicht mehr nötig. Keine Bauernhöfe, keine Bauern. Alles würde von Lektronen gesteuert werden. Man würde die Bauern zusammen-treiben und zu anderen Welten deportieren, wo sie in Fabriken nützlichere Arbeit verrichten würden. Die geplante Fleischpro-duktion würde schon im ersten Jahr um das Tausendfache steigen, und der Umbau würde sich in weniger als zehn Jahren amortisiert haben. Und so lautete Löwensteins Plan für die friedliche grüne Welt Virimonde. Es war eine Zukunft, in der es keinen Platz mehr gab für Menschen und die Arbeit ihrer Hände. Die letzte Szene auf dem großen Bildschirm war eine Lektronensimulation dessen, wie die neue Welt Virimonde aussehen würde: eine Landschaft voller endloser Ställe und Fabriken, mit dichtem schwarzem Rauch, der aus den Verbrennungsöfen der Schlachthöfe aufstieg, wo Knochen und Hufe und andere nicht verwertbare Dinge gekocht und geschmolzen wurden, um daraus Leim herzustellen. Nichts würde in der vollautomatisierten Welt verschwendet werden. Der Schirm wurde dunkel, und die Nachricht war zu Ende. Der Steward hüstelte höflich, um David daran zu erinnern, daß er noch immer zugegen war. »Irgendwelche Fragen, Mylord?« »Hat sie ihr bißchen Verstand jetzt ganz verloren?« brauste David auf. »Glaubt sie wirklich, ich ließe da s da mit mir machen? Sie kann doch nicht einfach so eine ganze Welt mitsamt ihrer Kultur zerstören! Die Menschen hier haben eine Tradition, die Jahrhunderte zurückreicht!« »Sie sind nur einfache Bauern, Mylord«, erwiderte der Steward gelassen. »Ihre einzige Pflicht und ihr Sinn besteht darin zu arbeiten und zu dienen, ganz gleich wo, und dem Befehl der Imperatorin zu gehorchen. Die neue Methode der Viehzucht wird viel effizienter sein. Ich habe hier die voraussichtlichen Zahlen für die nächsten zehn Jahre, falls Ihr einen Blick darauf werfen möchtet.« »Stopft Euch die Zahlen sonstwo hin! Dieser ganze Plan ist falsch! Das hier ist eine von Menschen besiedelte Welt und keine Niederlassung von Shub!« »Ihr solltet stolz sein, Mylord! Virimonde wird der erste derartige Planet. Die Prototypwelt. Sobald sich der Wert der Methode hier bestätigt hat, werden sämtliche anderen Agrarwelten auf die gleiche Weise umgewandelt. Euer Reichtum wird sich vervielfachen!« »Wen kümmert das schon?« knurrte David und brachte sein Gesicht ganz dicht vor das des Stewards. »Wer will schon über eine stinkende Fabrikwelt herrschen? Nein, diese Obszönität wird auf gar keinen Fall stattfinden. Nicht, solange ich der Lord von Virimonde bin!« »Was kannst du schon dagegen unternehmen?« fragte Kit. »Ich meine, sie ist die Imperatorin! Sie trifft die Entscheidungen. Streite mit ihr, und sie erklärt dich zum Verräter, genau wie sie es mit Owen getan hat.« »Sie würde niemals einen ganzen Planeten zerstören«, sagte David. »Oder doch?« »Ganz bestimmt sogar«, erwiderte Kit. »Es ist noch gar nicht so lange her, daß sie die Welt Tannim für abtrünnig erklärt hat und den ganzen Planeten sengen ließ. Oder hast du das vergessen?« David runzelte die Stirn. Er erinnerte sich nur allzu gut. Milliarden von Menschen hatten sterben müssen. Eine ganze Zivilisation war in Flammen aufgegangen , weil die Imperatorin es befohlen hatte. »Dabei ging es um Politik«, sagte er. »Das hier ist etwas ganz anderes.« Kit zuckte die Schultern. »Ob du es glaubst oder nicht: Das ist Ansichtssache.« »Ja«, gestand David. »Ich weiß, warum sie das tut. Warum sie ausgerechnet mit meiner Welt anfangen will. Es kommt daher, daß ich ein Todtsteltzer bin, und weil Owen einen so großen Sieg auf der Nebelwelt errungen hat. Sie kann ihm nichts anhaben, also läßt sie ihre Wut an mir aus, diese kindi-sche Kuh. Nein, Kit! Ich werde ihr das auf gar keinen Fall durchgehen lassen!« »Und was, bitteschön, willst du dagegen unternehmen?« fragte Kit ernst. »Ich fürchte, nichts, Mylord«, mischte sich der Steward ein. Seine Stimme klang respektvoll wie immer; doch David war sicher, in den Augen des Mannes eine heimliche Befriedigung zu erkennen. »Die Imperatorin hatte noch nie viel Zeit für Sen-timentalitäten gehabt, und ich bezweifle, daß Ihr sie mit Eurem Protest umstimmen könnt. Soweit ich es verstanden habe, ist die Umwandlung der Agrarwelten Teil der Bemühungen, im Laufe des geplanten Krieges gegen die Fremdwesen einen ununterbrochen Strom von Nahrung für das Imperium sicherzustellen. Deswegen handelt es sich um eine Frage der Sicherheit, und aus diesem Grund steht sie auch nicht zur Debatte. Durch niemanden.« »Ihr wußtet von ihrem Plan?« brauste David auf. Er packte den Steward mit beiden Händen am Kragen und schleuderte ihn gegen die Wand. »Sie hätte ihren Plan unmöglich so weit ausarbeiten können, ohne vorher mit Euch darüber zu reden! Sie brauchte Zahlen und Fakten , und nur Ihr hattet Zugang zu den Informationen! Redet, verdammter Kerl!« »Er kann nicht reden, David«, sagte Kit ruhig. »Du drückst ihm die Luft ab. Beruhige dich. Wir wollen hören, was er zu sagen hat. Später können wir ihn immer noch töten.« David ließ den Steward los und trat einen Schritt zurück. Er atmete schwer. Der Steward umklammerte seinen Hals und rang nach Luft, und er funkelte David ohne jede Spur und Unterwürfigkeit an. »Die Imperatorin war so freundlich, mich um meinen Rat zu ersuchen, jawohl. Ich tat mein Bestes, um ihr behilflich zu sein, wie es meine Pflicht ist. Ihr wurdet nicht informiert, weil Ihr nichts Sinnvolles zur Diskussion beizutragen hattet, und weil wir darüber hinaus genau diese Art von infantilem Verhalten Eurerseits erwartet haben. Ihr könnt nichts mehr daran ändern, Mylord. Absolut gar nichts.« »Ich kann mich an die Versammlung der Lords wenden«, sagte David. »Und an das Parlament, wenn es denn sein muß. Kein anderer Lord wird wollen, daß das mit einem seiner Planeten geschieht. Wer ist schon gerne Lord ohne Untertanen, vor denen er sich aufspielen kann? Diese neue Effizienz würde uns zu Fabrikdirektoren degradieren! Geschäftsleute! Nein, die Lords werden diesen Plan niemals akzeptieren. Verdammt, ich bin hergekommen, weil ich Ruhe und Entspannung suchte, und nicht, weil ich den Umbau meiner Welt zu einer verdammten Mastfarm beobachten möchte. Aus meinen Augen, Steward! Mir wird ganz schlecht von Eurem Anblick.« Der Steward verbeugte sich kalt und ging. David lehnte sich schwer atmend gegen die Wand. Kit sah seinen Freund nachdenklich an. »Können wir sie wirklich aufhalten?« fragte er leise. »Wenn sie daraus eine Sicherheitsangelegenheit gemacht hat…?« »Nun, wir werden damit anfangen, daß ich ihr eine Antwort schicke, daß ihr die Ohren qualmen! Wenn sie glaubt, sie kann mich unter Druck setzen, nur weil ich noch nicht so lange Lord bin, dann hat sie sich getäuscht. Wir müssen sie aufhalten, Kit. Diese Pläne würden die Macht eines jeden Lords unterminieren. Sie versucht, uns unsere Macht wegzunehmen und uns mit Geld abzuspeisen. Schön, diesmal hat sie sich verrechnet. Ein Lord zu sein, hat nichts mit einem dicken Bankkonto zu tun. Die Loyalität unserer Bauern galt schon immer zuerst uns und dann der Krone. Sie waren schon immer eine potentielle Armee, die wir einsetzen konnten, um uns gegen Imperiale Ag-gression zu verteidigen. Verflucht , das geht viel weiter , als ich dachte! Das ist ein Schlag gegen die grundlegenden Rechte und die Macht aller Lords! Wenn unsere Welten von Lektronen kontrolliert und unsere Bauern über Dutzende anderer Welten verstreut werden , dann besitzen wir keine echte Machtbasis mehr! Wenn sie damit durchkommt, könnte die verfluchte Löwenstein die Macht der Lords ein für allemal brechen!« »Nicht die Macht aller Lords, David«, widersprach Kit. »Nur die der Familien, deren Reichtum an Menschen und Planeten gebunden ist. Andere Clans, wie zum Beispiel der Clan der Wolfs, ziehen ihre Macht und ihr Ansehen dieser Tage aus Technologien.« »Du hast recht«, sagte David langsam. »Es würde nur die älteren, traditionelleren Clans treffen. Die Familien , die der Löwenstein mißtrauisch gegenüberstehen. Und es würde die Position der jüngeren Clans stärken, die sie tendenziell unterstützen. Verdammt, ist das kompliziert! Verschachtelt bis zum geht nicht mehr. Zur Hölle, ich kann jetzt nicht mehr darüber nachdenken. Davon bekommt man ja Kopfschmerzen!« »Laß uns essen gehen«, sagte Kit. »Nach einer guten Mahlzeit sieht die Welt wieder ganz anders aus.« »Zur Hölle mit dem Essen!« fluchte David. »Ich brauche jetzt einen Drink. Eine Menge Drinks. Laß uns in die Stadt gehen. Wir setzen uns in die Taverne und treffen Alice und Jenny.« »Ein guter Vorschlag«, stimmte Kit zu. Hoch im Orbit über Virimonde schwebte der Imperiale Sternenkreuzer Elegance, und seine Anwesenheit war den meisten unten auf der Oberfläche verborgen . Der Herr der Elegance, General Shaw Beckett, saß unglücklich in seinem Privaten-quartier und trommelte mit den Fingern einer Hand auf die Armlehne seines Sessels. Er verspürte nicht die geringste Lust auf seinen gegenwärtigen Auftrag, doch die Befehle der Imperatorin waren deutlich und unmißverständlich gewesen. Als guter Soldat würde Beckett genau das tun, was man ihm befahl. Es war nicht das erste Mal, daß er Befehle ausführte, die ihm nicht schmeckten, und er bezweifelte, daß es das letzte Mal sein würde. So war das Leben nun mal unter der Fuchtel von Löwenstein XIV., der Eisernen Hexe. Beckett war ein großer Mann und extrem fett. Sein Sessel stöhnte protestierend unter jeder unvorsichtigen Bewegung. Sämtliche geladenen Gäste kamen zu spät; doch Beckett konnte nichts tun, um sie zur Eile anzutreiben . Zu viele Bedenken würden ihm als Schwäche angelastet werden, und die Eingela-denen waren denkbar ungeeignet, um vor ihnen Schwäche zu zeigen. Sie würden es nur für ihre Zwecke ausnutzen. Beckett sah sich prüfend in seinem Quartier um. Ihm war danach, mit Gegenständen zu werfen, doch er hatte nichts zur Hand, das nicht irgendeinen persönlichen oder wenigstens Erinnerungs-wert besaß. Beckett umgab sich gerne mit persönlichen Dingen, wenn er unterwegs war. Es bedeutete ein Stück Zuhause in einer ansonsten vollkommen fremden Umgebung . Und wenn nicht einmal ein General das Recht auf Komfort in seinem eigenen Quartier besaß, wer zur Hölle besaß es dann? Beckett dachte darüber nach, um seine Gedanken von anderen Dingen abzulenken. In naher Zukunft gab es so einiges, an das er lieber erst denken wollte, wenn es unbedingt sein mußte. Der Türsummer ertönte und kündigte den ersten von Becketts Gästen an. Der General brummte ein unfreundliches »Herein!«, und die Tür glitt auf. Im Eingang stand Lord Valentin Wolf in all seiner morbiden Pracht. Der Wolf steckte in hervorragend geschneiderten Kleidern aus einem blendenden Weiß und trug einen schwarzen Umhang mit purpurnem Futter darüber. Sein langes hageres Gesicht war weiß wie gebleichte Knochen, mit Ausnahme der dick geschminkten Augen und dem breiten, grinsenden lippenstiftroten Mund. Eine Mähne aus pech-schwarzem Haar fiel in pomadengetränkten Locken bis auf die Schultern. In den Händen hielt Valentin Wolf eine langstielige rote Rose mit fleischiger, dicker Blüte. Der Stiel trug unübersehbar bösartige Dornen, die Beckett schon bei ihrem Anblick zusammenzucken ließen. Valentin Wolf blieb einen Augenblick lang im Eingang stehen, damit Beckett gebührend beeindruckt sein konnte; dann schwebte er lässig in das Privatquartier des Generals. Hinter ihm glitt die Tür wieder zu, und Beckett verspürte einen kurzen, wenngleich sehr realen Anflug von Unruhe, als wäre er nun zusammen mit einem tödlichen Raubtier im gleichen Zimmer gefangen – was er in einem sehr realen Sinn schließlich auch zutraf. Valentin blickte sich gelassen in Becketts Quartier um. Er musterte die zahlreichen interessanten Einrichtungsgegenstän-de mit seinen dunklen, geschminkten Augen und hob kaum merklich eine seiner Brauen. Vor General Beckett blieb der Wolf stehen und verbeugte sich formell. Beckett erwiderte den Gruß ebenso knapp und machte sich noch nicht einmal die Mühe, vorher aufzustehen. Es kostete viel zuviel Kraft, eine derart gewaltige Körpermasse wie die seine aus dem Sessel zu wuchten, und Beckett wollte verdammt sein, wenn der Wolf diese Mühe wert war. Er deutete mit einer fetten Hand auf einen der freien Sessel, und Valentin sank matt hinein. »Gruß und Ave, mein lieber General. Ihr habt wirklich erstaunliche Dinge in Eurem Quartier zustande gebracht. Nicht, daß es mir gefiele – aber mein Geschmack gefällt anderen ja auch nur selten.« Beckett schnaufte verächtlich. »Vielleicht liegt das daran, daß Ihr ein mit Drogen vollgepumpter Degenerierter seid, der schon so weit hinüber ist, daß man eine Münze werfen muß, um herauszufinden, wo oben und wo unten ist.« »Möglicherweise liegt es wirklich daran. Wollt Ihr vielleicht eine kleine Kleinigkeit ausprobieren , General?« erkundigte sich Valentin liebenswürdig. »Auf gar keinen Fall«, antwortete Beckett. »Ich habe nicht das geringste Interesse, meinen Verstand mit Chemikalien zu benebeln, wenn wichtige Arbeit auf mich wartet.« »Das ist aber eine sehr engstirnige Einstellung, mein lieber Beckett«, sagte Valentin leichthin und sog den köstlichen Duft seiner Rose ein, während er kurz an einem der Blütenblätter knabberte. »Ich habe oft die Erfahrung gemacht, daß die richtigen Substanzen in der richtigen Menge und Mischung die Gedanken eines Mannes positiv anregen und zu größerer Klarheit und besserem Verständnis führen können. Ich habe schon viele Einsichten gewonnen, während rings um mich herum alles in Dunkelheit zu verschwinden drohte. Wenn Ihr nur die Dinge sehen könntet, die ich schon gesehen habe, mein lieber General, und die zahllosen Wunder, die sich mir enthüllt haben! Ich reite auf meinem erweiterten Bewußtsein wie auf einem ungezügelten Pferd, und ich zertrample niedrigere Seelen unter meine Hufen. Allerdings stehe ich – für den Augenblick jedenfalls – völlig zu Euren Diensten. Ich sterbe fast vor Neugier, alles über Eure Mission hier über Virimonde zu erfahren.« »Da müßt Ihr schon warten, bis die anderen sich ebenfalls endlich einzufinden geruhen«, erwiderte Beckett stumpf, ohne in die Falle zu tappen. »Die Befehle der Imperatorin waren recht deutlich.« »Gott schütze unsere Imperatorin!« sagte Valentin. Er schlug ein langes, weiß gekleidetes Bein über das andere und ließ es leise vor- und zurückschwingen, und das Licht glänzte auf seinen spiegelglatt polierten Schuhen. Beckett kam der Gedanke, daß der Wolf aussah wie eine Federzeichnung. Ganz genau die Art von Figuren, die man in Benimmbüchern fand – wahrscheinlich mit dem Wort Ausschweifung darunter. Beckett bewunderte insgeheim die Ruhe des Wolfs, selbst wenn die Ursache dafür aller Wahrscheinlichkeit nach in einer Pillen-schachtel zu suchen war. Mit dem Debakel auf Technos III und der völligen Zerstörung seiner Fabrik für den neuen Hyperraumantrieb hatte die Erfolgssträhne des Valentin Wolf einen ernsthaften Dämpfer erhalten. Einst war der Wolf-Clan eine der führenden Familien des Imperiums gewesen, und Valentin hatte einen festen Platz zur Rechten der Eisernen Hexe gehabt. Heute war er bei Hofe gerade noch geduldet, und das auch nur, weil die anderen sich über ihn amüsieren konnten. Die Produktion des neuen Hyperraumantriebs war dem Clan Chojiro übertragen worden, der von Grund auf neu beginnen mußte. Das hatte der Löwenstein überhaupt nicht gefallen. Die Eiserne Hexe hätte den neuen Antrieb lieber gestern als heute in den Schiffen der Flotte installiert. Die beiden für das Fiasko auf Technos III verantwortlichen Wolfs, Daniel und Stephanie, waren wie vom Erdboden verschwunden und hatten Valentin allein die Schuld untergescho-ben, die er mit einem Schulterzucken, einem Kopfschütteln und einem charmanten Lächeln auf sich genommen hatte. So etwas passierte halt. Jeder andere wäre vielleicht ruiniert gewesen und in Ungnade gefallen, und wahrscheinlich hätte er sogar den Kopf verloren. Doch Valentin Wolf war aus anderem Holz geschnitzt. Er hatte sämtliche finanziellen Verluste aus der eigenen Tasche ausge-glichen, ohne mit der Wimper zu zucken, seine verschwunde-nen Geschwister in aller Öffentlichkeit enterbt und mit einer Trumpfkarte zurückgeschlagen, von deren Existenz nur die wenigsten auch nur etwas geahnt hatten. Valentin besaß Zugang zu einer geheimen Quelle extrem fortschrittlicher Technologien, und nur das hatte ihn heute hierher geführt und ihm eine Chance eröffnet, sich in Löwensteins Augen zu rehabilitieren. Valentin hatte niemandem verraten, daß seine geheime Quelle die abtrünnigen KIs von Shub waren, die offiziellen Feinde der Menschheit. Es hätte nur unnötige Aufregung verursacht. Der Türsummer ertönte erneut, und die Tür öffnete sich auf Becketts Befehl hin. Es erschien der Hohe Lord Dram, Oberster Krieger des Imperiums und offizieller Gemahl der Imperatorin persönlich, auch genannt der Witwenmacher, wenn auch nur hinter seinem Rücken. Er war groß, geschmeidig, muskulös und gekleidet in das übliche Schwarz. Außerdem trug er wie immer eine Kampfrüstung. Dram verbeugte sich vor General Beckett und nickte Valentin einen knappen Gruß zu. Beckett erwiderte Drams Gruß. Der Wolf winkte jovial mit den langen weißen Fingern. Dram gab vor, es nicht gesehen zu haben, und machte es sich in dem am weitesten von Valentin Wolf entfernt stehenden Sessel mit lang ausgestreckten Beinen bequem. Dram war auf eine wenig spektakuläre Art und Weise attraktiv, doch seine dunklen Augen und das ständige leichte Grinsen waren kalt wie ein Grab. Ebenso wie Valentin, so hatte Dram auch sich während der Reise nach Virimonde überwiegend abseits gehalten, war in seiner Kabine geblieben und hatte nur mit seinen eigenen Leuten geredet. Innerlich schürzte Beckett die Lippen. Wahrscheinlich hielt sich Dram für zu bedeutend, um sich mit den niedrigeren Ständen abzugeben. Nicht, daß Beckett sich darüber beschweren wollte. Das letzte, was ihm fehlte, war ein Prinzgemahl der Eisernen Hexe, der ihm ständig über die Schulter spähte und sich anschließend Notizen machte. Dram hatte niemandem erzählt, daß er genaugenommen nicht der echte Witwenmacher war, sondern nur ein Klon des Originals, den man auf Befehl der Eisernen Hexe herangezogen hatte. Es hätte die Leute nur unnötig in Aufregung versetzt. »Wie lange noch, bis die Operation beginnt, General?« wandte sich Dram gelassen an Beckett. »Man hat mich informiert, daß meine Leute voll ausgerüstet sind und auf den Einsatzbefehl warten.« »Bald, Mylord«, erwiderte Beckett. »Sehr bald. Das hier ist unsere letzte Einsatzbesprechung . Wir warten nur noch auf das Eintreffen der letzten Hauptdarsteller.« Die Tür summte. »Ah, das werden sie sein. Herein!« Die Tür glitt auf, und Kapitän Johan Schwejksam trat ein, zusammen mit Investigator Frost und dem Sicherheitsoffizier K. Stelmach. Der Wolf und der Hohe Lord Dram setzten sich beim Anblick der drei ein wenig gerader in ihre Sessel. Die drei Offiziere der berühmten Unerschrocken waren jedem im Imperium ein Begriff, der einen Holoschirm besaß. Ihre bewegte Karriere war häufiger hoch- und runtergegangen als das Nachtgewand einer Braut. Sie waren so schnell von Helden zu Ausgestoßenen und wieder zu Helden geworden, daß einige Zuschauer vom Hinsehen schwindlig geworden waren. Ihr gegenwärtiger Status war nicht ganz klar. Auf der einen Seite war es ihnen nicht gelungen, ihren Auftrag zu erfüllen und den be-rüchtigten Verräter und Banditen Owen Todtsteltzer zu fangen – sie waren von seinen Rebellenverbündeten geschlagen und nach Hause getrieben worden –, und auf der anderen Seite hatten sie im Alleingang die Heimatwelt Golgatha vor dem Angriff eines geheimnisvollen, mächtigen feindlichen Schiffes gerettet. Laut den letzten Nachrichten waren die drei zusammen mit der Unerschrocken auf Strafpatrouille bei den Welten am Abgrund versetzt worden, bis die Eiserne Hexe geruhte, ihnen zu vergeben. Und jetzt befanden sie sich hier an Bord der Elegance, weit weg von ihrem berühmten Schiff. Beckett, Valentin und der Hohe Lord Dram verbeugten sich kurz in Richtung der Neuankömmlinge und musterten sie mit offener Neugier. Legenden in Fleisch und Blut bekam man schließlich nicht alle Tage zu sehen. Schwejksam war ein großer schlanker Mann in den Vierzi-gern mit dünner werdendem Haar und einem kleinen Bauchan-satz . Auf einem Holoschirm mochte er nicht viel hermachen, doch aus der Nähe war seine Persönlichkeit überwältigend. Jeder im Raum wußte, daß Schwejksam ein gefährlicher Mann war; aber jetzt wußten sie auch warum. Der Mann strahlte eine gelassene Selbstsicherheit und eine unbeirrbare Direktheit aus. Johan Schwejksam wußte, wohin er ging, und nur ein Dummkopf hätte sich ihm dabei in den Weg gestellt. Investigator Frost war Ende Zwanzig. Sie war groß und geschmeidig muskulös wie alle Investigatoren. Sie war von Kindesbeinen an ausgebildet und trainiert worden, Fremdwesen zu studieren und zu töten – und auch alles andere, was eine Bedrohung für das Imperium darstellen konnte. Selbst jetzt noch, da sie still und entspannt an der Seite ihres Kapitäns stand, erweckte sie den Eindruck, als könnte sie jederzeit jemanden umbringen, und wahrscheinlich sogar mit bloßen Händen. Kalte blaue Augen leuchteten in einem blassen, kontrollierten Gesicht, das von kastanienblondem, kurzgeschnittenem Haar ein-gerahmt wurde. Frost war keine ausgesprochene Schönheit; doch sie wurde von einer definitiv einschüchternden Aura umgeben, die gleichzeitig attraktiv und unheimlich wirkte. Sie hatte die Hände wie stets in der Nähe der Waffen und stand an Johan Schwejksams Seite, als würde sie genau dorthin gehören und als wäre das schon immer so gewesen. Neben diesen beiden gottgleichen Wesen mußte ein einfacher Sicherheitsoffizier wie K. Stelmach wie eine Ernüchterung wirken, und genau das war er auch. Ein stiller, nichtssagender Mann, der mehr nach einem anonymen zivilen Diener aussah als nach einem Offizier der Imperialen Flotte. Heutzutage war das eben so, wenn man als Sicherheitsoffizier arbeitete – selbst auf der ganz und gar erstaunlichen Unerschrocken. Stelmach stand offensichtlich nervös ein wenig hinter Schwejksam und Frost, und seine Augen hetzten von einem zum andern, als erwarte er, jeden Augenblick, weggeschickt zu werden. Und doch hatte dieser kleine, wenig beeindruckende Mann bei der Entwicklung jener Technologie mitgeholfen, mit deren Hilfe die Imperatorin die tödlichen Fremdwesen kontrollierte, die unter dem Namen Grendel bekannt geworden waren. Und zusammen mit Frost und Schwejksam hatte er Missionen überlebt, die viele geringere Männer sicher getötet hätten . Also mußte mehr an dem Burschen sein, als es den Anschein hatte. Beckett nahm sich im stillen vor, die Akte des Mannes genauer durchzugehen, und wenn auch nur, um herauszufinden, wofür das K. in seinem Namen stand. Der General bedeutete den drei letzten Besuchern, auf den verbleibenden freien Sesseln Platz zu nehmen, und sie kamen der Aufforderung nach. Schwejksam und Frost schienen vollkommen entspannt; doch Beckett bemerkte, daß ihre Hände noch immer wie beiläufig in der Nähe der Waffen schwebten. Stelmach saß ganz vorn auf der Kante seines Sessels und hatte die Hände fest ineinander verschränkt, damit niemand ihr Zittern bemerken konnte . Beckett räusperte sich, um die Aufmerksamkeit aller auf sich zu lenken, und bedauerte es im gleichen Augenblick wieder. In dieser Art von Gesellschaft konnte ein solches Räuspern nur schwach und unsicher klingen. »Nun, da wir endlich alle beisammen sind, können wurmt der abschließenden Besprechung beginnen. Ihr alle habt auf dem Weg nach Virimonde ausreichend Gelegenheit gehabt, die allgemeinen Befehle und Ziele dieser Operation zu lesen; doch erst jetzt werde ich den großen Gesamtplan enthüllen. Virimonde soll wieder dem direkten Befehl des Imperiums unter-stellt werden, und zwar unter Einsatz aller dazu erforderlichen Mittel. Die einheimische Bevölkerung praktiziert verbotene Formen der Demokratie, lebt nach eigenen Regeln und widersetzt sich allgemeinen Imperialen Edikten. Nach dem zu urteilen, was uns der Steward der Todtsteltzer-Festung mitgeteilt hat, erweist sich der Lord von Virimonde, David Todtsteltzer, als ein schwacher und unfähiger Führer, der seine Pflichten und Geschäfte vernachlässigt und nicht nur darin versagt hat, diesen Verrat niederzuschlagen, sondern ihn sogar noch ermutigt. Damit hat er sich selbst zum Verräter gemacht, und die Imperatorin hat ihm seine Lordschaft aberkannt. Er ist zu verhaften und zusammen mit seinem Gefährten, dem Lord Kit Sommer-Eiland, zurück nach Golgatha zu schaffen , wo man die beiden vor Gericht stellen wird. Wir rechnen mit Widerstand. Der Todtsteltzer und der Sommer-Eiland sind beide berühmte Kämpfer, und wir haben darüber hinaus Grund zu der Annahme, daß die Einwohnerschaft Virimondes gründlich mit Agenten der Rebellen infiltriert ist. Deswegen ist die gesamte Bevölkerung Virimondes zu befrieden und unter direkte Imperiale Kontrolle zu stellen, mit allen dazu erforderlichen Mitteln. Niemand weiß, wie gut vorbereitet und wie gut bewaffnet die Bauern sind, und daher müssen wir unter der Annahme des schlimmsten Falls agieren. Wir gehen keinerlei Risiko ein und gewähren kein Pardon. Dies ist eine Strafexpedition. Wir statuieren hier ein Exempel. Eine hohe Zahl von Verlusten bei der Bevölkerung ist zu erwarten. Lord Wolf hat den Befehl über die Imperialen Kriegsmaschinen. Er wird von Professor Wax von der Universität Golgatha unterstützt. Der Professor kann leider nicht bei uns sein – wie es scheint, bekommt ihm das Reisen nicht. Wir können nur hoffen, daß sich sein Zustand bessert, wenn er erst wieder festen Boden unter den Füßen hat. Die Bodentruppen stehen unter dem Befehl des Hohen Lords Dram. Eine volle Armee von Marineinfanteristen und Söldnern wird die Bevölkerungszentren ausschalten und für die Beset-zung durch andere Truppen vorbereiten. Kapitän Schwejksam, Investigator Frost und Sicherheitsoffizier Stelmach – Ihr drei seid persönlich verantwortlich für die Gefangennahme von David Todtsteltzer und Kit Sommer-Eiland. Bringt sie lebend an Bord, falls irgend möglich. Ihre durchlauchtigste Majestät hat sich in den Kopf gesetzt, die beiden vor Gericht zu stellen. Ich werde alle drei Operationen beaufsichtigen und koordinieren. Lord Wolf, Ihr werdet Euch auf die städtischen Gebiete konzentrieren. Lord Dram, Ihr werdet Euch um die weiter ver-streuten ländlichen Gemeinden kümmern. Wir wollen versuchen, uns nicht gegenseitig in die Quere zu kommen, ja? Ich will, daß diese Operation den Vorschriften gemäß ausgeführt wird, ruhig und effizient und mit einem Minimum an Blutvergießen. Dies ist zwar eine Strafexpedition, aber wir wollen nicht vergessen, daß tote Bauern nicht mehr arbeiten können. Und jetzt, meine Herren, wollen wir über die Logistik der Operation sprechen.« Das Treffen zog sich noch eine Weile hin. Einzelheiten wurden besprochen, Probleme aufgeworfen und neue Lösungen erarbeitet. Valentin Wolf überraschte alle mit seinem messerscharfen Verstand, während der Hohe Lord Dram ungewöhnlich zurückhaltend war. Schwejksam und Frost sahen die jüngsten Berichte über den Todtsteltzer und den Sommer-Eiland und ihre letzten bekannten Stammlokale und Lieblingsplätze durch. Stelmach schwieg in einem fort und beschränkte sich darauf, an den wesentlichen Stellen zu nicken. Virimonde war eine der wichtigsten Nahrung produzierenden Welten des Imperiums und daher zu schade, um einfach aus dem Orbit herausgesengt zu werden. Trotzdem konnte man die Bewohner bestrafen. Die Bauern mußten wissen, wo ihr Platz in der Gesellschaft war – und was mit jenen geschah, die sich darüber zu erheben versuchten. Der Joker der ganzen Operation war Valentin Wolf mit seinen Kriegsmaschinen. Es war das erste Mal, daß sie in einer so groß angelegten Operation zum Einsatz kamen. Die Imperatorin war schon immer von den Möglichkeiten von Kriegsmaschinen beeindruckt gewesen, und bei Manövern hatten sie sich auch stets bewährt; doch bisher waren nur wenige im Feuer richtiger Schlachten getestet worden. Virimonde würde das ändern. Virimondes Zukunft und sein Platz im Imperium hingen vom Erfolg der Kriegsmaschinen ab, und Valentins Zukunft bei Hofe und im Imperium ebenfalls. Schließlich hatten sie sich über den letzten Kompromiß geei-nigt und den letzten Knick ausgebügelt, und heraus kam ein Schlachtplan, mit dem alle leben konnten. Beckett richtete eine aufmunternde Rede an die anderen, die so knapp war, wie man sich nur denken konnte; dann wünschte er mit lauter Stimme Gott segne die Imperatorin, und die Versammlung löste sich auf. Alle verbeugten sich mehr oder weniger respektvoll voreinander, lächelten sich mit leeren Gesichtern an und gingen wieder ihrer Wege. Dram kehrte zu seinen Truppen zurück, Valentin Wolf zu seinen Maschinen, und Schwejksam, Frost und Stelmach zu ihren Quartieren. Keiner der drei machte sich über ihren Teil der Operation Illusionen. Der Todtsteltzer und Kid Death waren als zwei der gefährlichsten Kämpfer im gesamten Imperium bekannt, und sie zu überraschen und zu überwältigen, würde alles andere als leicht werden – ganz zu schweigen von der Aufgabe, sie lebend zurückzubringen und vor Gericht zu stellen. Andererseits hatten die drei einen Ruf entwickelt, das Un-mögliche möglich zu machen, und so hatte die Eiserne Hexe sie freiwillig zu dieser Aufgabe abkommandiert. Ihre Belohnung – sollten sie überleben – wäre die Rückkehr der Unerschrocken von den Welten am Rand und die Wiedergewinnung der Imperialen Gunst Ihrer Eisernen Majestät. »Wäre nicht meine Besatzung, ich hätte der Eisernen Hexe glatt gesagt, daß sie sich zur Hölle scheren soll«, knurrte Schwejksam, ohne sich darum zu kümmern, ob der Sicherheitsoffizier mithörte oder nicht. »Ich hasse Selbstmordmissio-nen. Und soweit ich weiß, wurden weder der Todtsteltzer noch der Sommer-Eiland jemals im Kampf besiegt. Zur Hölle, sie haben sich in der Arena jedem gestellt, der es mit ihnen aufnehmen wollte, und am Ende war niemand mehr da!« » Uns haben sie noch nie gegenübergestanden, Kapitän«, sagte Investigator Frost. »Wir können sie schaffen, Kapitän. Vorausgesetzt, wir finden sie, bevor die Invasion losgeht und alles in Aufruhr und Chaos versinkt.« »Ich wünschte, ich könnte mich Eurer Zuversicht anschließen«, murmelte Stelmach. »Ich weiß ja noch nicht einmal, warum die Imperatorin wollte, daß ich mit Euch komme.« »Ihr seid unser Maskottchen, Kühnhold«, erwiderte Schwejksam. »Haltet Euch im Hintergrund und bleibt aus der Schußlinie, und wir erledigen die Arbeit.« »Mit Freuden«, sagte Stelmach. Er hoffte nur, daß die beiden seine Lüge nicht bemerkten. K. Stelmach wußte ganz genau, warum die Eiserne Hexe ihn nach Virimonde geschickt hatte. Seit einiger Zeit waren an Schwejksam und Frost beinahe übermenschliche Fähigkeiten festzustellen gewesen. Sie waren schneller, stärker und um einiges intelligenter als früher . Seit ihrer Begegnung mit dem rätselhaften Bauwerk der Fremdwesen auf der verlorenen Welt Haden, das unter dem Namen Labyrinth des Wahnsinns bekannt war, hatten sie Kräfte und Fähigkeiten zur Schau gestellt, die ans Wunderbare grenzten. Und die Imperatorin hatte nicht die Absicht , potentiell abtrünnige Esper mit derartigen Fähigkeiten und Begabungen unbeauf-sichtigt herumlaufen zu lassen. Also war diese Mission mit ihren zahlreichen offensichtlichen und noch zahlreicheren verborgenen Gefahren ganz speziell für Schwejksam und Frost arrangiert worden, um ihre Kräfte zum Vorschein zu bringen. Und Stelmach würde an Ort und Stelle sein, um alles zu beobachten und hinterher Bericht zu erstatten . Er war durch einen heiligen Eid zum Schweigen verpflichtet worden, bei Androhung der Todesstrafe, und des zerriß ihn innerlich. Stelmach betrachtete Schwejksam und Frost als seine Freunde; doch er durfte keinen Befehl ablehnen, der direkt von der Herrscherin kam. Also hielt er den Mund, machte sich Sorgen, bis er Magenkrämpfe bekam und versuchte unablässig, einen Ausweg aus seiner prekären Lage zu finden, der nicht zu seinem Tod führte egal ob durch die Imperatorin oder durch seine Freunde Schwejksam und Frost. Falls sie wirklich geheimnisvolle Kräfte besaßen – und davon war Stelmach ganz und gar nicht überzeugt –, dann mußte es einen guten Grund dafür geben, warum sie nicht darüber sprachen. Stelmach hoffte nur, daß es etwas war, was er in seinem Bericht erwähnen konnte – falls sich überhaupt irgendwelche Kräfte zeigten. Und bis dahin zerbrach er sich weiter den Kopf und zuckte regelmäßig zusammen, wenn Frost oder Schwejksam ihn anredeten. »Wie tief sind wir nur gesunken?« knurrte Schwejksam angewidert. »Bezahlte Meuchelmörder, bis auf den Namen. All dieser Unsinn, von wegen lebendig gefangennehmen, um die beiden vor Gericht zu stellen nichts als Vernebelungstaktik. Die da oben wissen ganz genau, daß wir den Todtsteltzer und den Sommer-Eiland niemals besiegen können, ohne sie zu töten. Und ganz genau das erwarten sie auch von uns. Weil wir ihnen die Peinlichkeit ersparen sollen, zwei Lords und Oberhäupter ihrer Clans vor Gericht zu zerren.« »Das ist die einzige Möglichkeit, wie wir unser Schiff vom Rand wegholen können«, entgegnete Frost. »Und wenn ich als Preis dafür zwei Fremde töten muß, dann habe ich damit kein Problem. Ich habe schon früher auf Befehl der Imperatorin getötet, sowohl Fremdwesen, als auch Menschen, und ich werde es ohne Zweifel wieder tun. Das gehört nun mal zu meinem Job.« »Aber nicht zu meinem«, entgegnete Schwejksam tonlos. »Ich bin nicht zur Hotte gegangen, um politische Gegner der Eisernen Hexe zu ermorden.« »Dann wart Ihr allerdings bemerkenswert naiv, Kapitän, wenn ich das sagen darf«, sagte Frost. »Im Grunde genommen geht es nämlich immer nur genau darum. Wir kämpfen und töten diejenigen, die von der Eisernen Hexe zu Feinden des Imperiums erklärt worden sind.« »Wir sollten besser die wirklichen Feinde bekämpfen«, sagte Schwejksam. »Der Todtsteltzer und der Sommer-Eiland sind nur zwei Kinder, die zuviel Freizeit haben. Wahrscheinlich hatten beide noch nie im Leben einen politischen Gedanken. Die wirklichen Feinde des Imperiums stecken in der Untergrundbewegung. Die Rebellen. Owen Todtsteltzer und seine Freunde. Die Löwenstein nimmt sie nicht ernst genug. Ihr habt selbst gesehen, was auf der Wolflingswelt geschehen ist. Was aus Owen und seinen Leuten geworden ist. Ich für meinen Teil weiß nicht einmal, ob sie noch Menschen sind. Das ist die wirkliche Gefahr, und das ist der einzige Grund, warum ich das hier mache. Wir müssen unbedingt wieder in eine Position zu-rück, in der wir die Imperatorin vor der bevorstehenden Rebellion beschützen können. Die Eiserne Hexe braucht uns, ob sie das nun zugibt oder nicht.« »Ihr scheint die Imperatorin nicht zu mögen«, stellte Stelmach fest. »Zur Hölle, Kühnhold! Niemand mag die Imperatorin«, er-klärte Frost. »Sie ist bestenfalls eine gutgelaunte Psychopathin. Aber sie ist die Imperatorin. Ich habe einen Eid geschworen, bei meinem Blut und meiner Ehre, daß ich ihr dienen und sie bis ans Ende meiner Tage schützen werde. Oder vielleicht nicht, Kapitän?« »Genau«, stimmte ihr Schwejksam zu. »Vielleicht ist sie eine Psychopathin, aber sie ist immer noch unsere Psychopathin. Unsere Imperatorin. Außerdem kann sie ja nicht ewig leben, und wenn sie mal nicht mehr ist, dann gibt es das Imperium immer noch, wenn wir unsere Arbeit richtig gemacht haben. Im Endeffekt gilt unsere Loyalität nämlich dem Thron, stimmt’s? Ganz gleich, wer gerade zufällig darauf sitzt. Wir schützen das Imperium, mitsamt all seinen Fehlern, weil die Alternativen noch schlechter sind. Ohne die zentrale Kontrolle durch die Heimatwelt, die alles am Laufen hält, würde alles ganz schnell auseinanderfallen. Unsere Welten würden in Barbarei versinken, und Milliarden würden in Hungersnöten sterben . Nicht zu vergessen die Bedrohung von außerhalb durch die verschiedenen Fremdrassen. Wir müssen stark und organisiert sein, um gegen sie bestehen zu können, wenn sie eines Tages kommen. Wir können uns keinen Luxus wie unterschiedliche Meinungen mehr leisten. Oder irre ich mich, Stelmach?« »Was? O nein, natürlich nicht. Richtig, Kapitän. Wir müssen loyal sein, Kapitän. Was auch immer uns das kosten mag.« Valentin Wolf kehrte allein in sein Quartier zurück. Es waren kahle, einfache, unpersönliche Räume, und das kam Valentin ganz gelegen. Was er im Innern seines Kopfes fand, war sowieso viel interessanter als die Welt da draußen. Für den Augenblick war er lediglich angenehm betäubt, doch das war auch schon alles. Er mußte schließlich nachdenken . Valentin flegelte sich in seinen Lieblingsstuhl und aktivierte das Massageprogramm. Er konnte am besten denken, wenn sein Körper in guten Händen war. Der Wolf zupfte eines der dicken fleischigen Blätter von seiner langstieligen Rose und stopfte es sich in den Mund. Der Wolf-Clan steckte in tiefen Schwierigkeiten, und wie immer lag es an Valentin, den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Der Clan hatte seine Lizenz zur Produktion des neuen Raumschiffsantriebs verloren, als die Rebellen auf Technos III die Fabrikanlagen zerstört hatten. Allerdings hatte Valentin noch seine geheimen Kontakte zu den ab-trünnigen KIs von Shub besessen, und die unvergleichliche Technologie, mit der die KIs ihn versorgten, hatte ihm einen Ausweg aus der mißlichen Lage eröffnet. Er hatte der Löwenstein einen Teil seiner Erungenschaften präsentiert, als Geschenk, um seine Loyalität unter Beweis zu stellen, und dann darauf hingewiesen, daß er als Meister dieser Technologien die perfekte Wahl darstellte, um die Imperialen Kriegsmaschinen bei ihrem ersten großen Einsatz zu kommandieren. Und so war es ihm nicht schwergefallen, die Gunst der Eisernen Hexe wie-derzuerlangen. Selbstverständlich hing jetzt alles davon ab, wie gut die Maschinen sich auf Virimonde bewährten, doch Valentin sah darin kein Problem. Er grinste, und der purpurne Saft des Rosenblat-tes rann über sein Kinn. Er war hellwach und so im Einklang mit sich selbst, daß er spüren konnte, wie seine Fingernägel wuchsen. Nichts konnte schiefgehen. Er würde Erfolg haben. Es war seine Bestimmung. Valentin freute sich schon auf das, was seine Metallarmee mit den armen Bauern anstellen würde. Blut und Zerstörung und Feuer und Tod, und all das in einem Ausmaß, das selbst für jemanden wie ihn neu war. Er seufzte wohlig. So viel Spaß. Und wenn er hier auf Virimonde erst einen guten Eindruck hinterlassen hatte, würde die Eiserne Hexe dem Wolf-Clan die Massenproduktion der Imperialen Kriegsmaschinen übertragen, und er konnte endlich wieder seinen Platz an Löwensteins Seite einnehmen, denn dort gehörte er hin . Es gefiel ihm überhaupt nicht, einer der geringeren Lords zu sein. Das war eine Beleidigung für sein empfindliches Selbstwertgefühl. Alte Feinde waren nur allzu schnell bereit gewesen, sich über ihn herzumachen, als die Imperatorin ihm ihre Gunst entzogen hatte. In seiner momentanen Schwäche hatten sie eine günstige Gelegenheit gewittert, alte Dispute auszutragen, vorzugsweise in Blut. Jetzt warteten sie nur darauf, daß er auf Virimonde versagte, und dann würden sie ihn bei Hofe umkreisen wie die Haie, die vom Blutgeruch im Wasser angezogen wurden. Valentin schniefte verächtlich. Er würde sich an ihre Namen erinnern . Und sobald er wieder zu Macht gekommen war… Natürlich gab es auch noch andere Probleme. Seit dem Debakel auf Technos III waren seine Schwester Stephanie und sein Bruder Daniel verschwunden. Das waren gute und schlechte Neuigkeiten zugleich. Gut, weil sie ihm kein Messer mehr in den Rücken stoßen konnten, und schlecht, weil er so nicht sicher sein konnte, was sie als nächstes planten. Daniel war offensichtlich aufgebrochen, um den toten Vater zu suchen. Der alte Wolf war das letzte Mal bei Hofe gesehen worden, wo sein von einer KI kontrollierter Leichnam als Botschafter von Shub aufgetaucht war. Wie es schien, glaubte Daniel fest daran, daß ihr Vater noch lebte und sich nichts sehnlicher wünschte, als gerettet zu werden. Valentin hoffte nur, daß Daniel sich irrte. Er wollte seinen Vater nicht noch einmal töten müssen. Und nachdem die KIs Daniel erwischt und umgebracht hatten, konnte er sie vielleicht dazu überreden, seinen Bruder als Geistkrieger oder Furie zu-rückzuschicken. Daniel würde bei Hofe sicher einen nützlichen Verbündeten abgeben , sobald ihm sein eigener beschränkter Verstand nicht mehr in den Weg kommen konnte. Valentins Schwester Stephanie hingegen war verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Niemand schien zu wissen, wohin sie gegangen war, und das beunruhigte Valentin zutiefst. Seine Schwester gehörte nicht zu der schweigsamen, nachdenklichen Sorte. Wo auch immer Stephanie steckte, sie plante neue Schwierigkeiten für Valentin, soviel war sicher. Es lag in der Familie; obwohl es in ihrem Fall ziemlich lange gedauert hatte, bis diese Veranlagung zum Vorschein gekommen war. Stephanie besaß keine Geduld für verschlungene Intrigen. Im Augenblick suchten Valentins Agenten nach seiner Schwester, und sie hatten Anweisung, Stephanie zu ihm zu-rückzubringen – vorzugsweise natürlich in mehreren kleinen Päckchen. Der andere Haken an der Geschichte war der verdammte Professor Ignatius Wax, der Kybernetikexperte von der Universität von Golgatha. Wax war der verantwortliche Kopf für das Design der meisten Kriegsmaschinen gewesen, die auf Virimonde eingesetzt werden sollten, und so hatte sich Valentin gezwungen gesehen, die Hilfe des Professors anzunehmen; obwohl er genau wußte, daß der Professor in Wirklichkeit nur aus einem Grund mitgekommen war: Er sollte Valentin Wolf beobachten und nach der Quelle der revolutionären neuen Technologie suchen. Wax bedeutete keine Gefahr. Es war mehr als unwahrscheinlich, daß er die Geheimnisse der Shub-Technologie durchdringen konnte. Nicht einmal Valentin mit seinem chemisch erweiterten Bewußtsein konnte mehr tun als die Systeme bedienen. Trotzdem, der Mann hatte sich als ein Ärgernis herausgestellt, und so hatte Valentin Schritte unternommen, um sicherzustellen, daß der gute Professor ihm nicht in die Quere kommen konnte, während er unten auf Virimonde seinen Geschäften nachging. Sehr… amüsante Schritte. Valentin grinste fröhlich. Er würde die Maschinen unten auf Virimonde zum Sieg führen, würde über Städte herfallen und sie dem Erdboden gleichmachen, und die Löwenstein würde ihn wieder lieben. Und dann… Gnade Gott seinen Feinden. Der Mann, der in Wirklichkeit gar nicht der Hohe Lord Dram war, ging nachdenklich in seiner Kabine auf und ab. Das hier würde sein erster Versuch werden, Truppen im Feld zu kommandieren, und er freute sich nicht im geringsten darauf. Er hatte sich mit dem Thema befaßt, so gut er konnte, ohne Verdacht zu erregen; doch keine noch so guten theoretischen Kenntnisse konnten praktische Erfahrungen wettmachen. Der ursprüngliche Dram hatte zu zahlreichen Gelegenheiten Truppen geführt und große Erfolge errungen; aber der ursprüngliche Dram war auf Haden getötet worden, der verlorenen Welt, die auch als Wolflingswelt bekannt war. Und jetzt mußte sein Klon in die Rolle schlüpfen, damit niemand hinter die Wahrheit kam. Der Klon mußte Dram sein und sich verhalten, wie Dram sich verhalten hätte. Er war verantwortlich für die Niederschla-gung der Bauern, und die Löwenstein hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, daß er besser daran tat, erfolgreich zu sein, was auch immer es kosten mochte. Es würde hart werden für die Bauern, aber es war schließlich ihre eigene Schuld. Warum mußten sie auch versuchen, sich über ihren Stand hinaus zu erheben? Der Mann, den alle als Dram kannten, seufzte tief und setzte sich. Der Tag hatte kaum angefangen, und schon mußte er so schnell laufen, wie er nur konnte, um den Anschluß nicht zu verlieren. Er mußte mit den anderen mithalten, mußte durch Versuch und Irrtum lernen und sich ununterbrochen den Anschein geben, als wäre er ein Mann, der sich in Kriegführung auskannte. Dabei half ihm auch nicht gerade, daß ihm seine eigenen Leute mißtrauten. Offensichtlich war der ursprüngliche Dram ein richtiges Monster gewesen, hart und unnachgiebig in jeder Beziehung und stets bereit, die eigenen Leute zu opfern, wenn er nur so zum Sieg kommen konnte. Genau deswegen hatte er ja auch den Beinamen Witwenmacher erhalten, obwohl er nur hinter seinem Rücken ge-flüstert wurde. Der neue Dram war nicht ganz sicher, ob er diese Rolle ausfüllen konnte. Jedenfalls fiel es ihm nicht leicht, Leben auf diese Art einfach wegzuwerfen. Aber wenn er sich nicht genauso verhielt wie der ursprüngliche Dram oder nicht wenigstens den Anschein erweckte, dann würde man vielleicht herausfinden, daß er nicht derjenige war, für den er sich ausgab. Bei Hofe gab es schon jetzt entsprechende Gerüchte. Falls man ihn jemals als Klon enttarnte, würde sein kurzes Leben ein frühes und gewaltsames Ende finden. Ein Klon, der einen Mann von Macht und Einfluß ersetzte – das war einer der schlimmsten Alpträume der Lords. Wenn es ihm allerdings gelang, diese Sache durchzustehen – die Bauern niederzuschlagen, die Kontrolle über die Nah-rungsmittelproduktion zurückzugewinnen und seine Truppen unter den Augen aller zum Sieg zu führen –, dann hatte die Löwenstein ihm die Lordschaft über Virimonde versprochen. David Todtsteltzer hatte seinen Anspruch in dem Augenblick verwirkt, in dem er die ersten Anfänge einer Demokratie auf seiner Welt gestattet hatte. Natürlich war es keine besondere Lordschaft – die Löwenstein hatte Pläne mit Virimonde, die den Titel zu wenig mehr als einem Ehrentitel machten –, doch trotz seiner Position bei Hofe als Oberster Krieger und offizieller Prinzgemahl der Imperatorin hatte Dram stets gewußt, daß ein Lord ohne Ländereien kein richtiger Lord war. Das würde Virimonde ändern. Und die Veränderungen auf dem Planeten würden ihn mit der Zeit zu einem der reichsten Männer des Imperiums machen. Also stand eine ganze Menge auf dem Spiel. Dram lehnte sich in seinem Sessel zurück und schloß die Augen. Er wünschte sich, er könnte den Rest der Welt einfach verschwinden lassen. Valentin Wolfs Gegenwart war ein Problem, auf das er sehr gut hätte verzichten können. Der Wolf und der ursprüngliche Dram hatten insgeheim in der Untergrundbewegung von Golgatha mitgemischt und hatten gewis-sermaßen eine gemeinsame Vergangenheit, von der Dram der Klon nur sehr wenig wußte. Jedesmal, wenn er mit Valentin sprach, riskierte er, sich zu verraten, weil ihm vielleicht eine Anspielung oder eine gemeinsame Erfahrung entging. Also achtete er den größten Teil der Zeit sorgfältig darauf, Distanz zu dem Wolf zu wahren und ließ Valentin denken, was er wollte. Eine gewisse Kälte war schließlich bei Dram normal und wurde erwartet. Der ursprüngliche Dram hatte den Untergrund von Golgatha ja auch an die Sicherheitskräfte verraten. Aber was mochte Valentin Wolf sonst noch über den Hohen Lord Dram wissen, was seinem Klon entgangen war? Der ursprüngliche Dram hatte ausführliche Tagebücher hinterlassen, doch es gab sicher eine ganze Reihe von Dingen, die niederzuschreiben er zu vorsichtig oder zu schlau gewesen war, weil sie im Fall einer Entdeckung gegen ihn verwendet werden konnten. Dram der Klon seufzte resignierend. Das Leben als Klon war schon schwer genug, auch ohne die Tatsache, daß das Original ein verschlagener, heimtückischer und doppelzüngiger Bastard gewesen war. Der Nachrichtenmann Tobias Shreck, in besseren Tagen auch als Tobias der Troubadour bekannt, traf zusammen mit seinem Kameramann Flynn in einer großen hölzernen Kiste auf dem Planeten Virimonde ein. Die Kiste war außen mit dem Aufdruck Maschinenteile gekennzeichnet. Der Abstieg durch die Atmosphäre in dem dunklen, eisigkalten Hangar des Frachtschiffs war ein immer schlimmer werdender Alptraum aus Stoßen und Rütteln. Tobias hatte sich zu einer Kugel zusammengerollt und den Kopf zwischen die Beine gelegt, um sich nicht dauernd an dem niedrigen Kistendeckel zu stoßen. Er klammerte sich mit den Händen grimmig an die eigens dazu ge-schaffenen Handgriffe und lenkte sich ab, indem er sich böse Todesanzeigen für die Bastarde ausdachte, die auf die Idee gekommen waren, Flynn und ihn auf diese Weise nach Virimonde einzuschleusen. Im Grunde genommen war es seine eigene Schuld. Nach den Traumata und Tränen und der verdammt harten Arbeit der Berichterstattung von drei aufeinanderfolgenden Kriegsschauplätzen hatten Tobias und Flynn sich förmlich danach gesehnt, eine Reportage von einem Ort zu liefern, wo man nicht unablässig auf sie schoß. Und als der Rat der Untergrundbewegung ihnen angeboten hatte, zu einer bäuerlichen Agrarwelt weitab vom Geschehen, irgendwo im Hinterhof des Imperiums zu gehen, da hatten Tobias und Flynn sich gegenseitig zu übertrumpfen gesucht, wer am schnellsten Ja! rufen konnte. Der Auftrag war den beiden wie ein Kinderspiel erschienen. Sie sollten eine Studie des friedlichen ländlichen Lebens auf Virimonde abliefern, das von der wachsenden Mechanisierung der Nahrungs-mittelproduktion bedroht war. Sie sollten dokumentieren, wie jahrhundertealte Traditionen und der Lebensunterhalt hilfloser Menschen durch die verantwortungslose Imperiale Verwaltung zunichte gemacht wurden. Es war die Sorte Geschichte, die Tobias und Flynn auf dem Kopf stehend und mit verbundenen Augen hätten abliefern können, wären da nicht ein paar private Vorbehalte gewesen. Nach Tobias’ Erfahrung tendierten lange bestehende ländliche Kommunen zur Inzucht, sowohl was die Menschen, als auch was ihre Vorstellungen anging. Das Ergebnis waren Gesellschaften, die sich jeder Veränderung wi-dersetzten, egal ob zum Guten oder Schlechten, und Familien mit weniger als der üblichen Anzahl Augen im Kopf, einem völlig Verblödeten in ihrer Mitte und einem durchschnittlichen Intelligenzquotienten, der in der Höhe der Zimmertemperatur – wenn auch in Fahrenheit lag. Lieblingssportarten: Den Ochsen des Nachbarn verführen, Katzen von hohen Dächern werfen, um herauszufinden, ob sie tatsächlich auf allen vieren landeten und Hexenverbrennungen – oder Journalisten, wenn keine Hexen zur Hand waren. Aber selbst unter Berücksichtigung all dessen mußte Virimonde einfach besser sein als Technos III, die Nebelwelt oder Hakeldamach. Also packte Flynn seine verführerischste Unterwäsche ein, und Tobias schmiedete Pläne für ausgedehntes Faulenzen und so wenig Arbeit wie nur irgend möglich. Schließlich gingen sie an Bord des Schiffes nach Virimonde. Tobias schwante in dem Augenblick zum ersten Mal, daß die Dinge doch nicht so laufen würden wie geplant, als der Kapitän sie beide mit hinunter in den Frachthangar nahm und ihnen die große Holzkiste mit dem Aufdruck Maschinenteile zeigte. Nach einer Ewigkeit in völliger Finsternis, unendlich vielen gemurmelten Flüchen und der gelegentlichen Unsicherheit, wo oben und wo unten war, landete das Frachtschiff schließlich auf dem Raumhafen. Lange Zeit geschah gar nichts; dann wurde die Kiste ausgeladen und mit nach Tobias’ fester Überzeugung unnötig großer Wucht zu Boden gelassen. Dann wieder nichts, bis auf das Geräusch des startenden Frachtschiffs. Tobias wartete nervös schwitzend im Dunkel. Nur wenig Licht strömte durch die Ritzen in der Kiste. Sie wußten nicht, wo sie landen würden, oder ob freundliche Helfer in der Nähe waren. Sie konnten auch von einer ganzen Horde schwer bewaffneter Zollbeamter ohne jeglichen Sinn für Humor umgeben sein. Plötzlich wurden sie in ihrer Kiste durchgerüttelt, und Brech-stangen attackierten den Deckel. Dann wurde es unvermittelt hell, und grelles Sonnenlicht strömte herein . Tobias riß instinktiv die Hände vors Gesicht, um die tränenden Augen abzuschir-men. Schwielige Hände packten ihn grob, hoben ihn heraus und stellten ihn auf die Beine. Tobias öffnete vorsichtig die Augen und blickte in ein freundlich grinsendes Gesicht. Er hätte es küssen mögen; doch er tat es nicht. Er wollte nicht, daß Flynn auf dumme Gedanken kam. Auf Virimonde herrschte früher Abend, und zwischen den dunkler werdenden Wolken leuchtete der Himmel in intensi-vem Rot. Die Dämmerung näherte sich rasch, und in der kühlen Luft hing ein erwartungsvolles Schweigen. Tobias und Flynn gingen draußen vor dem Farmhaus der Dakers auf und ab und bemühten sich, die verkrampften Muskeln in Rücken und Beinen wieder ein wenig zu entspannen. Die Luft roch wundervoll klar und unverschmutzt, wenn man von dem reich-haltigen Aroma des Dungs der verschiedenen Arten von Nutz-vieh absah, das auf dem Hof gehalten wurde. Das Haus war ein großes, massives Steingebäude mit einem strohgedeckten Dach und primitiven Wasserspeiern, und es war so alt, daß niemand in der Familie sich daran erinnerte, wann es eigentlich gebaut worden war. Tobias wußte, ohne nachzu-fragen, daß dies genau die Sorte Haus war, die nur eine Außen-toilette besaß. Er lächelte bei der Besichtigung des Hauses und verteilte höflich Komplimente, während er bei sich dachte, daß es höllisch heruntergekommen aussah. Die umgebende Landschaft war auch nicht das, was Tobias sich erhofft hatte: hauptsächlich Moorland mit weißer und roter Erika; Weideland für die zahllosen Tiere zwischen dem Haus und dem Horizont. Es sah eigentlich ganz idyllisch aus, aber entschieden zu rauh. Jedenfalls war es absolut nicht die Sorte Gegend, wo man sich zum Sonnenbaden hinbegab. Tobias seufzte innerlich und lauschte den Ausführungen seiner Gastgeber. Adrian Daker, das Familienoberhaupt, war ein kleiner stämmiger Bursche mit kurzgeschnittenem, grauem Haar, der ununterbrochen freundlich grinste und eine Tonpfeife im Mundwinkel hängen hatte. Seine Stimme klang nur wenig rauchig, und sein Gesicht sah völlig normal aus: alles am richtigen Platz. Adrians Frau Diana war ein großes fettes Weibsbild mit roten Wangen, Sommersprossen und leuchtendroten Haaren. Sie sprühte nur so vor Leben und Freundlichkeit und munterte Tobias mit dem Versprechen auf, ihm so viel derbe Haus-mannskost aufzutischen, wie er nur essen konnte. Als Tobias und Flynn sich endlich so weit erholt hatten, daß sie wieder stehen konnten, ohne vor Schmerz zusammenzuzuk-ken, führten die Dakers sie in die Küche ihres Hauses und hießen sie am großen Tisch Platz zu nehmen. Anschließend wu-selten die beiden geschäftig umher und bereiteten ein warmes Essen vor. Adrian deckte den massiven hölzernen Tisch mit einer blendend weißen Decke und legte dann das schüchtern aus, was offensichtlich das beste Geschirr und Besteck der Dakers war. Diana schwebte über ihrem gußeisernen Herd wie eine Glucke, hob Topfdeckel und kostete den Inhalt von Töpfen und Pfannen und wollte nicht aufhören, Tobias und Flynn zu versichern, daß sie nur allzu gerne schon bei ihrer Ankunft eine warme Mahlzeit bereitgehalten hätte, wenn nur der Untergrund nicht so vage gewesen wäre, was ihre genaue Ankunfts-zeit betraf. Tobias verstand nur zu gut, was sie meinte. Der Rat der Rebellen hatte ihn bisher nicht gerade durch Effizienz beeindruckt. Er lehnte sich zurück und blickte sich gutgelaunt in der Küche um. Der Raum war klein, ohne beengt zu wirken, und es war behaglich warm und gemütlich. Die Regale an den Wänden drohten, unter einer Sammlung von Nippes zusammenzubrechen, offensichtlich handgearbeitete Stücke, von denen einige erstaunlich freizügig und vulgär wirkten. Adrian brachte eine Steinflasche mit dunklem Apfelwein zum Vorschein und schenkte großzügig in Porzellanbecher aus, die wie dicke alte Männer geformt waren. Er erklärte den beiden Nachrichtenleuten, daß diese Becher Tobybecher genannt würden, und sie alle lachten, obwohl Tobias den Witz nicht verstanden hatte. Mehrere Haustiere teilten die Küche mit den Menschen, anscheinend durch Gewohnheitsrecht und Brauch. Tobias zählte drei Hunde mit grausilbernen Mäulern, die zu alt waren, um noch Schafe zu hüten, ein halbes Dutzend Katzen verschieden stark ausgeprägter Arroganz und ein paar dumme Hühner, die umherwanderten und ständig gegen irgendwelche Dinge stießen. Die Hühner zeigten ein außergewöhnliches Interesse an Tobias’ und Flynns Knöcheln und pickten neugierig daran herum, bis Diana ihre Arbeit unterbrach und das Federvieh ver-scheuchte. Die Hunde schnüffelten ob des Essensgeruchs hoffnungsvoll in der Luft; aber sie waren zu gut erzogen, um aufdringlich zu werden. Einer ging zu Tobias und setzte sich vor dem Nachrichtenmann hin, und legte den Kopf in Tobias’ Schoß, um sich kraulen zu lassen. Tobias streichelte ihn vorsichtig. Er hatte nicht viel Erfahrung mit Tieren, und schon gar nicht aus so großer Nähe. Doch der Hundeschwanz wedelte glücklich über den Steinfußboden; also schien Tobias alles richtig zu machen. Genaugenommen machte es ihm sogar mächtig Spaß. Flynn hatte die Herzen der Katzen erobert. Zwei von ihnen drängten sich in seinen Schoß, während eine dritte auf seiner Schulter saß und neugierig in die Runde spähte. Flynn erzählte ihnen fröhlichen Unsinn, und die Katzen antworteten mit glücklichem Schnurren. Was Tobias verunsicherte war die Tatsache , daß die verdammten Biester tatsächlich zuzuhören schienen. Schließlich war das Essen fertig; eine einfache Mahlzeit, aber reichlich und kochend heiß obendrein. Tobias hielt es für das beste Essen, das er je gekostet hatte, und als er das laut sagte, wurde sein Teller erneut bis zum Rand gefüllt. Auch die zweite Portion war in Rekordzeit verschlungen, und Tobias dachte bereits ernsthaft über die Möglichkeit einer weiteren Portion nach, als das Dessert eintraf: Eine gewaltige Mousse au Choco-lat mit cremiger Vanillesauce. Tobias glaubte, im Himmel zu sein. Nach einer Weile hatte er einen Punkt erreicht, wo selbst mit aller Macht nichts mehr in ihn hineinging. Er ließ sich zu-rücksinken, lockerte seinen Gürtel und seufzte glückselig. Diese Mission versprach großartig zu werden. Adrian Daker grinste ihn freundlich an. »Als ich Euch zum ersten Mal sah, wußte ich gleich, daß Ihr gerne und gut eßt. Keine Angst, mein Sohn; die Frau wird Euch gutes und gesundes Essen auftischen, soviel Ihr wollt, während Ihr unsere Gäste seid. Sie mag es, wenn man ihre Küche zu schätzen weiß.« »Ganz ausgezeichnet«, sagte Flynn unter seinen Katzen. Er hatte einen Teller von allem gegessen und war rundum satt und zufrieden. »Und das ist nur ein Teil von dem, was wir verlieren werden, wenn die Mechanisierung so weitergeht«, sagte Adrian ernst. »Dieses Leben und einfaches Essen und einfache Freuden, die uns nicht weniger wichtig sind. Wenn die Gerüchte zutreffen, steht hier alles vor dem Ende. Ich hoffe nur, das Ihr das in Eurem Bericht deutlich macht.« »Es wird mir eine Freude sein«, erwiderte Tobias. »Ich schätze, wir fangen mit ein paar Einstellungen von Euch und Eurer Familie an, die zeigen, wie alle auf der Farm arbeiten. Wie viele Mitglieder hat Eure Familie?« »Sieben Söhne und drei Töchter«, antwortete Diana fröhlich. »Gute starke Söhne und hübsche Töchter. Die Jungen sind noch draußen bei der Arbeit; Ihr werdet sie später kennenlernen . Liz und Meg arbeiten in der Stadt; sie kommen morgen vorbei und sagen Guten Tag. Beide sind sehr hübsche Mädels, wenn ich das sagen darf. Sie könnten schon längst verheiratet sein, aber sie sind sehr wählerisch. Ich nehme nicht an, daß einer von Euch beiden Herren…?« »Laß sie in Ruhe, Mutter«, unterbrach sie Adrian mit Lach-fältchen um die Augen. »Das ist nicht der Grund, warum sie hergekommen sind. Wir haben noch eine dritte Tochter, Alice; aber ich glaube nicht, daß Ihr viel von ihr zu sehen bekommen werdet. Sie ist mit dem jungen Todtsteltzer zusammen und verbringt den größten Teil ihrer Zeit in seiner Gesellschaft.« »Wie ist er?« fragte Tobias. »Er gehört zu den Leuten, über die wir berichten sollen.« Adrian zuckte die Schultern und stopfte sich seine Pfeife mit einem dunklen, aromatischen Tabak. »Er scheint harmlos zu sein. Reich, gutaussehend und zum Glück größtenteils nicht daran interessiert, sich in unser Leben einzumischen. Wahrscheinlich das Beste, was uns passieren konnte. Außerdem sind wir ein wenig stolz darauf, daß er sich mit unserer Alice einge-lassen hat.« »Das interessiert die Herren bestimmt nicht, Vater«, sagte Diana. Sie beugte sich in ihrem Stuhl vor und legte die schweren Arme auf den alten Holztisch. »Sie wollen wissen, wie weit wir mit unserer Demokratie gekommen sind, nicht wahr? Das ist es, was die Untergrundbewegung von Golgatha wirklich interessiert, oder? Das dachte ich mir. Wir fingen damit an, als Owen noch der Todtsteltzer war. Wir wollten herausfinden, wie weit wir gehen konnten. Owen kümmerte es nicht. Er war damals noch anders. Zufrieden mit seiner Mätresse und seinen Studien, und er wollte nicht von uns belästigt werden. Der Steward war schon immer gegen uns; aber ohne Rückendek-kung durch Owen konnte er nichts unternehmen. Wir fingen klein an und fügten einen kleinen Sieg zum andern, bis wir dort anlangten, wo wir heute stehen. Inzwischen halten wir regelmäßig Wahlen für die Stadtverwaltung ab, und die meisten Entscheidungen über Ackerbau und Viehzucht werden regional gefällt. Wir alle haben gutes Geld verdient, seit wir selbst mit den großen Transportunternehmen verhandeln dürfen. Wir führen heute unser eigenes Leben, soweit das im Imperium überhaupt möglich ist. Der Steward ist ganz und gar nicht glücklich darüber; aber David Todtsteltzer hat uns sogar darin ermutigt. Obwohl es mich ehrlich überraschen würde, wenn er alles wüßte, was in den Städten und hier draußen auf dem Land so vor sich geht. Er und sein junger Freund Sommer-Eiland interessieren sich mehr für die Jagd, fürs Trinken und für die Mädchen. Nicht notwendigerweise in dieser Reihenfolge, möchte ich hinzufügen.« Diana und Adrian kicherten über ihren Witz. Tobias fand es nicht so lustig. »Erzählt mir mehr über den jungen Sommer-Eiland.« Zum ersten Mal runzelte Adrian die Stirn. »Wir wollen verdammt sein, wenn wir wissen, was wir von ihm zu halten haben, was, Mutter? Er sieht gut aus und ist höflich. Er macht nicht sonderlich viel Aufhebens. Aber… er ist eiskalt. Schwer zu sagen, was in seinem Kopf vorgeht. Einmal war er hier, zusammen mit David, um unsere Alice abzuholen. Die Hunde warfen einen Blick auf den Sommer-Eiland und verkrochen sich unter dem Tisch. Sie kamen erst wieder hervor, als er gegangen war. Um ehrlich zu sein, ich wäre am liebsten ebenfalls verschwunden. An seinen Augen ist etwas… ich wußte nicht, ob er mich auf der Stelle töten wollte oder nicht. Ich wäre nicht überrascht, wenn er böses Blut in sich trägt.« »Bei Hofe nennen sie ihn Kid Death«, sagte Flynn leise. »Der lächelnde Killer.« »Ich kann nicht sagen, daß mich das überrascht«, gestand Adrian. Er runzelte die Stirn und suchte nach den richtigen Worten. »Nicht, daß er irgend etwas gesagt oder getan hätte, an dem man Anstoß nehmen könnte, aber… Der Sommer-Eiland ist ein gefährlicher Mann, oder ich habe noch nie einen gesehen. Ich weiß nicht, was der junge Todtsteltzer an ihm findet, aber sie scheinen eng befreundet. Hängen ständig zusammen.« »Zu oft, wenn du mich fragst, Vater«, sagte Diana. »Mutter…« »Meint Ihr, der Todtsteltzer könnte Einwände gegen unsere Anwesenheit hier auf Virimonde äußern?« erkundigte sich Tobias. Adrian hob eine Augenbraue. »Ich dachte immer, er sympathisiert mit der Untergrundbewegung?« »Das hat er auch. Aber er hat sich kürzlich… distanziert. Ich vermute, das kommt davon, wenn man unvermutet einen ganzen Planeten beherrscht.« »Ich bezweifle, daß ihn Eure Anwesenheit auch nur im geringsten stört«, sagte Diana. »Aber vermutlich ist es besser, wenn wir den Steward ablenken, bis Ihr wieder verschwunden seid. Er ist ein harter Mann. Dem Imperium treu ergeben. Verneigt sich vor allem, was einen Titel trägt, und herrscht über uns, als wäre er selbst ein Aristokrat. Wahrscheinlich hält er sich für etwas Besseres, der verdammte Dummkopf. Ich erinnere mich noch, daß er keine zwanzig Meilen von hier auf einer Farm aufgewachsen ist. Nein, meine Herren, Ihr beide erledigt einfach Euren Auftrag, und wir sorgen dafür, daß Euch niemand dabei in die Quere kommt.« »Wir freuen uns schon darauf, Euren Bericht zu sehen, wenn er fertig ist«, sagte Adrian. »Die Frau und ich, wir sind große Fans von Euch. Wir waren sehr beeindruckt von Eurem Bericht über die Geschehnisse auf Technos III.« »Das habt Ihr gesehen?« fragte Flynn, während er sich be-mühte, eine weitere Katze daran zu hindern, auf seinen Kopf zu klettern. »Wir haben einen Holoschirm«, erklärte Adrian stolz. »Wir sind hier draußen nicht am Ende der Welt, auch wenn es so aussieht.« Ein lautes Summen ertönte aus dem Nachbarzimmer. Adrian und Diana warfen sich verblüffte Blicke zu. »Wenn man vom Teufel spricht«, sagte Adrian. »Das ist das verabredete Zeichen vom Untergrund. Eine Nachricht kommt herein. Ich habe allerdings keine erwartet.« »Wahrscheinlich wollen sie mit unserem Besuch reden«, sagte Diana. »Sicherstellen, daß sie heil und unversehrt gelandet sind.« »Zweifellos, Mutter. Ich gehe und sehe nach.« Adrian erhob sich und ging paffend ins angrenzende Zimmer. Als er wenige Augenblicke später wieder zurückkehrte, hielt er die Pfeife zitternd in der Hand, und jegliche Gelassenheit war aus seinem Gesicht verschwunden. »Ihr kommt besser rasch«, sagte er zu Tobias und Flynn. »Sie wollen mit Euch reden. Mutter, ruf die Jungs herein. Wir müssen uns vorbereiten. Schlimme Dinge kommen auf uns zu.« Diana sprang wortlos auf und rannte nach draußen. Flynn und Tobias schubsten die verschiedenen Katzen und Hunde von sich und folgten Adrian in das andere Zimmer, wo ein großer Holoschirm die halbe Wand einnahm. Ein unbekanntes Gesicht blickte streng aus dem Bildschirm auf die drei Menschen herab und schien seine Sorgen nur mit Mühe verbergen zu können . »Shreck, Flynn, Ihr müßt aufbrechen. Augenblicklich. Es ist nicht mehr sicher für Euch.« »Warum?« fragte Tobias. »Was ist geschehen? Wurden die Dakers denunziert? Weiß das Imperium von unserer Anwesenheit?« »Nichts von alledem spielt noch eine Rolle«, erwiderte das Gesicht. »Bald kracht es auf Virimonde ganz gewaltig. Verschwindet, solange Ihr noch könnt. Jeden Augenblick können Imperiale Truppen landen, überall auf dem Planeten. Wir haben die Stevie Blues geschickt. Sie sind schon da und vertreten uns bei den einheimischen Rebellen. Sie müßten in Eure Richtung unterwegs sein. Seht zu, daß Ihr Euch ihnen anschließen könnt. Wenn das nicht geht, versucht die Todtsteltzer-Festung zu erreichen. Vielleicht kann der Todtsteltzer Euch schützen, bis wir eine sichere Passage für Euch organisiert haben.« »Aber warum denn?« fragte Tobias erneut. »Was ist denn los?« Das Gesicht wirkte mit einemmal müde und verhärmt , als wäre jegliche Kraft aus ihm gewichen. »Die Imperatorin hat David Todtsteltzer für vogelfrei erklärt, weil er seinen Bauern erlaubt hat, mit der Demokratie zu experimentieren . Der gesamte Planet steht unter Kriegsrecht , und jede Gegenwehr wird im Keim erstickt. Die Bevölkerung wird als aufständisch betrachtet. Jeder Mann , jede Frau und jedes Kind auf Virimonde werden unter Arrest gestellt, verurteilt und anschließend depor-tiert oder erschossen, wenn auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Drei Imperiale Sternenkreuzer kreisen bereits im Orbit um Virimonde. Weitere sind auf dem Weg. Überall landen Truppen. Das Imperium hat den ausgiebigen Einsatz von Kriegsmaschinen gebilligt. Das wird eine harte und bösartige und verdammt blutige Angelegenheit, und zwar schon bald. Verschwindet von Virimonde, so schnell Ihr könnt.« Der Schirm wurde dunkel. Die Hunde in der Küche bellten laut, als sie die Aufregung und Nervosität der Menschen spürten. Tobias und Flynn schauten sich an. »Also schön«, meinte der Kameramann und bemühte sich um einen gelassenen Tonfall. »Soviel also zu unserem Versuch, einem Kriegsgebiet aus dem Weg zu gehen. Gehen wir zur Festung?« »Ich schätze ja. Die Stevie Blues können überall sein, und bis zur Festung ist es nicht weit. Vielleicht haben wir unterwegs Gelegenheit, ein paar gute Aufnahmen zu schießen. Nur damit die Mission kein völliger Fehlschlag wird. Weißt du, ich wünsche mir nur ein einziges Mal, daß sich die Dinge so entwik-keln, wie ich sie geplant habe.« Flynn zuckte die Schultern. »So ist das Leben, Tobias. Jedenfalls unser Leben. Wir sagen unseren Gastgebern jetzt besser auf Wiedersehen und machen uns auf den Weg. Wir können schließlich nicht wissen, wie nah die Truppen schon sind.« Sie gingen in die Küche zurück. Die Hunde liefen aufgeregt durcheinander. Die Katzen hatten sich auf hohe Regale zurückgezogen und beobachteten das Geschehen unter sich aus wach-samen, erfahrenen Augen. Adrian Daker hatte den schweren Tisch zur Seite geschoben und eine bis dahin verborgene Fall-tür im Boden geöffnet. Eine Holztreppe führte in einen geheimen Kellerraum. Adrian kehrte soeben mit einem Arm voller Waffen aus dem dunklen Loch zurück . Er ruckte Flynn und Tobias ruhig zu und legte die Waffen auf den Tisch zu den anderen, die er bereits nach oben geschafft hatte. Es waren Unmengen von Waffen, größtenteils Projektilwaffen und Berge von Munition, aber auch ein paar Disruptoren. Auf dem Tisch einer einfachen Bauernfamilie sah der Waffenberg beeindruk-kend aus; doch Tobias wußte, daß sie damit nichts gegen eine anrückende Armee auszurichten vermochten, die zudem noch von Kriegsmaschinen unterstützt wurde. »Besser, Ihr verschwindet jetzt von hier, Jungs«, sagte Adrian. »Wahrscheinlich wird es hier bald ziemlich laut. Sieht ganz danach aus, als hätte die Rebellion ein wenig zu früh angefangen.« »Werdet Ihr hier denn sicher sein?« fragte Tobias. »So sicher wie überall«, antwortete Adrian, während er mit schnellen, geübten Bewegungen die Schutzhüllen von den Waffen streifte. »Sie brauchen eine Armee, um dieses Haus zu stürmen, und mit Mutter und den Jungs bei mir wird das Imperium mit Blut und Leid für den Versuch bezahlen, uns das Land zu nehmen. Dieses Land hier ist seit unzähligen Generationen im Besitz der Dakers, und sie werden uns nicht von hier verjagen, solange noch eine Kugel in einem Gewehrlauf steckt und es einen Daker gibt, der die Waffe abfeuern kann. Geht jetzt, solange noch alles ruhig ist. Haltet Euch genau in Richtung Norden, dann kommt Ihr zur Festung. Im Stall hinter der Scheune findet Ihr einen Flieger . Die Energiekristalle sind ein wenig schwach, aber sie sollten für den größten Teil der Strek-ke reichen. Bleibt tief unten und haltet Euch in Deckung. Die Einheimischen wissen schließlich nicht, wer Ihr seid, und am Ende schießen noch beide Seiten auf Euch. Viel Glück, Jungs, und auf Wiedersehen.« Die Tür flog krachend auf, und Diana stürmte herein. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Sie gestikulierte aufgeregt mit dem Kommunikator in der Hand. »Ich kann die Jungs nicht erreichen! Der Kanal ist offen, aber keiner antwortet!« Weit in der Ferne erklang das Geräusch einer Explosion, unmittelbar gefolgt von einer zweiten . Alles rannte nach draußen. Adrian riß eine Waffe vom Tisch und folgte. Draußen wurde es dunkel . Das Donnern von Energiewaffen durchschnitt klar und deutlich die Stille. Draußen auf dem von Erika überwucherten Moor rannte das Vieh verwirrt durcheinander, und etwas weiter weg schrie irgend jemand. Diana Daker trat zu ihrem Mann, der das Gewehr an die Brust drückte wie einen Talisman. »Meine Jungs!« flüsterte Adrian Daker. »Meine armen Jungs!« David Todtsteltzer und Kit Sommer-Eiland, die beiden brand-gefährlichen Kämpfer, lagen schlafend auf dem Boden der Stiefmütterchen-Taverne. Eine freundliche Seele hatte sie mit ihren Umhängen zugedeckt; doch sie waren zu betrunken gewesen, um dies zu bemerken. Der Todtsteltzer murmelte leise vor sich hin und knirschte im Schlaf mit den Zähnen. Vielleicht machte ihm ein Traum zu schaffen. Der Sommer-Eiland schlief friedlich, und sein Gesicht sah so unschuldig aus wie das eines Kindes. Nicht weit von den beiden entfernt saßen zwei gutaus-sehende junge Frauen an einer langen hölzernen Theke und klammerten sich an ihre nahezu leeren Bierkrüge. Sie musterten die schlafenden Gestalten mit gutmütiger Toleranz. Sie waren die Freundinnen der beiden schlummernden Freier, Alice Daker und Jenny März. Alice war ein großer, schlanker Rot-schopf mit einem wunderbaren Busen – oder, wie David zu sagen pflegte, mit einem Balkon, von dem herab man Shake-speare rezitieren konnte . Sie besaß ein breites Lächeln, fun-kelnde Augen und genug Geduld für den Humor des Todtsteltzers, der hin und wieder ein wenig… derb sein konnte. Sie trug die hübschesten und teuersten Seidenkleider, genug Schmuck und Juwelen, um damit ein eigenes Geschäft eröffnen zu können und war nach der neuesten Mode geschminkt und frisiert, und das alles verdankte sie dem Todtsteltzer. Sie war eine gute Zuhörerin, eine unermüdliche Tänzerin und kannte sämtliche Trinklieder, ganz besonders die zotigen. Ihre Freundin Jenny war ein großer, geisterhaft blasser Typus mit rabenschwarzen Haaren, scharfen Gesichtszügen und einer noch schärferen Zunge. Sie besaß eine schlanke, fast knaben-hafte Figur und genügend nervöse Energie für eine kleinere Stadt. Auch sie war nach der neuesten Mode gekleidet und geschminkt, dank ihres Freundes, dem Sommer-Eiland. Jenny lächelte häufig , lachte fast nie und war immer auf der Suche nach dem ganz großen Los. Und im Augenblick sah alles ganz danach aus , als wäre Kit Sommer-Eiland dieses Los. Es war früh am Morgen, beinahe drei Uhr. Das Ende eines weiteren langen Abends mit soviel Spaß und Alkohol, wie der Körper nur vertragen konnte. Und da der Todtsteltzer alles zahlte, fehlte es auch nicht an Freunden, die ihnen bei ihrem Gelage Gesellschaft leisteten. Schließlich jedoch hatte einer nach dem anderen aufgegeben und war in Richtung Heimat aus der Taverne gewankt. Der Inhaber der Taverne hatte gegen zwei Uhr morgens ebenfalls aufgegeben, hatte die Tür abgeschlossen und war zu Bett gegangen. Sollten die verbliebenen Zecher doch sehen, wie sie zurechtkamen. Es war schließlich nicht das erste Mal, daß dies geschehen war, und es war auch nicht so, daß er sich Gedanken machen müßte, sie würden seine Destille leer trinken. Irgendwann hatte auch die Konstitution des Todtsteltzers und des Sommer-Eilands nicht mehr durch-gehalten und nach Schlaf verlangt. Also hatten sie sich, anstatt sich auf den langen Weg nach Hause zu machen, einfach auf dem Boden der Taverne ausgestreckt und waren eingeschlafen. Alice und Jenny, durch lange Erfahrung klug geworden, hatten nur langsam getrunken und befanden sich nun in jenem fröhlichen, kontemplativen Stadium der Trunkenheit, wo das Hinlegen und Schlafengehen einfach zuviel Anstrengung bedeutete. Und so saßen sie einfach nur da und unterhielten sich leise über dem letzten Rest in ihren Gläsern. Und vielleicht waren sie ein wenig offener als gewöhnlich. »Gott, bin ich hungrig«, sagte Alice. »Meinst du, hinter der Theke gibt es noch irgendwas zu essen?« »Und wenn schon. Ich würde nichts davon anrühren«, erwiderte Jenny. »Ich weiß nicht, was er in seine Fleischkuchen tut; aber ich finde es erstaunlich, daß man in dieser Taverne nie eine Ratte sieht. Sein Brot hüpft wie Gummi, in der Suppe schwimmen merkwürdige Brocken, und die Snacks gehören zu der Sorte, die Kriege auslösen. Ich glaube, er züchtet sie in irgendwelchen dunklen Ecken, wo niemand hinsieht.« »Aber das Bier ist gut. Und der Wein. Und der Brandy auch.« »Das ist auch besser so. Bei den Preisen hier!« »Was kümmert’s dich?« fragte Alice grinsend. »Du mußt doch nichts davon bezahlen.« »Zugegeben«, gestand Jenny. »Ja, zugegeben. Ich schätze, die Jungs sind doch zu etwas gut.« Die beiden Frauen musterten das schlafende Paar. Alice liebevoll, Jenny ungerührt. Kit furzte im Schlaf. Keine der Frauen zuckte auch nur zusammen. »David ist in Ordnung«, sagte Alice nach einer Weile. »Ja, wirklich. Er ist ganz in Ordnung. Er sieht gut aus, prahlt nicht damit herum, und er ist reich wie die Hölle. Und er ist immer für mich da. Er redet nicht andauernd über die nächsten Wahlen oder über die Rebellion, als würde beides irgend etwas hier am Arsch der Welt verändern. Er besteht nicht nur aus Arbeit, Pflichterfüllung und Politik. Er ist meistens gut gelaunt und lacht gerne, und hin und wieder ist er richtig amüsant. Warum sind die einheimischen Jungs nicht so?« »Bauern!« antwortete Jenny verächtlich. »Sie wissen uns nicht zu schätzen. Das haben sie nie. Keiner von ihnen sieht weiter als bis zur nächsten Lämmerzeit oder Ernte, und sie machen sich nichts aus Mode, Stil oder Kunst und all den Dingen, die wirklich zählen. Und keiner von ihnen weiß, wie man eine Dame behandelt. Mein Gott, wie ich diese Gegend hasse! Ich will hier weg, weg von dieser Müllkippe, dieser Stadt, diesem ganzen stinkenden Planeten. Kit wird mich mit nach Golgatha nehmen. Er weiß es noch nicht; aber er wird mich mitnehmen. Er ist meine Fahrkarte nach draußen!« »Ich weiß nicht, wie du ihn ertragen kannst«, sagte Alice. »Ich meine, er ist Davids Freund, also muß er auch seine guten Seiten haben, aber ich schwöre dir, manchmal sehe ich ihn an und kriege eine Gänsehaut. Er bedeutet Ärger. Er ist gefährlich. Man sagt, er habe in der Arena von Golgatha eine ganze Menge Männer getötet.« »Das hat David auch«, entgegnete Jenny. Sie trank den letzten Rest aus ihrem Krug und stellte ihn krachend auf die Tischplatte. »Meine Güte, ich würde so gerne die Arena besuchen! Zusehen, wie Männer zu meinem Vergnügen miteinander kämpfen und sterben! Direkt vor meinen Augen, nicht auf dem Holoschirm. Außerdem ist Kit gar nicht so übel, ehrlich nicht. Er ist großzügig und stellt keine Forderungen. Vielleicht ein wenig abartig im Bett, aber er ist schließlich auch ein Aristo. Nicht, daß mich das stören würde. Ich könnte ihm sicher noch die eine oder andere Sache zeigen.« »Abartig?« erkundigte sich Alice grinsend. »Was meinst du mit abartig?« Jenny erwiderte das Grinsen. »Nun, sagen wir einfach, Kit sieht mich am liebsten von hinten.« »Jenny!« Alice versuchte schockiert dreinzublicken, doch es gelang ihr nicht. Die beiden begannen zu kichern und warfen Seitenblicke auf die Jungs, um sicherzugehen, daß sie noch immer sanft schlummerten. »Und was ist mit David?« erkundigte sich Jenny schließlich. »Hat er auch seine kleinen… Vorlieben oder Abneigungen?« »Nicht wirklich«, antwortete Alice. »Ich glaube ehrlich gesagt, er hat nicht viel Erfahrung mit Frauen. Er wird in den merkwürdigsten Augenblicken scheu. Aber ich denke, er mag mich. Ich meine, er mag mich wirklich. Der Süße.« »Kit ist da anders«, sagte Jenny. »Und dafür bin ich entschieden dankbar. Gefühle würden unsere Beziehung nur ver-komplizieren. Ich nehme von ihm, was ich kriegen kann, und das weiß er auch. Wir haben eine schöne Zeit, guten Sex, und keiner stellt Forderungen an den anderen. Ich glaube, Kit wüßte mit Liebe überhaupt nichts anzufangen, nicht einmal mit Zuneigung. Wahrscheinlich würde es ihn nur verwirren, weiter nichts.« »Er steht David sehr nahe«, sagte Alice und runzelte die Stirn. »Obwohl David mich mag und manchmal sogar liebt, so ist zwischen den beiden eine Nähe, die ich nicht einmal annähernd erreiche. Als hätte keiner der beiden je einen Freund besessen. Trotzdem bin ich diejenige, die David wirklich liebt. Er wird mich sogar heiraten. Auch wenn er es jetzt noch nicht weiß.« Jenny blickte ihre Freundin scharf an. »Heirat? Vergiß es, Alice. Vergiß es! Ein Bauernmädchen und ein Lord , das Familienoberhaupt eines mächtigen Clans? So etwas passiert nur in den Seifenopern auf dem Holoschirm. Wir sind nicht die, die Lords heiraten, Alice. Wir sind die Gespielinnen, mit denen man sich amüsieren kann, mit allem, was dazugehört. Wir kriegen ein paar gute Lacher und was sonst noch so dabei ab-fällt, und das war dann auch schon alles. Aristos mögen vielleicht Partys mit unsereinem feiern; aber sie heiraten uns nicht. Sie heiraten nur untereinander.« »Na gut, dann vielleicht nicht gerade heiraten« , sagte Alice. »Aber ich könnte doch seine Mätresse werden. Die Konkubine, oder wie auch immer die höfliche Umschreibung heutzutage lautet. Aristos heiraten aus politischen Gründen und wegen des Fortbestands ihrer Clans, nicht aus Liebe. Alles hat mit Allian-zen und gegenseitigen Vorteilen und der Erhaltung der Blutlinien zu tun, aber nie mit Liebe. Vielleicht bekommt eine andere Frau seinen Namen; aber sein Herz gehört immer noch mir.« »Auch wenn er im Bett nicht besonders gut ist?« »Das könnte ich ihm beibringen.« »Soll das vielleicht heißen, daß ich nicht dein süßer kleiner Deckhengst bin?« sagte David. Die beiden Frauen zuckten unwillkürlich zusammen und wandten sich um. David lag auf den Ellbogen gestützt da und musterte sie mit verschlafenem Blick. »Wie lange bist du schon wach?« fragte Alice in strengem Tonfall. »Lange genug«, gähnte David. »Wirklich sehr aufschlußreich, worüber Frauen sich unterhalten, wenn sie meinen, niemand hört ihnen zu.« »Was ist mit Kit?« fragte Jenny »Schläft der wenigstens noch?« »Wer kann schon schlafen, wenn ununterbrochen irgend jemand redet?« sagte der Sommer-Eiland und setzte sich auf. Er fuhr sich mit den Fingern durchs wirre Haar, schmatzte ein paarmal und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Ich könn-te schwören, das jede Nacht irgend etwas in meinen Mund kriecht und darin stirbt. Ich brauche dringend noch einen Drink.« »Nein, brauchst du nicht«, sagte Jenny bestimmt. »Leg dich wieder hin und schlaf erst mal den Rausch aus, den du noch hast.« »Machst du dir wirklich etwas aus mir?« fragte David und sah Alice aus großen Augen an. »Ja«, antwortete Alice und lächelte. »Hab’ ich dir das nicht oft genug gesagt?« »Ich muß es immer wieder hören«, erwiderte David. »Ich bin wirklich sehr schüchtern.« »Alle Männer wünschen sich, geliebt zu werden«, erklärte Jenny. »Eine sehr einträgliche Schwäche, jedenfalls für uns Frauen.« »Ich nicht«, sagte Kit. »Ich wüßte gar nicht, was ich mit Liebe anfangen sollte.« »Stimmt, aber du bist ja auch ein wenig wirr«, entgegnete David . Die beiden jungen Männer grinsten sich an, warfen die Um-hänge beiseite, die ihnen als Decken gedient hatten, und rappelten sich unter Ächzen und Stöhnen auf. Sie befanden sich genau in der verschwommenen Phase zwischen Trunkenheit und Kater. Sie setzten sich zu ihren Mädchen und gossen sich Ale aus dem großen Krug mitten auf dem Tisch in ihre Becher. Es war warm und schmeckte abgestanden; aber so war das Leben halt manchmal. Die Taverne wirkte kühl und ruhig und irgendwie abgeschieden vom Rest der Welt – jedenfalls so früh am Morgen. David nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Becher und verzog das Gesicht. »Gott, schmeckt das Zeug widerlich! Ich könnte schwören, daß mein Gaumen sich jedesmal schlafen legt, wenn ich diesen Laden betrete.« »Wo sind sie denn alle hin?« fragte Kit. »Ich wollte gerade anfangen. Ich kann die ganze Nacht durchmachen, wenn ich will. Ein wenig Aufregung wäre jetzt nicht schlecht .« »Ich bin hier«, sagte Jenny . »Ich meine wirkliche Aufregung. Ich vermisse das Kämpfen und die Duelle, die wir auf Golgatha hatten. Hier gibt es niemanden, der einen Kampf wert ist. Welchen Sinn macht es schon, der Beste mit dem Schwert zu sein, wenn man nie die Gelegenheit hat, es auch zu beweisen?« »Wer sagt denn, daß du der Beste bist?« fragte David. »Du magst vielleicht alle Tricks kennen, aber ich habe meinen Zorn.« »Eines Tages werden wir es herausfinden müssen«, sagte Kit. »Ja«, erwiderte David. »Eines Tages.« Sie grinsten sich an und tranken weiter. »Jetzt mal ehrlich«, meinte David schließlich. »Hast du in der Arena nicht schon genug Blutvergießen gehabt? Ich meine, wir haben in unserer kurzen Zeit auf dem blutigen Sand eine ganze Armee von Gegnern niedergemacht.« »Davon kann ich nie genug haben«, antwortete Kit. »Allerdings gibt es hier auf Virimonde ein paar ganz nette… Ablenkungen.« »Freut mich zu hören«, sagte Jenny. Sie legte den Arm um Kits Schulter, und er grinste sie an. »Wir können jederzeit wieder zurück nach Golgatha«, schlug David vor. »Nur für einen kurzen Besuch. Um zu sehen, ob wir vielleicht ein paar Leute durch die Arena scheuchen können. Irgendein Dummkopf meint immer, er wäre mit dem Schwert unschlagbar.« »Und was ist mit uns?« fragte Jenny. »Was soll mit euch sein?« fragte Kit. »Wenn ihr nach Golgatha geht, wollen wir mit euch kommen«, sagte Alice. »Es würde euch nicht gefallen«, meinte David. »Und warum nicht?« Jenny funkelte ihn wütend an. »Vielleicht, weil wir Bauern sind? Weil wir nicht kultiviert genug sind, um uns euren teuren Freunden und Familienmitgliedern zu präsentieren?« »Nun ja, äh… ja«, gestand Kit. »Fick dich!« schimpfte Jenny. »Vielleicht später«, entgegnete Kit. »Ihr könntet uns alles beibringen, was wir wissen müssen«, bettelte Alice. »O bitte, David! Ich wollte schon immer mal auf die Heimatwelt!« »Wir werden sehen«, lenkte David ein. »Wenn du artig bist – vielleicht.« »Oh, ich bin sehr artig«, sagte Alice. »Oder hast du das schon vergessen?« Sie grinsten. Jenny funkelte Kit an, und der Sommer-Eiland erwiderte gelassen ihren Blick. Die Konversation hätte in jede Richtung weitergehen können und wäre es wahrscheinlich auch, wäre nicht in diesem Augenblick ein Raumschiff draußen vom Himmel gestürzt. Das erste, was die Besucher des Stiefmütterchens davon bemerkten, war ein langgezogenes, an-schwellendes Heulen von überlasteten Maschinen hoch oben am Himmel über der Taverne. Die vier kamen schwankend auf die Beine, öffneten ein Fenster und starrten hinaus. Die Luft war kühl und ernüchternd, und die Sonne erschien gerade erst am Horizont. Durch die Wolken schoß heulend ein Schiff heran, dessen Hülle in Flammen stand. »Wer zur Hölle ist das?« fragte Alice. »Ich kann keine Abzeichen erkennen«, antwortete der Sommer-Eiland gelassen. »Das ist keins von deinen Schiffen, David, oder?« »Ich glaube nicht. Es trägt nicht mein Wappen. Außerdem weiß niemand , wo ich mich aufhalte. Wer auch immer das sein mag , er kommt verdammt schnell runter. Ich schätze , wir sollten vom Fenster verschwinden. Das ist sicherer. Falls das Schiff in der Nähe runterkommt, werden Wrackteile in alle Richtungen fliegen.« »Ich denke , es ist noch immer unter Kontrolle« , sagte Jenny. »Mehr oder weniger jedenfalls.« Das brennende Schiff raste über die Taverne hinweg , und das Brüllen der Maschine war auf die geringe Entfernung ohrenbetäubend. Der Boden erzitterte unter ihren Füßen, und kleine Rinnsale aus Staub und Sägespänen rieselten von der Balkendecke. Instinktiv duckten sich die vier; doch bis sie reagiert hatten, war das Schiff längst herumgeschwenkt und näherte sich erneut. Die Maschinen erstarben stotternd und erwachten wieder zum Leben; dann fiel es aus dem Himmel. Halb stürzte es, halb landete es draußen im Hof vor der Taverne. Der Boden bebte und riß die vier neugierigen Zuschauer von den Beinen. David rappelte sich als erster wieder auf, entriegelte den Eingang der Taverne und stürmte hinaus. Er hatte die wirre Vorstellung, Verletzte aus dem abgestürzten Schiff bergen zu wollen; doch in dem Augenblick, als die Tür den Blick auf das brennende Wrack freigab, blieb er wie angewurzelt stehen. Er riß einen Arm vors Gesicht, um sich vor der Hitze zu schützen, und Schweiß brach ihm aus allen Poren. Er wollte sich vorwärts zwingen, aber sein Körper gehorchte ihm nicht. Die schreckliche Hitze war einfach zuviel. Eine Hand packte ihn von hinten und zog ihn in die Taverne zurück. Irgend jemand anderes warf die Tür wieder zu und sperrte die Hitze aus. »Vergiß es« , sagte Kit und ließ David wieder los. »Niemand kommt lebendig aus dieser Flammenhölle.« »Zur Hölle , und ob!« rief Jenny vom Fenster her. »Das müßt ihr sehen!« Die anderen eilten zum Fenster und gesellten sich zu ihr. Draußen auf dem Hof loderten die Flammen höher hinauf als die Taverne. Irgend jemand im Innern des Schiffs hatte den Notausstieg geöffnet, und zwei Gestalten kletterten nach draußen. David und die drei anderen beobachteten entgeistert, wie sich die Flammen von der Luke zurückzuziehen schienen. Zwei Frauen mit identischen Gesichtern sprangen auf das geschwärzte Pflaster des Hofs und setzten sich auf die Taverne zu in Bewegung. Das flammende Inferno rings um sie herum schien sie nicht im mindesten zu beeindrucken. »Ich kenne diese Gesichter«, sagte Kit. »Das sind die Stevie Blues!« »Wie zur Hölle machen sie das nur?« fragte Jenny fasziniert. »Sie sind Klone, nicht wahr?« rief Alice aufgeregt . »Ich habe noch nie im Leben Klone gesehen!« »Wenn sie wegen uns gekommen sind, dann könnten wir in ernsthaften Schwierigkeiten stecken«, sagte David leise zu Kit . »Wir schulden dem Untergrund eine Menge Berichte. Gut möglich, daß der Rat der Rebellen zu dem Schluß gelangt ist, daß ein wenig Überzeugungsarbeit nottut, um uns wieder in Reih und Glied zu zwingen.« »Vielleicht wurden die Stevies auch geschickt, um uns zum Schweigen zu bringen«, sagte Kit. »Schließlich wissen wir eine ganze Menge über die Pläne der Untergrundbewegung. Gut gedacht, David. Ich mache schon noch einen richtigen Paranoi-ker aus dir.« »Also schön«, sagte David. »Die Taverne besitzt einen Hin-terausgang. Ich schlage vor, wir benutzen ihn. Auf der Stelle.« »Was ist los?« fragte Jenny. »Kennt ihr diese beiden?« Kit ignorierte sie. »Ich renne vor niemandem davon«, erklär-te er. »Außerdem sind sie nur zu zweit.« »Zwei Kampfesper und Feuerteufel sind mehr als genug, um diese Taverne zu Asche zu verbrennen, mitsamt allen, die dumm genug sind drinzubleiben, wenn sie erst einmal angefangen haben. Das da sind Elfen, Kit. Esper-Liberations-Front. Der radikale Hügel des radikalen Flügels. Sie machen nie Gefangene, außer, sie sind hungrig.« »Wir können es mit ihnen aufnehmen«, beharrte Kit. »Prima. Du nimmst die linke, und ich nehme die Beine in die Hand. Wir können nicht kämpfen, Kit! Wir tragen die Verantwortung für die Mädels. Also schön, Plan B. Wir reden sie tot. Niemand hat die Stevie Blues jemals übermäßiger Intelligenz bezichtigt. Sie sind impulsiv , psychotisch und tödlicher als ein wirklich schlecht gelaunter Hadenmann; aber sie sind nicht besonders helle. Wenn wir nicht den Kopf verlieren, können wir uns vielleicht aus allem herausreden, Kit.« »Ich würde sie viel lieber umbringen«, schniefte der Sommer-Eiland. »Ich weiß, Kit. Ich weiß. Aber das ist deine Standardantwort auf alles. Nur, daß die normale Taktik nicht bei jemandem funktioniert, der dein Schwert zum Schmelzen bringt, wenn er es nur ansieht.« »Das ist ein Argument«, gestand Kit. »Also gut, rede mit ihnen. Ich versuche, mich von hinten an sie heranzuschleichen, nur für den Fall.« »Klingt nach einem guten Plan«, sagte David. »Halt, Moment mal!« rief Alice. »Ihr kennt diese Leute? Ich höre dauernd Untergrund! Sind das vielleicht Rebellen?« »Klasse!« jauchzte Jenny. »Ich wollte schon immer mal ein paar Rebellen von anderen Welten kennenlernen!« Und dann schwang die Tür auf, und alle verstummten. Zwei Rebellinnen mit identischen Gesichtern betraten den Gastraum . Die jungen Frauen steckten in abgetragenen Lederkleidern mit Metallnieten und baumelnden Ketten über einem schmutzigen T-Shirt mit dem legendären ›Kein Feuer, keine Kohle kann brennen so heiß‹. Sie waren beide ungewöhnlich klein und stämmig und ausgesprochen muskulös. Ihr langes dunkles Haar war von bunten geknoteten Bändern durchsetzt, und sie hatten sich Kleckse in den gleichen Farbtönen auf die Gesichter gemalt. Vielleicht wären sie hübsch gewesen, hätten sie nicht dieses mißmutige Stirnrunzeln und den ernsten, gefährlichen Blick in den Augen gehabt. Sie nickten dem Todtsteltzer einen knappen Gruß zu, funkelten den Sommer-Eiland feindselig an und ignorierten die beiden Frauen völlig. »Ich bin Stevie Eins«, sagte die linke Frau. »Das da ist Stevie Drei. Verwechselt uns nicht, das können wir nämlich gar nicht vertragen!« »Genau«, stimmte Stevie Drei ihrer Zwillingsschwester zu. »Wir sind nämlich wirklich ganz verschieden, wenn man uns erst etwas näher kennt.« »Schön, Euch wiederzusehen«, sagte David und bemühte sich nach Kräften, einen entspannten Tonfall und Gesichtsausdruck an den Tag zu legen. Es gelang ihm nicht ganz. »Was führt Euch den weiten Weg zu mir nach Virimonde, wenn ich fragen darf?« »Ihr selbst«, erwiderte Stevie Eins. »Aber Ihr könnt die Hand von Eurem Schwert nehmen, Todtsteltzer. Und Sommer-Eiland, das ist der dilettantischste Versuch, sich von hinten an jemanden heranzuschleichen, den ich je erlebt habe. Entspannt Euch, Leute. Wir sind gekommen, um Euch zu helfen. Es bro-delt gewaltig über Virimonde, und bald bricht hier die Hölle los. Ihr wurdet für vogelfrei erklärt, David Todtsteltzer.« Davids Kinnlade fiel herab. Er hörte das erschrockene Ächzen der Mädchen; doch für den Augenblick hatte es ihm die Sprache verschlagen. Er fühlte sich, als hätte ihm jemand in den Magen geboxt und dadurch die Luft aus seinen Lungen getrieben. »Was soll das heißen, vogelfrei?« stieß er schließlich mühsam hervor. »Das soll heißen, die Löwenstein will Euren Kopf auf einem Pfahl«, antwortete Stevie Eins. »Eure Festung ist verwirkt. Virimonde gehört nicht länger Euch, und eine große Belohnung erwartet jeden, der Löwenstein Euren Kopf bringt, vorzugsweise ohne Körper daran, damit die Eiserne Hexe Euch ins Gesicht spucken kann.« »Aber warum?« fragte David mit klagender Stimme. »Ich war ein guter Lord! Ich habe den Kopf unten gehalten und die Löwenstein nie geärgert. Genau wie mit dem Untergrund abgesprochen.« »Sehr amüsant«, sagte Stevie Drei. »Ich glaube, die Eiserne Hexe weiß noch nicht einmal, daß Ihr zu den Rebellen gehört. Sie will Euren Kopf, weil Ihr die lokale Demokratie zugelassen habt und weil Ihr Euch ihren Plänen zur Automatisierung dieser Welt widersetzt. Ihr hättet gegenüber Eurem Steward nicht so offen reden dürfen. Und Ihr hättet wirklich nicht damit drohen sollen, die Versammlung der Lords anzurufen. Für die Löwenstein bedeutet das Konspiration gegen die Krone. Jeder Lord des Imperiums versucht inzwischen, soviel Abstand zwischen sich und Euch zu bringen, wie nur irgend möglich. Alle spüren, aus welcher Richtung der Wind weht. Zum Glück für Euch gehören Alices Eltern zu den Rebellen. Sie haben uns verraten, wo wir Euch finden . Die schlechte Nachricht lautet, daß Imperiale Schiffe uns während der Landung unter Beschuß genommen haben. Unser Schiff ist hin. Vergeßt also die Hoffnung auf eine Mitfahrgelegenheit zu einer anderen Welt. Wir stecken hier alle zusammen fest. Am besten rennt Ihr wie der Teufel zu Eurer Festung zurück und verbarrikadiert Euch dort. Wir werden in der Zwischenzeit versuchen, eine Fluchtmöglichkeit zu organisieren. Die Imperatorin darf Euch auf gar keinen Fall in die Hände bekommen. Ihr wärt eine so fette Beute, daß sie vor Selbstzufriedenheit platzen würde.« »Na, ich danke auch schön«, sagte David. »Halt, Moment mal«, unterbrach ihn Kit. »Was ist mit mir? Bin ich ebenfalls vogelfrei?« »Zur Hölle, nein!« sagte Stevie Eins. »Ihr seid noch immer der Liebling der Eisernen Hexe. Ihr Lieblingskiller, abgesehen vom Prinzgemahl.« »Es sei denn, Ihr versucht, dem Todtsteltzer zu helfen und ihn zu verteidigen«, sagte Stevie Drei. »In diesem Fall werdet Ihr neben ihm vor Gericht gestellt.« »Sie hat recht, Kit«, sagte David. »Besser , wir trennen uns. Wenn sie dich in meiner Begleitung vorfinden, könnten sie dich der Komplizenschaft für schuldig erklären. Ich nehme den Flieger in der Scheune und mache mich auf den Weg zur Festung. Du und die beiden Stevies bringen die Mädchen in Sicherheit.« »Vergiß es«, widersprach Kit. »Ich lasse dich nicht im Stich. Ohne meine Hilfe würdest du keine zehn Minuten durchhalten.« »Aber du riskierst dein Leben!« sagte David. »Wunderbar«, erwiderte Kit. »Es war mir hier sowieso viel zu ruhig. Habe ich nicht dauernd gesagt, daß ich ein wenig Aufregung vertragen könnte? Ich schlage vor, wir benutzen zunächst einmal den Holoschirm der Taverne, um nachzusehen, wie es bei der Festung aussieht. Du hast nicht nur Freunde dort, wie du weißt.« »Gutes Argument«, gab David zu. »Alice, Jenny, ihr verschwindet jetzt besser. Geht nach Hause und bleibt in Dek-kung, bis das hier alles vorbei ist. Wenn sie euch fragen, dann kennt ihr uns nur vom Sehen. Das ist wahrscheinlich sicherer für euch.« »Ich fürchte, ganz so einfach wird es nicht«, bemerkte Stevie Drei. »Ihr habt noch nicht alles gehört.« David starrte sie an. »Was denn, reicht das nicht?« »Ihr seid nicht der einzige, dem es an den Kragen gehen soll«, sagte Stevie Eins. »Der gesamte Planet ist für vogelfrei erklärt worden. Normalerweise würde das bedeuten, ihn aus dem Orbit herab zu sengen, aber die Löwenstein hat Pläne mit Eurer Welt. Deswegen hat sie Truppen geschickt, um die Rebellen zu bestrafen und die Überlebenden unter direkten Befehl des Imperiums zu stellen. Die ersten Schiffe müßten in diesem Augenblick landen. Es herrscht Krieg, Todtsteltzer. Der ganze Planet wird angegriffen!« »Meine Eltern!« flüsterte Alice wie betäubt vom Schock der Neuigkeiten. »Sie sind in führenden Positionen bei der lokalen Untergrundbewegung! Wenn das Imperium unsere Reihen infiltriert hat, dann werden sie zu Zielscheiben! Wir müssen sie warnen, David.« »Das Wichtigste zuerst«, sagte Kit. »Zuerst sehen wir nach, wie es bei der Festung aussieht.« »Du bist also auch eine Rebellin?« fragte David sein Mädchen. »Warum hast du mir nichts davon erzählt?« »Zur Hölle, wir sind alle Rebellen hier auf Virimonde. »Es gibt nicht viel Aufregendes auf so einem Hinterweltplaneten wie diesem .« »Die Festung«, drängte Kit . »Wir müssen wissen, was mit der Festung ist.« Sie versammelten sich vor dem Holoschirm an der Wand der Taverne, und David gab die Nummer der Festung ein, wobei er die Notfallkodes benutzte. Der Steward meldete sich augenblicklich, als hätte er den Anruf erwartet. »Wo seid Ihr, Mylord? Seit Stunden versuche ich Euch zu finden! Es ist von allergrößter Wichtigkeit, daß Ihr in die Festung zurückkehrt, um Euch gegen die lächerlichen Anklagen zu verteidigen, die man gegen Euch erhoben hat.« »Wo ist mein Sicherheitschef?« fragte David. »Er ist derjenige, der auf meinen Notfallkode antworten sollte.« »Er hat im Augenblick keine Zeit, Mylord«, erwiderte der Steward. »Hier herrscht ein ziemliches Durcheinander, wie Ihr Euch sicher gut vorstellen könnt. Sagt mir, wo Ihr seid, Mylord, damit ich einen gepanzerten Flieger zu Euch schicken und Euch in Sicherheit bringen kann.« »Schalte das Ding ab!« warnte Kit. »Wenn der Steward den Befehl hat, dann sind deine Leute tot. Der Steward ist der Bastard, der dich verraten hat.« »Ich muß darauf bestehen, daß Ihr mir Euren Aufenthaltsort verratet, Mylord«, drängte der Steward. »Die Gefahr für Euch wächst von Minute zu Minute, wenn Ihr Euch nicht bald unter meinen Schutz begebt.« »Schaltet endlich ab!« sagte Stevie Eins. »Bevor sie das Signal zurückverfolgen.« David schaltete den Schirm aus. Er wußte nicht, was er sagen sollte. Ihm war nie der Gedanke gekommen , daß seine eigenen Leute sich gegen ihn wenden könnten. Sicher, der Steward und er hatten sich bei mehr als einer Gelegenheit gestritten; aber die Familie zu betrügen, die einen von Geburt an ernährt und gekleidet und seinem Leben erst einen Sinn gegeben hatte… Alles war viel zu schnell gegangen. In der einen Minute war er noch der Mann gewesen, der alles hatte und in der nächsten… nichts mehr, bis auf den Preis, der auf seinen Kopf ausgesetzt worden war. Genau wie sein Vetter Owen. Vielleicht war der Planet verhext. David verspürte das Bedürfnis zu lachen, ein Gefühl nahe der Hysterie. Plötzlich wurde ihm bewußt, daß Alice zu ihm sprach und an seinem Ärmel zupfte. »Meine Eltern, David! Ich muß wissen, was mit meinen Eltern ist!« »Selbstverständlich. Du weißt, wie das Gerät funktioniert. Ich muß nachdenken. Kit, wenn der Steward im Besitz meiner Notfallkodes ist, dann sind meine geheimen Sicherheitsmaßnahmen nicht mehr den Dreck unter dem Fingernagel wert. Aber das funktioniert in beide Richtungen. Wenn er sich Zugang zu meinen Kodes verschafft hat, dann habe ich auch Zugang zu seinen.« »Und was soll uns das nützen?« fragte Kit. »Ich sollte in der Lage sein, mich in das Kommunikationssystem der Festung einzuschalten, und mit seiner Hilfe haben wir Zugriff auf den Funkverkehr der Imperialen. Wir können alles sehen, was sie auch sehen. Ich muß wissen, was anderswo auf meiner Welt vor sich geht. Ich kann beim besten Willen nicht glauben, daß die Eiserne Hexe die vollständige Eroberung von Virimonde befohlen hat. Die Verluste an Menschenleben wären gewaltig. Wirklich entsetzlich.« »Seit wann hat die Eiserne Hexe sich von so etwas aufhalten lassen?« »Kit!« sagte David. »Sie werden sagen, es sei alles meine Schuld! Meine Leute werden sterben, weil ich falsch gehandelt habe!« »Ich bin mit der Farm verbunden«, sagte Alice plötzlich, und alle drehten sich zum Schirm um. Das Bild war verschwommen und unscharf. Alice beugte sich über die Konsole und fluchte leise, während sie versuchte, das Signal zu verstärken. Mit einemmal wurde das Bild klar, und Alice wich mit halb erhobener Hand vom Schirm zurück, wie um sich zu schützen. Sie hatte sich auf einen der externen Sensoren der Farm geschaltet, die das Haupthaus von außen zeigten. Das massive Steingebäude stand unter Beschuß. Das Mauerwerk war übersät mit Löchern von Energiestrahlen, und ein Teil des Dachs war weggesprengt. Der Rest des Strohdachs brannte lichterloh. Zwei reglose Gestalten lagen auf dem Hof, und ihre toten Hän-de umklammerten die Griffe von Projektilwaffen. Beide waren von Energiewaffen in den Rücken getroffen worden. Alice schüttelte langsam den Kopf, als könne sie nicht glauben, was ihre Augen sahen. »Das dort ist Sam. Und Matthew. Meine Brüder. Wo sind die anderen? Wo sind Vater und Mutter?« David legte ihr tröstend die Hand auf die Schulter, doch Alice spürte es nicht. Die Eingangstür des Farmhauses flog krachend auf, und dichter schwarzer Rauch quoll hervor. Und aus dem Rauch stürzten Diana und Adrian Daker. Sie hielten Projektilwaffen in den Händen und feuerten auf einen unsichtbaren Feind, während sie in Richtung der Scheunen hinter dem Haus rannten. Die Kamera war zu weit entfernt, um ihre Gesichter deutlich zu zeigen; doch ihre Körpersprache verriet kühle Entschlossenheit. Sie waren jedenfalls nicht in Panik. Rings um die beiden herum zuckten Energiestrahlen durch die Luft und rissen weitere Löcher in die Mauern des Farmhauses; aber die beiden rennenden Dakers waren schwer zu treffen. Doch dann tauchte plötzlich eine Kompanie Imperialer Marineinfanteristen hinter dem Haus auf und versperrte ihnen den Fluchtweg. Adrian und Diana blieben stehen und warfen gehetzte Blicke in die Runde. Es gab keinen Ausweg mehr. Die Soldaten eröffneten das Feuer. Diana schrie auf, als ihr ein Bein unter dem Leib weggeschossen wurde, und erneut, als ein Energiestrahl durch den Bauch ihres Mannes fuhr und am Rük-ken wieder austrat. Adrian stürzte zu Boden, doch er ließ die Waffe nicht los. Diana wollte zu ihm kriechen, und Adrian streckte die Hand nach ihr aus. Ein weiterer Energiestrahl zerriß sie. Zwei Schüsse trafen Diana und durchtrennten ihren Rumpf in der Mitte. Der Torso rollte davon, und die Beine blieben zuckend liegen. Sie sah zu ihrem toten Ehemann und öffnete den Mund, wie um etwas zu sagen, und dann wich das Leben aus ihr, und sie rührte sich nicht mehr. Alice gab gurgelnde Geräusche von sich. Ihre weit aufgerissenen Augen starrten wie hypnotisiert auf die toten Eltern. Jenny nahm sie bei den Schultern und drehte sie mit Gewalt vom Schirm weg. Plötzlich schien sämtliche Kraft aus Alice zu weichen, und sie brach schluchzend in Jennys Armen zusammen. David bedeutete Jenny mit einem Wink, Alice zur Bar zu führen und ihr einen harten Drink auszuschenken. Jenny nickte und schob ihre Freundin sanft zur Theke. Sie murmelte tröstende Worte, doch sie war nicht sicher, ob Alice sie überhaupt hörte. Am Schirm beugte sich David über die Kontrollen und schaltete den Empfänger auf Signale, die zur Festung gingen. Er ging die einzelnen Übertragungen rasch durch in dem Versuch, eine Vorstellung von dem zu gewinnen, was auf seiner Welt vor sich ging. Erst jetzt begriff er langsam, welches Ausmaß der Überfall auf Virimonde tatsächlich hatte. David und Kit beobachteten schweigend, wie Imperiale Truppen schreiend durch die Straßen eines einzelnen kleinen Dorfes rannten und auf alles schossen, was sich bewegte. Plötzlich strömten Dorfbewohner aus ihren kleinen Häusern und warfen sich den Angreifern entgegen. Ihre Bewaffnung war spärlich; nur wenige hatten Schußwaffen, die meisten kämpften mit Schwertern und Äxten und irgendwelchen Stall-werkzeugen. Die Imperialen waren mit Energiewaffen, Kampfrüstungen und Energieschilden ausgerüstet, und trotzdem warfen sich die Männer und Frauen des Dorfes auf den Feind. Das Imperium mußte um jeden Zoll Bodengewinn kämpfen. Doch die Soldaten waren in der Überzahl und viel besser bewaffnet, und schon bald hatten sie sich einen blutigen Weg durch die Dorfbewohner gebahnt und ließen Tote und Sterbende in den Straßen zurück. Es dauerte nicht lange, und sie schossen die Dorfbewohner fast schneller ab, als sie aus ihren Häusern stürmen konnten. Die nachrückenden Soldaten steckten methodisch alles in Brand und erschossen die Alten und Kinder, wenn diese schreiend flüchten wollten. Bald stand das gesamte Dorf lichterloh in Flammen, und dicker schwarzer Rauch quoll in den frühen Morgenhimmel. Die Szene wechselte, und eine Stadt ganz in der Nähe erschien auf dem Schirm. Eine kleine Armee Imperialer Marineinfanteristen lief in den gepflasterten Gassen und Straßen Amok. Sie mordeten und brandschatzten und zerstörten jedes potentielle Widerstandsnest. Einheimische Beamte wurden aus ihren Büros auf die Straße gezerrt und an den nächsten Later-nenpfählen aufgeknüpft. Überall wurde geplündert, vergewal-tigt und gemordet. Blut floß in Strömen durch die Rinnsteine, und Männer, Frauen und Kinder flüchteten in Todesangst vor den heranrückenden Streitkräften, vertrieben von einem Feind, der auf den Sieg geradezu versessen war. David und Kit erkannten die Strategie dahinter. Andere Städ-te und Dörfer sollten eingeschüchtert und dazu gebracht werden, sich ohne jeglichen Widerstand zu ergeben. Das war auch der Grund, warum die Bilder überhaupt durch den Äther geschickt wurden. Und die Strategie ging auf. Der Bildschirm schaltete von Stadt zu Stadt und zeigte ganze Scharen von Einwohnern, die mit hoch erhobenen Händen wie Schafe aus ihren Häusern hinaus und auf die offenen Felder getrieben wurden. Zu Verhören war später noch Zeit. Wer sich nicht schnell genug bewegte, wurde erschossen. Wer zu protestieren wagte ebenfalls. Und überall brannten Häuser, hingen Leichen an Laternen und kreisten Aasfresser am Himmel. Kriegsmaschinen rückten gegen andere Städte vor. Unaufhaltsame Kampfwagen schoben sich durch zerbröckelnde Stadtmauern, und Ziegel polterten wie dicke Hagelkörner von den gepanzerten Seiten herab. Mechanische Gebilde, denen Gefühle wie Angst oder Selbsterhaltung fremd waren, rannten , ohne langsamer zu werden , gegen das Sperrfeuer der Verteidiger an und ertrugen unglaublichen Beschuß, während ihre eigenen Energiewaffen durch Männer und Frauen und Häuser zugleich fuhren wie heiße Messer durch Butter. Ganze Blocks gingen in Flammen auf, als schwere Gravitationstorpedos Wand um Wand durchschlugen und gnadenlos schnurgerade Spuren der Verwüstung von einem Rand der Stadt zum anderen zogen. Kampfandroiden, Roboter, die wegen des psychologischen Effekts Menschengestalt besaßen, hackten und fetzten sich ihren Weg durch jede Form von Widerstands Fleisch wich vor unnachgiebigem Stahl, und Blut troff dick über Metallarme und von dornenbewehrten Eisenfäusten. Maschinen hoch am Himmel und so klein wie Insekten bildeten die alles sehenden Augen der mechanischen Armee, und gewaltige Metallhaufen, größer als Häuser, bewegten sich langsam durch das Kampfgebiet und zerstörten, was bisher unbeschädigt geblieben war. Stein und Mauerwerk riß wie Papier; Holz brannte lichterloh, und Männer und Frauen starben schreiend unter gnadenlosen stählernen Panzerketten . Die Maschinen schlachteten alles, was ihnen in den Weg kam . Sie kannten keine Gnade , weil sie nicht darauf programmiert waren. Gebäude stürzten ein und Feuer raste durch die Stadt. Die Roboter marschierten; die Stadt fiel, und die Maschinen wanderten planmäßig weiter zu ihrem nächsten Ziel. »Nein!« sagte David schließlich. »Nein! Ich werde das nicht dulden!« »Wir verschwinden besser von hier«, mahnte Kit. »Wir haben nicht die leiseste Ahnung, wie nah die Imperialen Streitkräfte bereits sind.« »Ich bin der Lord dieses Planeten, und ich erlaube es nicht!« David starrte voller ohnmächtiger Wut auf den Schirm. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt. »Das ist kein Krieg mehr! Das ist unmenschlich! Dafür wird die Löwenstein bezahlen! Das ist meine Welt; das sind meine Menschen, und ich dulde das einfach nicht!« »Du kannst es nicht ändern«, sagte Kit. Er schaltete die Übertragung ab, und David funkelte ihn wütend an. Kit erwiderte seinen Blick gelassen. »Du bist für vogelfrei erklärt worden, David. Du besitzt keine Untertanen und keine Machtbasis mehr, und selbst deine eigene Festung ist kompromittiert . Du kannst nicht gegen sie kämpfen , und Ergeben kommt nicht in Frage . Also bleibt nur die Flucht .« David schüttelte beharrlich den Kopf . »Wenn es mir gelingt, mich bis zur Festung durchzuschlagen, dann besteht immer noch die Chance, Kontakt mit der Versammlung der Lords aufzunehmen. Ich werde ihnen zeigen, was hier auf Virimonde geschieht und was die Löwenstein einem der ihren zufügt. Wenn so etwas hier auf Virimonde geschehen kann, dann ist kein Lord mehr vor der Eisernen Hexe sicher .« »Sie werden sich trotzdem nicht einmischen«, entgegnete Kit . »Niemand hat gegen Owens Verbannung Einspruch erhoben, oder hast du das vergessen? Solange die Imperatorin die bewaffneten Streitkräfte und ihre Kriegsmaschinen im Rücken weiß, wird kein Lord das Risiko eingehen, sich mit ihr anzulegen.« »Dann werde ich das, was hier geschieht, über einen offenen Kanal ins Imperium hinaus übertragen. Jeder im Imperium soll sehen, was im Namen der Imperatorin auf Virimonde geschieht .« »Deine Festung befindet sich aller Wahrscheinlichkeit nach längst in der Hand des Stewards«, erinnerte Kit ihn geduldig . »Dann werden wir sie ihm wieder wegnehmen!« Kit nahm David bei den Schultern und sah dem Freund tief in die Augen. »David, laß es bleiben! Sie sind nur Bauern! Sie haben nichts mit uns zu tun! Virimonde ist verloren. Es war bereits verloren, als die Löwenstein beschloß, ihre Truppen und Kriegsmaschinen zu entsenden . Wir können nicht gegen sie kämpfen . Wir können nichts weiter tun als fliehen und hoffen, die eigene Haut zu retten.« »Ich werde meine Leute nicht im Stich lassen!« sagte David tonlos. »Sie sind nur Bauern!« »Und was ist mit Alice und mir?« fragte Jenny von der anderen Seite des Raums her. »Was soll mit euch sein?« entgegnete Kit. »Du Bastard! Du würdest tatsächlich einfach weglaufen und uns zurücklassen!« »Niemand läßt irgend jemanden zurück« erklärte David. »Unser Flieger steht noch immer in der Scheune. Er kann vier Leute tragen. Irgendwo muß es doch organisierten Widerstand geben! Du und Alice, ihr bringt uns zu den nächstgelegenen Rebellennestern, und zusammen werden wir die Festung zu-rückerobern . Stevie Blues?« Die beiden Klone sahen ihn vom Eingang her an. »Was gibt’s?« »Wir verschwinden von hier. Kommt Ihr mit?« »Wohl kaum«, erwiderte Stevie Eins. »Sobald Ihr sicher auf dem Weg seid, sind wir nicht mehr für Euch verantwortlich. Wir werden zur nächsten Stadt aufbrechen, die noch nicht überrannt wurde, den Widerstand organisieren und überall dort sein, wo wir den größten Schaden anrichten können.« »Genau das werden wir«, bestätigte Stevie Drei und stieß ei-ne Faust in die Luft. Blaue Flammen knisterten bösartig um ihre Hand. »Dann ist es jetzt Zeit«, sagte David. Er blickte sich um, als sähe er die Taverne zum ersten Mal. »Ich hätte auf Owen hören sollen. Er hat versucht, mich zu warnen. Verdammt, ich wünschte nur, ich hätte ein paar Stunden länger geschlafen. Der Schock hat den Nebel aus meinem Schädel vertrieben; aber ich fühle mich wie ein Haufen Scheiße.« Er unterbrach sich und sah einen langen Augenblick seinen Freund Kit an. »Kit, du mußt nicht mit uns kommen«, sagte er schließlich. »Du wurdest nicht geächtet, und wahrscheinlich wissen sie nichts von deinen Verbindungen zum Untergrund, oder es ist ihnen zumindest egal. Du könntest dich von uns trennen und auf eigenen Faust…« »Könnte ich nicht«, unterbrach ihn Kit. »Du bist mein Freund, David, und wenn du auch entschlossen bist, ohne jeden vernünftigen Grund für eine verlorene Sache zu kämpfen, dann lasse ich dich trotzdem nicht im Stich. Ich werde an deiner Seite stehen . Ich bin Kid Death, der lächelnde Killer, und ich werde meinen Freund nicht in der Stunde der Not allein lassen.« »Du bist ein wirklich guter Freund, Kit«, sagte David und grinste. »Verschroben wie die Hölle und furchteinflößend, wenn man dich nicht kennt; aber du bist ein guter Freund… Ach was, zur Hölle!« sagte er plötzlich . »Ich habe sowieso angefangen, mich zu langweilen. Alles war viel zu friedlich und still.« »Verdammt richtig«, stimmte ihm Kit zu. »Die Ferien sind vorbei, und jetzt geht es wieder an die Arbeit. Wir sind einfach nicht fürs Nichtstun geschaffen.« Sie drehten sich zu den beiden Frauen um. Alice hatte aufgehört zu weinen. Ihr Mund bebte und zitterte zwar noch immer, aber sie hatte sich wieder halbwegs unter Kontrolle. »Wir bleiben bei euch«, sagte sie tonlos. »Das hier ist auch unsere Welt. Wir haben ein Recht darauf, sie zu verteidigen.« »Selbstverständlich habt ihr das«, erwiderte David. »Vielleicht finden wir ja unterwegs eine Gelegenheit für ein wenig persönliche Rache. Und jetzt laßt uns endlich aufbrechen.« Sie gingen zur Hintertür und winkten den beiden Stevies zum Abschied zu. Jenny funkelte Kit wütend an. »Wenn du uns aufhältst, Sommer-Eiland, dann werfen wir dich vom Flieger, und du kannst sehen, wie du alleine zurechtkommst. Verstanden?« Kit lächelte seine Freundin fröhlich an. »Ich wußte schon immer, daß du eine Frau ganz nach meinem Geschmack bist.« Valentin Wolf saß entspannt in einem bequemen Sessel in seinem langsamen, gepanzerten Kommandofahrzeug. Er befand sich weitab von allen Kämpfen und beobachtete Tod und Zerstörung und das Gemetzel an der Bevölkerung auf zahlreichen Schirmen, und er war zufrieden. Sämtliche Kommandos und Befehle an die Imperialen Streitkräfte oder die Kriegsmaschinen liefen über seine Systeme und lieferten ihm umfassende Kenntnis vom Fortschritt der Invasion sowie die individuelle Kontrolle über seine Roboterverbände. Valentin saß in einem massiven, isolierten Stahltank, umgeben von Kontrollinstru-menten, und das einzige Licht stammte von den Reihen leuchtender Monitore. Der zehn Fuß große, mit Technik vollgepack-te Kubus wäre der Alptraum eines jeden Klaustrophoben gewesen , doch Valentin störte es nicht im geringsten. Zahlreiche Drogen rasten durch seine Adern und kämpften um die Kontrolle über seinen Körper und Geist; aber Valentins Wille hielt sie allesamt im Zaum. Bevor er auf Virimonde gelandet war , hatte er schließlich der Versuchung nachgegeben und die Esper-Droge genommen, und sein Verstand hatte sich geöffnet wie die Blüte einer giftigen Blume. Er besaß nun direkte Kontrolle über seine autonomen Körperfunktionen, balancierte ein Hormon gegen das andere aus und schwebte ununterbrochen auf dem höchsten Punkt einer unendlichen Welle. Und wenn das Universum und die Menschen darin nicht mehr ganz so real schienen – nun, daran war Valentin seit langem gewöhnt. Es war schließlich alles nur eine Frage der Dosie-rung. Er konnte schneller denken, weiter sehen und genauer im voraus planen als je zuvor, sogar während seine Emotionen Kapriolen schlugen und gewaltige Gefühlsstürme gegen die unnachgiebigen Felsen seiner Selbstbeherrschung anbrausten. Valentin Wolf war in seinem Element, und er genoß es in vollen Zügen. Die Chemie seines Gehirns war so sehr verändert, daß es kein Zurück mehr gab, und er hätte nicht glücklicher sein können. Menschen und Ereignisse waren vor seinem überscharfen geistigen Auge transparent geworden, bloße Dinge und Informationen, die er zu seinem größtmöglichen Vorteil manipulieren konnte. Valentin konnte zum Imperator werden, wenn er es wollte; doch er war nicht sicher, ob er sich der Mühe unterziehen sollte. Denn trotz all seiner chemischen Höhenflüge war er noch immer auf der Suche nach der ultimativen Droge, dem ultimativen Nervenkitzel und Wunder. Valentin wußte nicht genau, wie sie aussehen sollte oder wo er sie finden konnte, nur daß es sie gab, das stand für ihn außer Zweifel, und daß er sie noch nicht gefunden hatte. Da war noch immer etwas außerhalb seiner Reichweite, ein Schritt, den er noch gehen mußte; Valentin konnte es förmlich spüren. Und er wollte es. Er war bereit, jedes lebende Ding im Imperium dafür zu opfern. Und bis es soweit war, beschäftigte er sich mit der Zerstörung Virimondes. Es war ein angenehmer, kurzweiliger Zeit-vertreib. Er beobachte seine Kriegsmaschinen bei der Zerstörung ganzer Städte und dem Abschlachten der Bevölkerung, und er lachte still in sich hinein. Sein großer purpurner Mund war eine klaffende Wunde in dem totenblassen Gesicht. Valentin erfreute sich über alle Maßen an dem endlosen Sterben und der Zerstörung , genoß es wie ein Festmahl aus zahlreichen köstlichen Gängen. Er stand im Begriff, ein Monster zu werden, und er wußte es. Er sonnte sich darin. Die Maschinen gehorchten seinen Befehlen, wurden allein von seinem Willen gesteuert. Seine fortwährende Allianz mit den abtrünnigen KIs von Shub hatte ihm den Zugang zu Technologien eröffnet, die weiter entwickelt waren als alles, was das Imperium je hatte. Das letzte Geschenk war ein Lektronen-system gewesen, mit dessen Hilfe er sein Bewußtsein mit den metallenen Gedanken der Kriegsmaschinen verschmelzen und jede ihrer Erfahrung miterleben konnte. Valentin konnte zu einem Kriegswagen oder zu einem Androiden werden, in einem stählernen Kopf leben und sie steuern, wie er seinen eigenen Körper steuerte. Er konnte mit Hilfe ihrer Sensoren eine ganz neue Welt entdecken, die weit über das hinausging, was seine eigenen beschränkten menschlichen Sinne wahrnahmen. Er konnte durch Wände brechen, hoch in der Luft über Gebäuden kreisen und auf stählernen Füßen durch Scharen angreifender menschlicher Gegner waten und sie mit stählernen Fäusten niederstrecken. Niemand sonst wäre dazu imstande gewesen; doch Valentins Verstand hatte sich durch Drogen, ESP und die Technologie Shubs so sehr verändert, daß er nicht mehr menschlich war. Valentin hatte sorgfältig darauf geachtet, diese Tatsache vor der Löwenstein zu verbergen. Die Eiserne Hexe war der Meinung, jeder könne die Kriegsmaschinen kontrollieren wie Valentin, sobald er das neue System erst einmal beherrschte. Valentin hatte sie in dem Glauben gelassen, weil es ihm gelegen kam. Ihr Befehl, Virimonde zu erobern, hatte ihm eine Gelegenheit verschafft herauszufinden, wozu er und seine Technologie imstande waren. Das Schlachten und Zerstören und das Leiden der Menschen war so herzerfrischend kurzweilig. Valentin fürchtete sich vor der Langeweile, wie vor nichts anderem auf der Welt, und er hatte die meisten gewöhnlichen Sünden und Laster längst bis obenhin satt. Noch während sein Verstand in den Maschinen weilte, einzeln und in Massen, plante er die nächsten Schritte. Die gleichen Wissenschaftler, die früher den Hohen Lord Dram belie-fert hatten, versorgten inzwischen Valentin mit der Esper-Droge. Valentin hatte eine Kombination aus Drohung und Bestechung eingesetzt, und jetzt war er in ihrem Besitz. Und da der Hohe Lord Dram die unendlich abhängig machende Droge nicht mehr zu benötigen schien, wußte Valentin, daß er nicht der echte Dram sein konnte. Aber wer auch immer er sein mochte, eine Furie war er nicht; Shub hatte ihm das bestätigt, und die KIs hatten keinen Grund, Valentin zu belügen. Also blieben nur zwei Möglichkeiten: Dram war ein Klon, oder ein Fremdwesen hatte seinen Platz eingenommen. Beides eröffnete faszinierende Perspektiven. Für den Augenblick behielt Valentin sein Wissen für sich. Wissen war Macht. Vielleicht würde er zu einem späteren Zeitpunkt sein Wissen gebrauchen, um den falschen Dram zu kontrollieren… oder um ihn zu zerstören. Alles hing davon ab, wie Valentin sich zu jenem Zeitpunkt fühlen würde. Er liebte es, seinen Impulsen zu folgen. Der Gedanke ließ sein Grinsen noch breiter werden, und er wandte den Blick zu dem Ergebnis seines letzten Impulses. Auf einem Regal stand ein durchsichtiges Glas, das vor Drähten und Anschlüssen nur so starrte , und darin schwamm das , was von dem namhaften Wissenschaftler Professor Wax noch übriggeblieben war, jenem Mann, der nach dem Willen der Löwenstein Valentin bei seinem Einsatz begleiten und assistieren und den Gebrauch der Kriegsmaschinen beobachten sollte. Valentin hatte sich nicht einen Augenblick lang täuschen lassen. Er erkannte einen Spion auf den ersten Blick. Also hatte er geeignete Schritte unternommen, um sicherzugehen, daß der Professor zwar immer noch alles beobachten, ihn aber nicht mehr stören konnte. Um genau zu sein: Valentin hatte dem Mann den Kopf abgeschlagen, und der Kopf war es, der sich jetzt in dem Glas befand. Das Gehirn war direkt mit der Kommunikationsanlage von Valentins Kommandofahrzeug verbunden, so daß es alles sehen konnte, was geschah. Anfänglich hatte der Professor laut protestiert und geschrien; doch Valentin hatte einfach den Lautsprecher abgeschaltet, und irgendwann hatte der Kopf aufgegeben. Jetzt beschäftigte er sich die meiste Zeit damit, die Monitore zu beobachten und zu schmollen. Zweifellos würde die Löwenstein ihm wegen dieser Geschichte eine Strafpredigt halten, doch Valentin war ganz sicher, daß er imstande war, ihrem Imperialen Ärger zu entgehen. Es war ihm bisher immer gelungen. Und bis dahin machte sich der Kopf auf dem Regal als Raumdekoration gar nicht schlecht. Valentin erfreute sich an dem Anblick des langen weißen Haars und des Schnurrbarts, die in der konservierenden Flüssigkeit des Glases schwebten, und an der Art und Weise, wie die Augen hervorquollen, wenn der Professor wütend wurde. Darüber hinaus war Wax derjenige gewesen, der den größten Teil der Maschinen konstruiert hatte, die jetzt Valentins Befehlen gehorchten; also bestand immer noch die wenn auch kleine Chance, daß Wax’ Kenntnisse sich als nützlich erweisen konnten. »Wie fühlt Ihr Euch, Professor?« fragte Valentin freundlich. »Kann ich irgend etwas für Euch tun? Vielleicht wollt Ihr einige der blutigeren Kampfszenen noch einmal sehen?« »Ich erfreue mich nicht an derartigen Dingen«, kam die steife Antwort des Kopfes durch den Lautsprecher. »Ich bin nicht wie Ihr. Ich interessiere mich für nichts anderes als für die Leistungen meiner Kreationen.« »Ich hätte Euch im Leben nicht für zimperlich gehalten, Professor«, sagte Valentin. »Jedenfalls nicht nach den Tausenden von Tieren, die Ihr im Laufe Eurer Tests verstümmelt, zerfetzt und in den Tierhimmel geschickt habt, um die Fehler und Schwachstellen Eurer wunderbaren Maschinen auszumerzen. Betrachtet doch die Rebellen hier einfach als besonders große Laborratten.« »Die Rebellen sind mir egal«, erwiderte Wax. »Ihr Schicksal läßt mich vollkommen kalt. Mir interessiert einzig und allein, wie sich meine Maschinen schlagen.« »Es sind nicht Eure Maschinen, Professor. Nicht mehr. Erst die technischen Erweiterungen, die ich in Eure Maschinen eingesetzt habe, versetzten sie in die Lage, im Feld zu bestehen. Deswegen hat die Imperatorin mir ja auch den Befehl übertragen. Ich bin der Befehlshabende, und Ihr seid ein Kopf im Glas. Wollt Ihr vielleicht die Maschinen mit Hilfe meiner Kommlinks beobachten?« »Ihr wißt ganz genau, daß ich das nicht kann! Ich glaube, niemand kann das außer Euch. Was ich im Grunde genommen sehr merkwürdig finde. Ihr nicht auch, Wolf? Weder Ihr noch die von Euch finanzierten Labors haben jemals etwas Vergleichbares produziert, und das bedeutet, daß Ihr Hilfe gehabt haben müßt. Hilfe von außerhalb. Ich frage mich von wem, Wolf. Ist es möglich, daß Ihr die Identität Eurer Komplizen deswegen geheimhaltet, weil Ihr wißt, daß die Löwenstein nicht erfreut wäre? Mit wem habt Ihr Eure schmutzigen Geschäfte gemacht, Wolf?« »Ihr betretet gefährliches Gebiet, Professor«, sagte Valentin leise. »Ich gebe Euch den guten Rat, die Sache auf sich beruhen zu lassen, solange Ihr noch dazu in der Lage seid.« »Oder was? Wollt Ihr mir vielleicht den Kopf abschlagen und in ein Marmeladenglas stecken?« »Es gibt schlimmere Dinge, die Euch zustoßen könnten, Professor«, entgegnete Valentin. »Glaubt mir, viel schlimmere Dinge.« Der Kopf im Glas murmelte ein paar unverständliche Worte und verstummte dann. Er schmollte wieder. Valentin grinste und konzentrierte sich wieder auf seine mentale Verbindung mit den Kriegsmaschinen. Im einen Augenblick war er ein Kampfandroid, der über ein frisch gepflügtes Feld stapfte. Das Gewicht des stählernen Kolosses ließ die Füße tief in die weiche Erde einsinken. Valentin griff mit seinem Bewußtsein nach draußen und war plötzlich ein ganzes Dutzend metallener Männer, dann eine Hundertschaft, die im Gleichschritt über das weite Feld marschierte. Ihre Füße hoben und senkten sich in vollendetem Gleichschritt, hundert Roboter mit menschlichen Formen und einem einzigen Ziel vor Augen, und sie bewegten sich wie ein Mann. Sie marschierten über den Horizont hinaus und in eine Stadt. Rebellen stürmten hervor und stellten sich den Angreifern mit Farmgeräten und gelegentlich mit einer Projektilwaffe. Klingen und Kugeln prallten wirkungslos von den stählernen Kolossen ab. Die Roboter packten die Rebellen und rissen ihnen die Gliedmaßen aus, eins nach dem anderen, brachen ihnen die Hälse mit stählernen Handkantenschlägen und rissen ihnen mit gezackten Metallhaken die Eingeweide heraus. Es war unvermeidlich, daß auch die Roboter ein paar Schäden davontrugen; doch solange auch nur noch ein Funken Energie in ihren System war, drängten sie weiter vor, marschierten, humpelten oder krochen auf den Rümpfen und hielten nicht einen Augenblick inne. Männer, Frauen und Kinder starben schreiend unter den stählernen Händen, und Valentin war mittendrin. Er hatte sich gewundert, warum die KIs von Shub dar auf bestanden hatten, ihm dieses ganz spezielle Geschenk mitzugeben; doch jetzt glaubte er den Grund dafür zu kennen. Es war ihre Art, Valentin zu zeigen, was für ein Gefühl es war, lebendes Metall zu sein, umgeben von der Sicherheit von Stahl und Technik, frei von den Beschränkungen des Fleisches. Valentins purpurnes Lächeln reichte inzwischen von einem Ohr zum andern, und eine neue Befriedigung schimmerte in seinen lidschatten-umgebenen, fieberglänzenden Augen. Er verteilte sein Bewußtsein jetzt über die gesamte Armee aus Metall, wuchs unaufhörlich weiter und erblühte gleichzeitig in jedem einzelnen System. Sein künstlich stimuliertes, drogenerweitertes Bewußtsein lebte im Innern jeder einzelnen Kriegsmaschine Virimondes, und er genoß jede einzelne Sekunde dieser Erfahrung. Der Mann, der jetzt der Hohe Lord Dram war, führte seine Truppen unter lautem Geschrei durch die brennenden Straßen einer kleinen Stadt. Auf beiden Seiten standen brennende Ge-bäude, und dicker schwarzer Rauch stieg in den frühen Morgenhimmel. Die Hitze der Brände schmerzte auf dem ungeschützten Gesicht und den Händen, und glühende Asche schwebte in der Luft. Drams Männer schwärmten aus und stürmten durch Seitenstraßen und Gassen auf der Suche nach Widerstandsnestern. Plötzlich gab es Verluste in den Reihen der Angreifer. Heckenschützen hatten das Feuer eröffnet. Sie saßen im oberen Stockwerk eines noch unzerstörten Hauses ein Stück weiter vorn. Dram brüllte Befehle, und ein Dutzend Disruptoren feuerten gleichzeitig. Die Energiefinger zerfetzten das Obergeschoß des Gebäudes, und ein Trümmerregen und rote Wolken von pulverisierten Ziegelsteinen ergossen sich auf die Straße. Dram ordnete an, vorsichtshalber noch ein paar Split-tergranaten ins untere Stockwerk zu werfen; dann marschierten sie weiter. Dram führte seine Truppen an, den Disruptor in der einen, das Schwert in der anderen Hand. Blut troff von seiner Klinge. Überall ringsum ertönten Schreie und das Donnern von Explosionen, und Dram grinste so breit, daß seine Wangen schmerzten. Das war es, wofür er geboren war, wofür er geschaffen und auserwählt worden war, und er liebte jede einzelne Minute seines Handelns. Eigentlich hätte er gar nicht hier unten auf dem Planeten sein sollen. Er hätte im Orbit und in Sicherheit bleiben und die Operation von dort aus leiten sollen und General Beckett erlauben, sich um die praktische Seite der ganzen Angelegenheit zu kümmern. Dram hatte anfänglich auch genau das getan; doch seine guten Absichten waren rasch dahingeschmolzen, als die Kämpfe eingesetzt hatten. Er hatte alles von den Monitoren auf der Brücke der Elegance aus beobachtet, versorgt von einem ununterbrochenen Strom neuer Informationen, und sein Blut war beim Anblick der Schlacht in Wallung geraten. Zuerst hatte er seine Männer noch mit größtmöglicher Effizienz zu steuern versucht, hatte nur die umbringen lassen, die getötet werden mußten und die Zerstörung der Städte und Dörfer auf das absolut notwendige Minimum beschränkt. Doch all das war mit einem Schlag vorbei gewesen, als die Rebellen plötzlich wie aus dem Nichts Waffen zum Vorschein gebracht und erbitterten Widerstand geleistet hatten. Dram hatte zugesehen, wie seine Männer starben und die Rebellen ihm die Stirn zu bieten wagten, und nackte Wut hatte ihn ergriffen, daß diese Bauern ihn herausforderten. Er hatte sie geschont, und das war der Dank dafür. Dram sah seine Männer sterben und wußte, daß er unten bei ihnen sein mußte, mitten im Schlachtgetümmel, wo er sie zum Sieg führen und persönlich diese frechen Bauern niederstrecken würde. Er brauchte den Geruch von Blut und Tod und das Gefühl, wie seine Klinge tief in lebendes Fleisch eindrang und von Knochen abprallte. Und so schlug er Becketts Warnungen und Ratschläge in den Wind und landete mit der nächsten abgehen-den Pinasse mitten in der Hölle. Er liebte es. Er schwang das Schwert mit einem Arm, der niemals zu ermüden schien, und niemand konnte ihm widerstehen. Er war der Oberste Krieger, der Witwenmacher, und er war alles, was das Original gewesen war und noch mehr. Er blieb an der Spitze seiner Truppen, überrannte Widerstandsnester der Rebellen mit Disruptoren und Granaten, und er führte seine Männer von einem glorreichen Sieg zum nächsten. Ringsum gingen Häuser in Flammen auf; überall lagen toten Rebellen, und die Überlebenden flüchteten – und Dram hatte sich noch nie in seinem erst kurzen Leben so sicher gefühlt wie in diesen Augenblicken der Schlacht. Das Herz hämmerte ihm in der Brust; sein Atem ging rauh und schnell, doch er fühlte sich, als könne er für immer so weiterkämpfen und sich niemals nach etwas anderem sehnen. Hin und wieder dämmerte ihm, daß er nicht gegen einen gesichtslo-sen Feind kämpfte, sondern daß die Leute, die er tötete, Seelen und Leben und ihre ganz persönlichen Geschichten hatten, daß Eltern oder Kinder um sie trauern würden; doch selbst das machte ihm nichts aus. Sie hatten ihn und seine Imperatorin herausgefordert, und das war die einzig mögliche Antwort darauf . Hätten sie sich ergeben , würde er sie verschont haben . Er war sicher, daß er sie verschont hätte. Sie wären vor Gericht gestellt worden. Viele wären zwar ohnehin exekutiert worden; doch für das jetzt stattfindende Gemetzel und Blutvergießen trugen sie ganz allein die Verantwortung, nicht Dram. Und so marschierte er durch die engen kopfsteingepflasterten Straßen der Städte und tötete Menschen, weil er das Recht auf seiner Seite wußte – jedenfalls die meiste Zeit über; aber darauf gab er sowieso einen verdammten Dreck. Und das Wichtigste: Er amüsierte sich königlich dabei. Hin und wieder ertönte General Becketts Stimme in Drams Komm-Implantat, die ihm riet, daß er genug getan habe, und daß er sich zurückziehen solle, während die Truppen den Rest erledigten; aber Dram hörte nicht darauf. Er wußte, daß er dort war, wo man ihn brauchte. Und als Becketts Stimme rauh wurde und Drams Handlungsweise und seine Motive in Frage stellte, da lachte der Hohe Lord nur und lud Beckett ein, selbst nach unten zu kommen und sich die Hände blutig zu machen. Beckett weigerte sich, und Dram lachte erneut. Nach der Unter-werfung dieses Dorfes hier würde es weitere geben, und dann kamen die Städte an die Reihe. Es gab noch jede Menge Arbeit, und Dram konnte kaum erwarten, damit anzufangen . Irgendwann fragte er sich, ob sein Original genau das gleiche gespürt hatte, wenn er in den Kampf gezogen war. Er genoß die Vorstellung. Er war mehr als nur ein Schatten des ursprünglichen Hohen Lords Dram. Der erste Dram lebte in ihm weiter, geführt und geformt durch das Vermächtnis seiner Tagebücher und das Feuer, das in Dram dem Klon brannte. Jetzt war er der Oberste Krieger durch Volkes Wahl, der Echte Lord Dram und Witwenmacher , und das Schicksal hatte ihn seiner Bestimmung zugeführt. Er marschierte vorwärts, durch Blut und Tod und die Feuer der Hölle, und niemand vermochte auch nur, sich ihm zu nähern. Es war, als wäre er… gesegnet. Und nicht ein einziges Mal stellte er sich die Frage, von wem oder warum. Kapitän Schwejksam, Investigator Frost und Sicherheitsoffizier K. Stelmach stolperten aus den Trümmern ihrer abgestürzten Pinasse und rannten in den unvollkommenen Schutz eines ausgebrannten Gebäudes. Die Kriegsmaschinen waren überall, große und kleine, und sie zerstörten mit erbarmungsloser, unmenschlicher Präzision das, was einmal eine mittelgroße, von Menschen bewohnte Stadt gewesen war. Energiestrahlen blitzten in alle Richtungen, zerfetzten Mauerwerk und setzten Balken und strohgedeckte Dächer in Brand. Eben solch ein Strahl hatte auch die Pinasse getroffen, trotz der Sicherheitskodes, die Schwejksam ununterbrochen ausgestrahlt hatte. Investigator Frost hatte das Schiff und seine Insassen wiederholt über die Kommunikationsanlage angekündigt; doch niemand hatte ihnen zugehört. Die Disruptorstrahlen waren weiterhin aus dem dichten Rauch über der Stadt in den Himmel gezuckt und hatten immer und immer wieder die schwachen Schutzschirme des kleinen Schiffs durchschlagen. Die Maschinen waren nicht mehr rund gelaufen, und in der Kabine war Feuer ausgebrochen. Schwejksam hatte keine andere Wahl mehr gehabt, als eine Notlandung durchzuführen. Sie waren durch den Rauch-vorhang gebrochen und zwischen hohen Gebäuden und noch höheren Kriegsmaschinen hindurchgeschlittert. Schwejksam hatte die breiteste Straße in der unmittelbaren Umgebung ausgewählt und die Pinasse gelandet. Nur um Haaresbreite waren sie einem richtigen Absturz entgangen. Das Schiff war allerdings verdammt hart aufgeprallt und über die halbe Straße ge-rutscht, bevor es mit der Nase in eine Mauer gekracht war. Aber die Pinasse hatte gehalten, und die Maschinen waren nicht explodiert. Und Schwejksam besaß genug Verstand, um seinem Schöpfer dankbar dafür zu sein. Die drei kauerten sich in den Überresten des Gebäudes zusammen, die wenig mehr waren als nur ein halbes Dutzend feuer- und rußgeschwärzter Mauern, durchlöchert von unzähligen Disruptorstrahlen, sowie einem halben Dach, das noch immer leise vor sich hin schwelte. Schwejksam und Frost spähten abwechselnd durch das zersplitterte Fenster nach draußen. Die Kriegsmaschinen donnerten hin und her und stampften die verbliebenen Gebäude in Grund und Boden. Feuer loderten; Menschen schrien, und Roboter in Menschengestalt trieben die Überlebenden zusammen und töteten sie mit schrecklicher Effizienz. Überall ertönten die Geräusche einer sterbenden Stadt und des Triumphs der Maschinen. Schwejksam überprüfte die Ladung seines Disruptors und brummte wütend etwas über Köpfe, die bei seiner Rückkehr an Bord der Elegance rollen würden. Investigator Frost war gelassen wie immer und schätzte ihre Chancen mit professionellem Blick ab. Ohne die Sicherheitskodes, die Drams Bodentruppen verwendeten, würden die Kriegsmaschinen in den drei Notge-landeten legitime Ziele sehen, weiter nichts. Stelmach lehnte mit dem Rücken gegen eine Wand. Er weigerte sich, den Kopf aus dem Fenster zu stecken. Sein Herz klopfte wild, und er hatte Mühe zu atmen, aber die Waffe lag ruhig in seiner Hand. Die Gegenwart von Schwejksam und Frost hatte ihn härter gemacht, als er selbst es für möglich gehalten hatte. Schwejksam wechselte einen Blick mit Frost. »Wie weit sind wir von unserem geplanten Einsatzort entfernt?« »Nach den letzten Anzeigen der Pinasse zu urteilen nicht besonders weit. Vielleicht eine halbe Meile. Unter normalen Um-ständen ein Spaziergang.« »Das hier sind definitiv keine normalen Umstände.« Schwejksam schnitt eine Grimasse, während er ihre Chancen abwog. »Wie die Dinge stehen, ist eine halbe Meile verdammt weit. Selbst für uns. Investigator, versucht noch einmal, die Todtsteltzer-Festung anzufunken.« Frost betätigte ihr Komm-Implantat und schüttelte den Kopf. »Keine Antwort. Die Kriegsmaschinen blockieren sämtliche Frequenzen außer ihren eigenen, und ich kenne ihre Sicherheitskodes nicht. Wir können nicht mit ihnen in Kontakt treten. Sieht ganz danach aus, als müßten wir es aus eigener Kraft bis zur Festung schaffen.« »Wir werden sterben«, murmelte Stelmach. »Ein Spaziergang durch den Park«, erwiderte Schwejksam steif. »Also schön. Dort draußen läuft eine höllische Menge von Kriegsmaschinen herum; aber ihre Hauptaufgabe besteht in der Zerstörung der Stadt, und die Androiden sind nur damit beschäftigt, jeglichen Widerstand zu brechen. Solange wir die Köpfe unten halten und uns nicht einmischen, sollten wir halbwegs sicher sein.« »›Sollten‹ ist genau das richtige Wort«, sagte Stelmach. »Können wir nicht einfach hierbleiben und warten, bis es den Maschinen zu langweilig wird und sie weiterziehen?« Und dann explodierte das Nachbargebäude in einer Wolke aus Rauch und Feuer, und Steinsplitter flogen durch die Gegend. Die drei zuckten zusammen. Eine Kriegsmaschine hatte das Haus mit ihren Disruptoren unter Beschuß genommen. Der Boden erzitterte unter den Füßen der Menschen, und ihr zertrümmertes Versteck ächzte und drohte vollends einzustürzen . Ein gezackter Riß verlief quer durch die Wand, an die sich Stelmach gelehnt hatte, und er sprang erschrocken nach vorn . Rinnsale aus Staub und Ruß rieselten aus der zerstörten Decke. Flammen züngelten auf und verbrannten, was vom Nachbar-haus noch übrig war, und Schwejksam mußte vor der Hitze weichen, die durch das zerstörte Fenster drang. »Diese Maschinen werden erst aufhören, wenn nichts mehr außer Trümmern übrig ist«, erklärte er tonlos. »Wir müssen rennen. Haltet Euch dicht bei uns, Stelmach, und Euch wird nichts geschehen.« »Könnt Ihr mir das schriftlich geben?« erkundigte sich der Sicherheitsoffizier. »Ihr könnt meinen Stiefelabdruck auf Eurem Hintern haben, wenn Ihr nicht bald aufhört zu jammern«, erwiderte Frost. »Und jetzt setzt Euch gefälligst in Bewegung, sonst bringe ich Euch um.« Stelmach funkelte Frost herausfordernd an; doch er besaß genug Verstand zu schweigen. Investigatoren waren nicht gerade für ihre Toleranz berühmt . Schwejksam schlich zu dem freien Raum, wo einmal eine Tür gewesen war, und spähte vorsichtig nach draußen. Der Großteil der Kriegsmaschinen schien sich zu entfernen . Die riesigen Kampfwagen rollten langsam und unaufhaltsam durch den Rauch davon . Andere Maschinen flogen hinterher, und ihre Disruptoren feuerten noch immer auf das hinunter, was von den Gebäuden der Stadt übriggeblieben war. Roboter in Menschengestalt stapften den Kolossen hinterher, und auf ihren Metallgliedern trocknete das Blut ihrer Opfer. Schwejksam starrte sie an und fühlte sich mit einemmal klein und unbedeutend. Er war nicht an dieses Ge-fühl gewöhnt, und er haßte es schon jetzt . Schließlich drehte er sich wieder zu den anderen um. »In Ordnung. Wir verschwinden jetzt, solange die Rebellen noch genug Widerstand leisten, um die Kriegsmaschinen zu beschäftigen. Wenn wir es aus der Stadt hinaus schaffen, dann wird der Weg zur Festung relativ leicht. Investigator, wir rennen davon, ohne zu kämpfen. Ich möchte nicht, daß Ihr Euch in irgendeiner Form destruktiv betätigt . Es könnte die Aufmerksamkeit der Maschinen auf uns lenken . Habt Ihr mich verstanden?« »Selbstverständlich, Kapitän«, antwortete Frost. »Ich soll mich anstrengen und nicht meine Beherrschung verlieren.« »Das wäre das erste Mal«, murmelte Stelmach und verstummte, als Investigator Frost ihn mit kalten Blicken musterte. »Los, Leute«, befahl Schwejksam und führte die kleine Gruppe durch das Loch nach draußen, wo früher einmal eine Tür gewesen war. Sie blieben in Deckung, so gut es ging, und sie tauchten unter und rührten sich nicht mehr, wann immer eine der Maschinen zu nahe zu kommen drohte. Stelmach war außer sich vor Angst; doch er biß die Zähne zusammen, ballte die Fäuste und behielt seine Furcht für sich. Er wußte, warum die Kriegsmaschinen ihre Pinasse angegriffen hatten . Vorher, an Bord der Elegance, hatte General Beckett persönlich Stelmach auf die Seite genommen und ihm den Befehl erteilt, die Sicherheitskodes der Pinasse zu verändern, um sicherzustellen, daß sie in freundliches Feuer gerieten, wenn schon nicht in das der Rebellen . Die Imperatorin wollte unbedingt, daß Schwejksam und Frost mitten in die Kampfhandlungen gerieten, damit die beiden eine Gelegenheit erhielten , ihre angeblichen Kräfte zu demonstrieren. Und wenn sich keine natürliche Gelegenheit ergab, dann war Stelmach angewiesen, eine herbeizuführen, was auch immer dazu erforderlich sein sollte, um anschließend die Resultate zu berichten. Stelmach hätte den Auftrag am liebsten abgelehnt. Er hatte Frost und Schwejksam warnen wollen. Aber er hatte es nicht getan. Er konnte nicht. Sie waren seine Freunde; doch er hatte seine Befehle vom Eisernen Thron persönlich erhalten. Die Loyalität gegenüber seinen Freunden stand der Loyalität gegenüber dem Thron entgegen, und Stelmach hatte einen Eid auf seinen Namen und seine Ehre geschworen, der Imperatorin für den Rest seiner Tage zu dienen – bis zum Tod, wenn es sein mußte. Seine Pflicht war sonnenklar, und trotzdem fühlte er sich nun, da er zwischen all dem Feuer und der Zerstörung runter Frost und Schwejksam herstolperte, so schlecht, daß er am liebsten im Erdboden wäre. Er dachte so angestrengt über seine Lage nach, daß er den Kampfandroiden gar nicht bemerkte, der plötzlich aus einer Seitengasse trat und den Disruptor auf ihn richtete. Frost sah es und stieß Stelmach im letzten Augenblick zur Seite, und der Sicherheitsoffizier fiel auf die Knie. Der Energiestrahl ging über seinen Kopf hinweg und schlug in die Wand hinter ihm ein. Die obere Hälfte der Mauer verschwand in einer Wolke aus Ziegelstaub; doch die untere Hälfte kippte nach vorn und brach über Stelmach zusammen. Er schrie kurz auf und riß die Arme hoch, um seinen Kopf zu schützen; dann begruben ihn die Ziegel unter sich. Schwejksam schoß dem Roboter mit einem einzigen Schuß den grinsenden Kopf weg; doch der Androide fiel nicht. Also schoß Frost ihm das Knie weg, nur um sicherzugehen. Der Androide krachte klappernd zu Boden und ruderte hilflos mit den verbliebenen Gliedmaßen. Frost trat vor, wand ihm den Disruptor aus der Hand und schoß der Maschine in die Brust. Sie rührte sich nicht mehr. Schwejksam und Frost steckten ihre Waffen wieder weg und eilten zu dem Trümmerhaufen, unter dem Stelmach begraben lag. Der Sicherheitsoffizier konnte hören, wie die beiden arbeiteten, doch zu sehen war nichts. Rauch und Staub hatten seine Augen mit Tränen gefüllt. Er spürte das Gewicht der eingestürzten Mauer auf seinem Körper; aber er schien nicht ernsthaft verletzt zu sein. Hände und Füße spürte er noch, obwohl er sich nicht einen Zoll bewegen konnte. Er war gefangen unter einer ganzen Tonne Mauerwerk, oder wenigstens erschien es ihm so. Er lag ganz still und atmete flach unter der schweren Last auf seiner Brust. Stelmach und Frost riefen seinen Namen; aber er fand nicht die Kraft, ihnen zu antworten . Seine Schmerzen waren ganz weit weg. Ein Gefühl von tiefem Frieden machte sich in ihm breit. Und dann vernahm er das Geräusch heranstapfender Metallfüße. Schwejksam und Frost schienen es nicht bemerkt zu haben. Sie waren noch immer damit beschäftigt, Stelmach auszugraben. Der Sicherheitsoffizier blinzelte mit den Augen, so heftig er konnte, und irgendwie gelang es ihm, den Staub und die Tränen zu vertreiben. Er sah wieder, was um ihn herum vorging. Schwejksam und Frost hatten einen Freiraum um Stelmachs Gesicht herum gegraben, damit er atmen konnte, und als er an den beiden vorbeisah, die noch immer bemüht waren, ihn freizuschaufeln, erblickte er eine ganze Kompanie von Kampfandroiden. Sie marschierten die Straße herab genau auf die drei Menschen zu. Stelmach kam der Gedanke, daß er sich einfach nur still verhalten mußte. Die Roboter würden ihn wahrscheinlich gar nicht bemerken. Schließlich lag er noch immer unter Trümmern begraben. Sie würden Schwejksam und Frost töten und weiterziehen, und Stelmach wäre völlig sicher. Er mußte nichts weiter tun, als den Mund halten . Aber er konnte nicht . Sie waren seine Freunde. Er zwang sich zum Schreien, so laut er konnte. Schwejksam und Frost wirbelten herum, sahen die marschierenden Roboter, und ihre Hände sanken auf die Waffen in den Holstern . Erst dann fiel ihnen ein, daß sie ihre Disruptoren bereits gegen den ersten Androiden eingesetzt hatten und die Energiekristalle noch ein wenig Zeit benötigten, bevor die Waffen wieder schußbereit sein würden . Sie hatten nichts als ihre Schwerter. Metallklingen gegen Maschinen aus Stahl, die noch dazu allesamt mit Disruptoren bewaffnet waren. Stelmach rief Schwejksam und Frost zu, sich in Sicherheit zu bringen und ihn zurückzulassen; aber sie rührten sich nicht. Sie sahen sich an, Auge in Auge, und schienen die herannahenden Roboter völlig zu ignorieren. Irgend etwas wechselte zwischen den beiden hin und her – Wut oder Verzweiflung oder irgendein Gefühl, das Resignation sein mochte –, und sie wandten sich zu den Androiden um, die in diesem Augenblick ihre Waffen hoben. Stelmach wollte seinen Freunden erneut zurufen, daß sie verschwinden sollten, aber er brachte aufgrund des Staubs in seiner Lunge keinen Ton mehr heraus. Und dann erhob sich eine gewaltige Macht rings um Schwejksam und Frost, eine Präsenz, die wie gigantische Flügel auf die Luft einschlug und mächtiger und mächtiger wurde, bis sie in einer alles überschwemmenden Woge auf die Roboter zurollte und sie zerriß und ihre zerschmetterten Glieder über die Straße wehte. Und so schnell sie entstanden war, löste sich die unheimliche Präsenz auch wieder auf, und Schwejksam und Frost waren nur noch ganz gewöhnliche Menschen, nichts weiter. Sie blickten sich einen langen Augenblick in die Augen, dann wandten sie sich zu Stelmach um, der noch immer unter den Trümmern gefangen war. Er konnte sehen, wie es in den Köpfen der beiden arbeitete. Er wußte, was sie dachten… was sie denken mußten. Und doch überraschte es ihn nicht, als sie sich über ihn beugten und erneut anfingen, die Ziegelsteine beiseite zu räumen. Sie waren eben nicht wie er. Schließlich hatten sie Stelmach befreit, und Schwejksam stützte ihn, während Frost grob den Staub aus seinen Kleidern klopfte . Es dauerte eine Weile, bis sich der Nebel in Stelmachs Kopf gelichtet hatte, doch als es soweit war, befreite er sich aus Schwejksams Griff und stand aus eigener Kraft aufrecht. »Ihr habt mich gerettet«, sagte er mit einer Stimme, die so rauh war, daß es unmöglich allein vom Staub kommen konnte. »Das mußtet Ihr nicht tun.« »Doch, mußten wir, Stelmach«, erwiderte Schwejksam. »Ihr gehört schließlich zur Familie. Ihr hättet für uns das gleiche getan.« »Ihr versteht nicht«, sagte Stelmach. Er zwang die Worte förmlich über seine Lippen. »Ich bin dafür verantwortlich, daß wir hier sind. Ich habe die Pinasse sabotiert. Der Imperatorin sind Gerüchte über Eure… Kräfte zu Ohren gekommen. Sie wollte einen Beweis. Also hat sie mir den Befehl erteilt, Euch in Gefahr zu bringen und dann zu beobachten.« »Vertraue niemals einem Sicherheitsoffizier«, bemerkte Frost. Ihre Hand fiel auf den Griff des Disruptors. Stelmach rührte sich nicht. »Er hätte es für sich behalten können«, sagte Schwejksam. »Nein, hätte ich nicht«, widersprach der Sicherheitsoffizier. »Wir sind eine Familie.« Er grinste Schwejksam an , und Schwejksam erwiderte das Grinsen. Frost nickte nur – was für einen Investigator, der sich sonst nur am Töten erfreute, soviel wie ein Lächeln bedeutete – und nahm die Hand wieder von der Waffe. »So«, sagte sie. »Und was machen wir jetzt?« »Als erstes konzentrieren wir uns darauf, lebend zur Festung zu kommen«, antwortete Schwejksam. »Alles andere kann warten. Wir denken uns etwas aus. Uns ist bisher immer etwas eingefallen.« »Ich hasse dieses ständige Improvisieren«, murrte Frost. Sie zogen durch die Überreste der Stadt und kamen jetzt schneller voran, da sie sich nicht mehr länger vor den Kriegsmaschinen verstecken mußten. Schwejksam und Frost beschworen erneut ihre geheimnisvolle Kraft und verbargen sich und Stelmach vor den Sensoren der Maschinen. So beobachteten sie unangetastet, wie Roboter durch die Straße marschierten und eine verzweifelte Schar von Flüchtlingen vor sich her trieben. Männer, Frauen und Kinder rannten vor den Angreifern mit der Kraft der Todesangst davon, mit berstenden Lungen und ohne auf die Schmerzen in den Beinen zu achten. Die Langsamsten wurden ein Opfer der Maschinen, genau wie die, die nicht mehr weiterlaufen konnten. Roboter schlugen ihnen mit schnellen , präzisen Schlägen die Schädel ein. Blut strömte über die Pflastersteine und sammelte sich zäh in den Gullys. Schließlich wurden die Roboter des Spiels überdrüssig , oder vielleicht hatten sie auch entschieden , daß ihre Prioritäten anderswo lagen. Sie fielen über die Flüchtlinge her und über-mannten sie innerhalb von Sekunden. Sie rissen ihnen die Gliedmaßen aus und metzelten alles nieder , was sich bewegte, bevor sie weiterzogen. Ihre metallenen Füße stampften durch einen See aus Blut und Eingeweiden. Die ganze Sache hatte nur Sekunden gedauert. Sie marschierten direkt an Frost, Schwejksam und Stelmach vorbei, ohne die drei zu bemerken . Stelmach sah Schwejksam und Frost an. »Hättet Ihr nicht etwas unternehmen können? Ich meine, ich weiß, daß sie Rebellen waren, aber…« »Kein Aber«, entgegnete Frost. »Die Strafe für Rebellion ist der Tod.« »Ich weiß nicht«, sagte Schwejksam. »Das war keine Hinrichtung. Das war ein Gemetzel. Ich weiß, wie Krieg aussieht. Ich habe gesehen, wie Menschen sich aus allen möglichen Gründen gegenseitig umbrachten; aber das waren immer noch Menschen, keine Maschinen. Unter den Rebellen waren Kinder…!« Frost sah Schwejksam an. »Ihr werdet doch wohl nicht weich, Kapitän? Die Rebellen haben sich selbst zuzuschreiben, was mit ihnen geschieht. Sie haben die Köpfe zusammenge-steckt und Intrigen geschmiedet, und das ist die Folge davon. Sie haben ihren Eid, ihre Pflicht und ihre Ehre verraten und schließlich sich selbst. Sie wußten, was sie erwartete.« »Glaubt Ihr wirklich, die Kinder wußten, was sie erwartete?« fragte Schwejksam. »Meint Ihr allen Ernstes, sie wußten, warum man sie durch die Straßen trieb wie Vieh und anschließend abschlachtete?« »Ihre Eltern tragen die Verantwortung«, entgegnete Frost. »Sie allein sind schuld an allem. Wir dürfen nicht schwach werden, Kapitän. Nicht jetzt. Das wißt Ihr selbst. Ihr wart es, der den Befehl zum Sengen des Planeten Unseeli erteilte.« »Und diese Tat verfolgt mich noch immer«, sagte Schwejksam. »Ich dachte, es gäbe keinen anderen Weg. Und am Ende löste es keines unserer Probleme, oder habt Ihr das vergessen? Vielleicht sollten wir ein wenig angestrengter nach anderen Möglichkeiten Ausschau halten?« »Das ist nicht unsere Aufgabe«, sagte Frost. »Schließlich sind nicht wir diejenigen, die Politik machen. Wir können das große Bild nicht sehen.« »Haben wir das je versucht?« fragte Schwejksam. David Todtsteltzer und Kit Sommer-Eiland rasten zusammen mit Jenny und Alice auf ihrem Flieger der Festung entgegen. Es war nicht der sicherste Ort, den David sich vorstellen konnte, vor allem dann nicht, wenn der Steward das Kommando übernommen hatte; aber sie hatten kaum eine andere Möglichkeit. Doch David hatte bei seiner Ankunft auf Virimonde Vorkehrungen getroffen. Die Sicherheitskräfte der Festung waren mit Leuten durchsetzt, die ihm besonders treu ergeben waren. Nur für den Fall. Immerhin hatte der Steward auch schon Owen verraten. David konnte nur hoffen, daß seine Leute die Kontrolle übernommen hatten, bis er und seine Freunde in der Festung eingetroffen waren. Sie flogen hoch über den Wolken mit der größtmöglichen Geschwindigkeit, die die überlasteten Maschinen des Fliegers zustande brachten. Kit hatte die Kontrollen übernommen, und David tröstete Alice. Sie hatte noch kein Dutzend Worte gesagt, seit der Hieger gestartet war. Sie hatte gesehen, wie ihre Familie gestorben und ihr Heim zerstört worden war, und ihr Gesicht war von rauhen, gebrochenen Linien durchzogen. David und Jenny redeten abwechselnd auf sie ein, versuchte sie zu einer Reaktion zu bewegen; aber Alice schien sie nicht zu hören. Irgend etwas in ihrem Innern war zerbrochen, und vielleicht wurde es niemals wieder heilen. David druckte ihr seinen Disruptor in die Hand, und sie schien das als eine Art Trost zu empfinden. Am Ende ließ er sie mit Jenny allein und ging nach vorn zu Kit. »Wie kommen wir voran?« »Den Umständen entsprechend« , erwiderte der Sommer-Eiland mit ruhiger Stimme. »Unsere Sicherheitskodes schützen uns wahrscheinlich nicht mehr länger vor Angriffen; aber in dieser Höhe und bei dieser Geschwindigkeit sind die meisten Maschinen am Boden kaum in der Lage , uns anzupeilen. Das wirkliche Problem sind die Energiekristalle des Fliegers. Nach den Instrumenten zu urteilen haben wir nicht mehr genug Energie, um den gesamten Weg bis zur Festung zurückzulegen und gleichzeitig die Schilde aufrechtzuerhalten.« »Dann schalt die Schilde eben ab!« sagte David. »Unsere einzige Hoffnung besteht darin, die Festung zu erreichen.« »Genau mein Gedanke«, erwiderte der Sommer-Eiland. »Wie geht es den Mädchen?« »Den Umständen entsprechend. Ich kann immer noch nicht glauben, daß die ganze Situation so schnell außer Kontrolle geraten ist. Du hast gesehen, was unten auf der Oberfläche geschieht. Sämtliche Städte stehen in Flammen. Überall Kriegsmaschinen und Truppen. Das ist keine Strafexpedition, das ist eine Invasion!« »Sieh’s doch von der positiven Seite«, sagte Kit. »Wenigstens sengen sie den Planeten nicht aus dem Orbit heraus .« »Ich wage nicht einmal daran zu denken. Ich habe etwas wie das hier noch nie erlebt, Kit. Sie schlachten meine Leute ab. Und alles wegen mir!« »Nein, da irrst du dich. Es ist nicht wegen dir, sondern weil die Bauern so dumm waren, mit Demokratie zu experimentieren. Sie haben förmlich danach geschrien.« »Ich habe es zugelassen! Ich hätte nein sagen können . Ich hätte mit meinen Sicherheitsleuten hart durchgreifen können. Ich hätte ein paar Rädelsführer exekutieren und ein paar Farmen niederbrennen können, und alle anderen wären in Sicherheit gewesen. Ich habe versagt, Kit. Es war meine Pflicht, diese Leute zu schützen und Unheil von ihnen abzuwenden. Es war meine Pflicht als Todtsteltzer.« »David, können wir uns vielleicht auf die wesentlichen Dinge konzentrieren? Zum Beispiel auf die Frage, was wir machen werden , wenn wir die Festung erreichen und der Steward alles unter Kontrolle hat?« »Improvisieren. Es gibt Geheimgänge und versteckte Fallen , die nur meine Leute und ich kennen. Owen hat mir alle gezeigt. Wenn der Steward die Festung in seine Gewalt gebracht hat , dann werde ich sie ihm wieder wegnehmen . Und anschließend werde ich ihm den verräterischen Kopf abschneiden und einen Fußschemel daraus machen.« »Netter Gedanke. Vorausgesetzt, wir können die Festung in unsere Gewalt bringen. Und was dann? Wir werden uns nicht lange gegen die Kriegsmaschinen halten können, und wir haben nichts, womit wir Virimonde verlassen könnten. Außer natürlich, du hast irgendwo ein weiteres kleines Geheimnis versteckt?« »Leider nicht«, entgegnete David. »Aber ich würde nicht fliehen, selbst wenn ich könnte. Meine Leute sterben. Ich werde sie nicht im Stich lassen.« »Aber was kannst du daran ändern, David?« »Ich werde mir schon etwas ausdenken! Ich bin immerhin ein Todtsteltzer!« »Das ist genau das«, sagte der Sommer-Eiland, »was uns in erster Linie in Schwierigkeiten gebracht hat.« David dachte über die Worte seines Freundes nach; dann blickte er ihm in die Augen. »Sie sind hinter mir her. Noch ist es nicht zu spät für dich. Du kannst dich von mir trennen. Nimm die Frauen mit und geh in Deckung. Du warst immer schon Löwensteins Liebling. Sie nimmt dich vielleicht wieder auf, wenn du dich öffentlich von mir distanzierst.« »Keine Chance« , widersprach der Sommer-Eiland. »Wir bleiben zusammen. Vergiß deine Selbstlosigkeit und denk weiter nach. Du bist der Kopf in dieser Partnerschaft. Finde einen Ausweg.« »Laß mich ans Steuer«, sagte David. »Ich kenne die Gegend besser als du.« Sie tauschten die Plätze, und Kit ging nach hinten, um die Frauen zu trösten und zu sehen, wie es ihnen ging. Er war nicht sonderlich gut in derartigen Dingen; aber er nahm an, daß er es wenigstens versuchen mußte. Die Angriffsschiffe kamen aus dem Nichts. Disruptorfeuer riß die Seite des ungeschützten Fliegers auf. Explosionen schüttelten das kleine Gefährt, und in der Kabine brach Feuer aus. David kämpfte um die Kontrolle, doch der Flieger stürzte unaufhaltsam der Erde entgegen. Kit packte einen Feuerlöscher und verteilte Schaum über die nächstgelegenen Flammen. Rauch erfüllte die Kabine. Jenny drückte Alice fest an sich. Die Maschine des Fliegers stotterte und erstarb, und dann fielen sie hinunter wie ein Stein. David schaltete die Notaggregate ein. Er stieß eine endlose Serie monotoner Flüche aus. Der Flieger machte einen Satz nach vorn; doch er sank noch immer. Die Angriffsschiffe schlugen erneut zu, und das gesamte Heck des Fliegers explodierte. Die Luft entwich aus der Kabine, nahm den Rauch mit sich, und die Flammen loderten hoch auf. Kit mußte vor der Hitze zurückweichen . David schrie eine Warnung, daß sich alle gut festhalten sollten, und suchte hektisch auf den Schirmen nach einer einigermaßen flachen Stelle, wo er landen konnte. Er fand ein Feld ganz in der Nähe eines größeren Waldstücks. Das mußte reichen. Er riß den Flieger herum und kämpfte auf dem gesamten Weg nach unten mit den Kontrollen. Der Boden sprang ihm förmlich entgegen. Das Schiff prallte hart auf. Es hüpfte und tanzte über das Feld und pflügte einen mächtigen Graben durch das Gras, bevor es nur wenige Metern vor den ersten Bäumen zum Stillstand kam. Die Kabine war erneut voller Rauch. Flammen fraßen sich fest. David saß zusammengesunken im Pilotensitz, und nur die Sicherheitsgurte hielten ihn an seinem Platz . Von einem Schnitt auf seiner Stirn rann Blut über sein Gesicht, und er war sich verschwommen bewußt, daß er auf dem Weg nach unten mit dem Kopf gegen irgend etwas Hartes, Unnachgiebiges geprallt war . Rauch fing sich in seiner Kehle, und er kam mit einemmal zu sich, weil er husten mußte und fast erstickt wäre. Plötzlich war Kit bei ihm. Er befreite David aus den Sicherheitsgurten, und David wollte ihm helfen; doch seine Hände waren taub und gefühllos . Kit löste die letzten Gurte, und David erhob sich mühsam aus seinem Sitz. Er fühlte sich elend; aber sein Kopf wurde allmählich wieder klar. Er hustete erneut und starrte in den Rauch. »Alice! Wo sind Alice und Jenny?« »Es tut mir leid«, erwiderte Kit. »David, es tut mir so leid.« David starrte seinen Freund sprachlos an. Dann schob er ihn zur Seite und kämpfte sich durch den Rauch und die größer werdenden Flammen zu der Stelle, wo Alice lag, direkt neben einem Riß in der Kabinenwand. Ein Disruptorschuß hatte die Hülle durchschlagen, und gezackte scharfe Ränder zeigten nach innen. Blut tropfte zäh von den scharfen Kanten. Alice war auf der gesamten rechten Seite aufgerissen worden. Deutlich waren ihre gebrochenen Rippen durch das rote Fleisch hindurch zu sehen, und ihre Eingeweide hingen aus der klaffenden Wunde. Ihre Augen waren glücklicherweise geschlossen . David zwang sich, den Blick von ihr abzuwenden und zu der Stelle zu sehen, wo Jenny eingeklemmt unter dem verbo-genen Metall lag. Sie war benommen; aber sie versuchte hektisch, sich zu befreien. David hob Alice auf und rief nach Kit. »Ich nehme Alice! Du siehst zu, daß du Jenny befreist.« Kit tauchte im Rauch auf und packte David am Arm. »David! Sie ist…« »Ich schaffe Alice hier raus! Du kümmerst dich um Jenny!« Kit warf einen Blick auf Alice und die roten und purpurnen Eingeweide, die aus ihrer Seite baumelten; dann nickte er und kniete bei Jenny nieder. David stolperte zur Notschleuse, trat die Tür auf und sprang hinaus. Kit zerrte an dem gezackten Metall, das Jenny am Boden festhielt. Es war ein breites, schweres Stück, und die scharfen Kanten schnitten in Kits ungeschützte Hände. Er zog und zerrte mit all seiner Kraft, aber das Metall gab nicht einen Zoll nach. Jenny hatte inzwischen ihre Benommenheit abgeschüttelt und blickte ihn aus verzweifelten Augen an. Sie konnte ihm nicht helfen. Das Metallstück hatte ihre Arme an die Seiten gefesselt. Schweiß rann über beider Gesichter, hervorgerufen durch die unerbittliche Hitze der sich rasch nähernden Flammen. Kit gab seine Bemühungen auf und dachte angestrengt nach. Das Feuer kam näher, und die Flammen wurden heißer, während sie die Kabine Stück für Stück verschlangen. Wenn es ihm nicht bald gelang, Jenny zu befreien, würden die Flammen den Notausgang versperren . Jenny sah ihm an, was er dachte. »Kit! Laß mich nicht zurück! Bitte, laß mich nicht einfach verbrennen!« »Nein«, sagte Kit. »Das wäre unmenschlich.« Er zog das Messer und stieß es ihr durchs Auge. Er wollte, daß es schnell ging. Jenny bäumte sich kurz auf und lag still. Kit zog das Messer wieder heraus, steckte es ein und ging zum Notausgang. Er hatte alles getan, was er tun konnte. Er sprang aus der Luke und eilte über das kurze ungedeckte Stück Feld, um zwischen den Bäumen Deckung zu suchen. Sie würden ihn zwar nicht vor Disruptorfeuer schützen; aber sie würden die Sensoren täuschen. Er mußte David finden. David würde wissen, was als nächstes zu tun war. Er fand seinen Freund ein kurzes Stück tiefer im Wald. Er kauerte neben Alice am Boden. Er hatte sie an einen Baumstumpf gelehnt und war damit beschäftigt, die heraushängenden Eingeweide durch die klaffende Wunde in ihrer Seite zu-rückzuschieben. Seine Hände waren rot vor Blut und seine Kleidung an jenen Stellen damit vollgesogen, wo er Alice an sich gedrückt hatte. Er sah hoch, als Kit sich näherte. David weinte, und die Tränen zogen schmale Spuren durch das Blut, das ihm aus einer Wunde in der Stirn übers Gesicht rann. »Sie ist tot«, sagte er zu Kit, und in seiner Stimme lag aller Schmerz der Welt. »Sie hat mir ihr Leben anvertraut, und ich habe sie im Stich gelassen. Ganz genau so, wie ich auch jeden anderen im Stich gelassen habe.« »Es tut mir leid«, sagte Kit. »Ich bin schuld an ihrem Tod, weißt du? Sie ist tot, weil sie bei mir war.« »Mach dir keinen Vorwurf deswegen«, entgegnete Kit. Davids Tränen verwirrten ihn. Er wußte nicht, was er dagegen unternehmen sollte. »Sie töten jeden auf dieser Welt. Du hast versucht, Alice zu retten. Du hast getan, was du tun konntest. Du hast dein Bestes gegeben.« David nickte zögernd. Er war nicht überzeugt. Er wischte sich mit dem Handrücken das Blut und die Tränen aus dem Gesicht, schniefte ein paarmal und sah dann wieder hoch zu seinem Freund. »Wo ist Jenny?« »Tot. Sie starb an ihren Wunden, während ich versuchte, sie zu befreien.« Normalerweise hätte sich Kit nicht die Mühe gemacht zu lügen, aber er wollte seinen Freund nicht noch mehr aus der Fassung bringen. Er sah sich um. »Weißt du, wo wir sind?« »Ja. Ich kenne die Gegend. Die Festung liegt keine fünf Minuten zu Fuß von hier. Auf der anderen Seite des Waldes. Wir hätten es fast geschafft, Kit! Wir waren so nah. Nur noch ein paar Minuten, und wir wären in Sicherheit gewesen. Wir alle.« Kit kniete neben David nieder. »Das ist alles das Werk der Löwenstein. Sie allein trägt die Schuld. Und jetzt laß uns von hier verschwinden. Sie werden bald kommen und nach uns suchen.« David nickte und stand auf. Kit stellte sich neben ihn. David sah auf Alice hinab. »Ich hasse den Gedanken, sie hier liegen zu lassen.« »Sie ist tot, David. Sie hat keine Schmerzen mehr. Wir werden sie später rächen.« »Ja. Wir werden sie rächen. Später.« David wandte sich ab und stapfte los, tiefer in den Wald hinein, und Kit folgte ihm. Es war kühl und still unter den großen Bäumen, ein dunkler, geheimnisvoller Ort, der irgendwie weitab vom Rest der Welt zu liegen schien. Das Chaos war noch nicht bis hierher vorgedrungen. Die Luft war voll vom Geruch nach Gras und Humus und lebenden Dingen. Kit ging neben David einher, und er genoß die Ruhe und den Gesang der Vögel. David marschierte brütend und mit dunklen Augen über den schmalen Waldweg. Der Frieden ringsum erreichte ihn nicht. Kit überlegte ununterbrochen, was er zu seinem Freund sagen konnte, doch ihm wollte nichts einfallen. Er hatte keine Erfahrung in diesen Dingen. Also stapfte er schweigend neben David her, die Hände auf den Waffen, und überließ den Freund seinen Gedanken. David würde früher oder später irgend etwas einfallen. Ihm war noch immer irgend etwas eingefallen. Kit war von Natur aus wachsam und mißtrauisch; doch er bemerkte erst, daß sich nicht mehr allein im Wald unterwegs waren, als drei Gestalten ihnen den Weg versperrten. Eine der Gestalten trug die Uniform eines Imperialen Sternenflottenka-pitäns, die zweite war offensichtlich ein Investigator, und die dritte stand ein Stück zurück und hielt einen Disruptor in der Hand, allerdings nicht auf David und Kit gerichtet. Die beiden Freunde blieben unvermittelt stehen, und für eine lange Zeit geschah überhaupt nichts. Alle standen einfach nur da und musterten ihre Gegenüber. Die Wälder waren wie eine einzige große grüne Arena, ein Ort, an dem Schicksale entschieden wurden und alles mögliche geschehen konnte. Wirklich alles. »Ich bin Kapitän Johan Schwejksam«, stellte sich der Mann in der Kapitänsuniform vor. Er hielt ein Schwert in der Hand. »Das dort sind Investigator Frost und Sicherheitsoffizier K. Stelmach. Ihr seid festgenommen, Mylords. Übergebt Eure Waffen und folgt uns.« »Das glaube ich kaum«, erwiderte David. »Ich bin der Todtsteltzer, und meine Leute brauchen mich. Tretet beiseite und laßt mich passieren, oder sterbt an Ort und Stelle.« »Gut gesprochen«, sagte Kit. Er grinste Frost an. »Ich wollte schon immer wissen, wie ich mich gegen einen leibhaftigen Investigator machen würde.« »Ihr würdet sterben, Junge«, erwiderte Frost. »Werft Eure Waffen weg, und Ihr werdet bis zur Eurer Gerichtsverhandlung leben.« »Geht aus dem Weg«, sagte David. »Ihr werdet mich nicht aufhalten.« Der Kapitän zuckte die Schultern. »Tut, was Ihr tun müßt, Mylord. Am Ende heißt es immer Stahl gegen Stahl, nicht wahr?« Er trat vor, und David zückte sein Schwert, um ihm zu begegnen. Ihre Klingen prallten aufeinander, Funken stoben, und das Krachen von Stahl auf Stahl durchdrang schmerzhaft laut die Stille. Kit Sommer-Eiland grinste sein berüchtigtes Totenkopfgrinsen und tänzelte leichtfüßig vor, um Frost zu begegnen. Sie umkreisten einander und suchten in den Augen des anderen nach Schwächen. Stelmach senkte seinen Disruptor und trat zurück. Er wußte, daß er nur die Rolle des Zuschauers innehatte. David rief den Zorn herbei, das Erbe der Todtsteltzer, und neue Kraft und Energie wogte in ihm und vertrieb Müdigkeit und Erschöpfung. Doch auch das würde ihm nicht lange helfen, und er wußte es. Es war noch nicht lange her, da hatte er in der Stiefmütterchen-Taverne einen ganzen Abend getrunken und gefeiert. Fast lächelte er. Ihm schien, als sei es eine Ewigkeit her, doch sein Körper kannte die Wahrheit. Zuviel Alkohol und zuwenig Schlaf hätten ihn ohne den Zorn unendlich langsam gemacht, und selbst mit ihm bezweifelte er, lange genug durchhalten zu können. Also drängte er vor, verstärkte die Wucht seines Angriffs und legte seine ganze nicht unbeträchtliche Körperkraft in die Schläge. Schwejksam wich Schritt um Schritt zurück, aber er begegnete jedem Hieb des Todtsteltzers mit gleicher Wucht, was eigentlich unmöglich hätte sein müssen. Sie hieben und stießen, finteten und parierten und block-ten, und ihre Klingen bewegten sich mit solcher Geschwindigkeit, daß das menschliche Auge ihren Bewegungen nicht folgen konnte. Und dann blieb Schwejksam mit einemmal stehen und wich nicht mehr weiter zurück. Er begegnete den wilden Angriffen des Todtsteltzers mit ruhiger Gelassenheit und großem Geschick. Er ließ sich einfach nicht mehr weiter in die Defensive treiben. Kit Sommer-Eiland, auch bekannt unter dem Namen Kid Death, der lächelnde Killer, trug seinen Angriff mit mehr Bedacht vor. Er hatte in seinem ganzen Leben noch nie einen Kampf verloren, und er beabsichtigte auf gar keinen Fall, ausgerechnet heute damit anzufangen. Aber Frost war Investigator. Kit und Frost umkreisten einander mißtrauisch, und hin und wieder zuckte eine ihrer Klingen vor, um die Reflexe und Geschwindigkeit des anderen zu testen. Sie waren beide Meister ihrer Kunst, und keiner von beiden sah einen Grund, warum er in Hektik verfallen sollte. Sie grinsten sich an und umkreisten sich weiter. David kämpfte voller blinder Wut. Dieser eine Kapitän der Imperialen Flotte war zu ihm gekommen, und für den Augenblick repräsentierte er die gesamten Streitkräfte des Imperiums, die blinden, schrecklichen Mächte, die sein Leben und seine Welt zerstört hatten. Er hieb und stach mit zunehmender Wildheit, zehrte rücksichtslos von den Kräften, die der Zorn ihm verlieh, und es war nur eine Frage der Zeit, bis Schwejksam einen besonders wilden, ungezielten Schwinger zur Seite schlagen und David durchbohren würde. Schließlich heulte der junge Todtsteltzer vor Schreck und Schmerzen auf und sank in die Knie; aber er hielt das Schwert irgendwie noch immer in der Hand. Schwejksams Klinge hatte Davids Eingeweide durchbohrt und war auf der Rückseite wieder ausgetreten. Er spürte, wie das Blut aus ihm herausströmte, und er hörte, wie es zu Boden spritzte. Schwejksam riß sein Schwert wieder heraus, und David schrie erneut auf. Blut sprudelte aus seinem Mund und erstickte seine Laute. Er wollte sich wieder auf die Beine kämpfen, doch es ging nicht. Allein der Zorn hielt ihn bei Bewußtsein; aber all seine Kraft hatte ihn verlassen. Der Kapitän holte mit der Klinge zum tödlichen Schlag aus. Kit sah, wie sein Freund getroffen wurde, und er verschwendete keine Zeit mit einem Wutschrei. Er erwischte Frosts Schwert mit einer knappen Parade und trat ihr hart gegen die Kniescheibe. Während sie um ihr Gleichgewicht kämpfte, riß er sich den Umhang herunter und schleuderte ihn über ihren Kopf. Er hätte sie nur allzu gerne in diesem Augenblick getötet, solange sie hilflos war, aber dazu war keine Zeit. Er rannte zu Schwejksam hinüber und schrie den Kapitän an, um ihn von David abzulenken. Schwejksam drehte sich rasch zu ihm um, und Kid Death duckte sich unter der ausgestreckten Klinge hindurch und rammte dem Kapitän die Schulter in den Magen. Der Kapitän stolperte rückwärts und rang nach Luft, und Kit rannte zu David und riß ihn auf die Beine. Ein einziger Blick zeigte ihm, wie schwer David verwundet war; doch daran durfte Kit jetzt nicht denken. In der Festung würde man David helfen. Sie mußten ihm einfach helfen. Kit zerrte David mit sich, und dann hörte er hinter sich Schritte. Er drehte sich um. Der Kapitän war unglaublicherweise wieder auf den Beinen und griff erneut an. Kit griff nach dem Disruptor an seiner Seite und bemerkte, daß David schwer gegen die Waffe drückte. Der Kapitän war fast heran. Dann ertönte das Geräusch eines Dis-ruptorschusses, und Schwejksam sank in die Knie. Er war in den Rücken getroffen worden. Kit blickte in die Richtung, aus der der Schuß gekommen war, und sah den Sicherheitsoffizier. Der Mann hielt die Waffe noch in der Hand, und in seinen Augen stand das nackte Entsetzen über seinen eigenen Fehler. Kit winkte ihm rasch seinen Dank zu, zog David noch fester an sich und führte ihn unter die Bäume davon. Frost hatte sich gerade rechtzeitig aus dem Umhang befreit, um Schwejksam fallen zu sehen. Sie ignorierte die fliehenden Rebellen und den zitternden, stammelnden Stelmach und eilte zu Schwejksam. Sie kniete neben ihm nieder und untersuchte die Wunde. Der Energie-Strahl hatte den größten Teil seines linken Rippenkäfigs weggerissen. Er hatte die Arme um den Leib geschlungen, als könnte er durch reine Kraft seinen Körper zusammenhalten . Frost zog ihm sanft die Hände auseinander, um das ganze Ausmaß der Verwundung zu sehen . Schwarze Stummel, die Überreste der Rippen, waren deutlich in der noch rauchenden Wunde zu sehen, halb kauterisiert von der Hitze des Strahls. Hinter ihr stammelte Stelmach, daß er einen Fehler begangen habe und daß es ihm leid täte, so unendlich leid; aber weder Frost noch Schwejksam hörten ihm zu. Schwejksams Gesicht war kreideweiß, und er atmete in raschen, flachen Zügen. Jeder andere wäre längst tot gewesen. Allein der Schock hätte dazu ausgereicht. Frost packte seine Hand und drückte sie rauh. »Kapitän, hört mir zu! Ihr werdet nicht sterben! In Euch ist eine geheimnisvolle Macht. In uns beiden. Benutzt sie, Johan! Verdammt, Ihr könnt Euch selbst heilen!« Sie konzentrierte sich auf die Macht tief in ihrem Innern, zwang sie an die Oberfläche und in Kapitän Johan Schwejksam. Er ächzte einmal laut auf, dann umklammerte seine Hand die von Frost, und er versteifte sich mit weiten, überraschten Augen. Sie sahen beide auf die klaffende Wunde in seiner Seite und beobachteten sprachlos, wie Fleisch und Haut und Knochen sich vor ihren Augen nahtlos miteinander verbanden, bis noch nicht einmal mehr die kleinste Spur der tödlichen Wunde zu erkennen war. Schwejksam nahm probehalber einen tiefen Atemzug, innerlich auf den Schmerz gefaßt, der niemals kam; dann grinste er Frost an. Sie erwiderte sein Grinsen, und zusammen standen sie auf. Stelmach stand bei ihnen und war sprachlos vor Staunen. »Ich… ich wußte nicht, daß Ihr dazu in der Lage seid«, meinte er nach einer ganzen Weile. »Ich auch nicht«, entgegnete Schwejksam. »Man lernt doch tatsächlich jeden Tag etwas Neues hinzu.« »Es tut mir leid, Kapitän. Es tut mir wirklich unendlich leid…« Schwejksam hob die Hand, um ihn zu unterbrechen. »Eure Entschuldigung ist angenommen, Kühnhold. Aber von heute an wagt es ja nicht, mir helfen zu wollen, wenn wir wieder einmal in einen Kampf verwickelt werden sollten.« Er drehte sich zu Frost um. Ihr Lächeln war verschwunden, und sie war wieder ganz der kühle, durch nichts aus der Fassung zu bringende Investigator. »Willkommen daheim, Kapitän«, sagte sie. »Ich wußte immer, daß Ihr viel zu niederträchtig seid, um einfach so zu sterben.« »Ich bin froh, daß es noch einmal gutgegangen ist, Investigator. In welche Richtung sind die Rebellen geflohen?« »Tiefer in den Wald hinein, Kapitän. Die Spur müßte leicht zu verfolgen sein. Der Todtsteltzer verliert eine Menge Blut. Seid Ihr wieder fit genug, um den beiden zu folgen?« »Ich denke schon. Aber wir müssen uns nicht beeilen. Es gibt nur einen Ort, zu dem sie fliehen können, und das ist die Festung des Todtsteltzers. Und wenn er erst einmal dort ist, haben wir ihn.« Kit Sommer-Eiland legte den schwer verwundeten David aufs Bett und blickte sich in dem luxuriös ausgestatteten Schlafzimmer um. Es gab nur die eine Tür sowie ein einziges Fenster, was es leichter machte, den Raum gegen Angreifer zu verteidigen. Im Augenblick befand sich die Festung unter der Kontrolle von Männern, die David gegenüber loyal waren. Allerdings war der verräterische Steward mit den meisten seiner Leute entkommen und hatte in der Zwischenzeit aller Wahrscheinlichkeit nach bereits Kontakt mit den Streitkräften des Imperiums aufgenommen. Es konnte nicht lange dauern, bis er zurückkehrte und an der Vordertür klopfte. David lag auf seinem Bett und atmete röchelnd. Einer der Diener hatte seinen Leib mit dicken Bandagen versorgt, aber es gab keinen Arzt in der Nähe. Der Verband war längst mit Blut vollgesaugt, und die kostbaren Bettlaken waren fleckig davon. Kit saß auf der Bettkante und überlegte, was er als nächstes tun sollte. Er konnte einfach verschwinden. Der Todtsteltzer war für vogelfrei erklärt worden, nicht Kit Sommer-Eiland. Kit konnte die Festung verlassen, zu den nächsten Imperialen Streitkräften marschieren und den Schutz beanspruchen, der das Privileg seines Ranges war. Der Kapitän und diese Investigatorfrau, gegen die er gekämpft hatte, würden vielleicht versuchen, ihm Schwierigkeiten zu machen, aber er konnte jederzeit behaupten, aus reiner Notwehr gehandelt zu haben. Niemand würde wagen, sein Wort als Lord anzuzweifeln. Trotzdem verwarf Kit den Gedanken rasch wieder. Er konnte David nicht im Stich lassen. Der Todtsteltzer richtete sich unvermittelt auf und stöhnte laut. Kit war augenblicklich zur Stelle, um ihn zu stützen. Davids Gesicht war jetzt grau, und Schmerz und Erschöpfung waren unübersehbar, doch seine Augen blickten noch immer klar. Sein Blick ging zu seinem Schwert, das ganz in der Nähe auf dem Bett lag, und er schien ein wenig Kraft aus diesem Anblick zu schöpfen. Er deutete auf den Holoschirm an der Wand vor ihm. »Schalt den Schirm ein«, bat er seinen Freund mit schwacher, aber fester Stimme. »Ich muß wissen, was auf meiner Welt vor sich geht.« »Du solltest dich ausruhen«, widersprach Kit. »Möglicherweise müssen wir ganz schnell wieder von hier verschwinden, falls der Steward mit genug Truppen zurückkehrt, um die Festung zu erstürmen.« »Ich gehe nirgendwo hin«, sagte David. »Das ist mein Heim und das Heim meiner Vorfahren, und ich werde hier bleiben. Ich werde mich dem Feind stellen. Und jetzt schalt den verdammten Schirm ein!« Kit zuckte die Schultern und tat, wie ihm geheißen. Gemeinsam sahen die beiden rebellischen Lords eine Reihe von Schreckensszenen der eroberten Welt Virimonde. Überall standen Gebäude in Flammen, in Dörfern, Städten und Großstätten ohne Unterschied. Tote lagen aufgestapelt auf den Schlachtfeldern wie dunkles, mißgestaltetes Gemüse. Lange Flüchtlings-trecks zogen sich bis zum Horizont. Was von ihrer Habe noch übrig war, trugen sie am Leib und auf dem Rücken. Noch immer regte sich vereinzelt Widerstand. Der Untergrund hatte viele Jahre Zeit gehabt, um auf Virimonde Fuß zu fassen. Die Rebellen waren ausgebildet und besaßen auch Waffen; aber nicht genug, um erfahrenen Bodentruppen und Imperialen Kriegsmaschinen gegenüberzutreten. Und trotzdem kämpften sie weiter, unterlegen in Zahl und Bewaffnung, und die Imperialen bezahlten noch immer für jeden Zoll an Bodengewinn. David sah seine Leute kämpfen und sterben . Er sah, wie der Boden, auf dem sie standen , fleckig von ihrem eigenen und dem Blut ihrer Feinde wurde . Er sah , wie Imperiale Kriegsmaschinen durch zerstörte Dörfer marschierten und gewaltige Stahlkolosse in der Mitte zerstörter Städte thronten, und dann mußte er den Blick abwenden. Kit schaltete den Schirm wieder ab. »Jetzt bleibt nur noch eins zu tun«, sagte David am Ende. »Genau«, stimmte Kit ihm zu. »Wir raffen alles zusammen, was wir tragen können, und suchen das Weite. Irgend jemanden werden wir schon bestechen können , damit er uns von Virimonde wegschafft. Aber wohin? Vielleicht zur Nebelwelt? Was meinst du?« »Nein«, entgegnete David. »Ich hab’ dir schon einmal gesagt: Ich fliehe nicht. Ich werde mich ergeben.« »Was? Hast du den Verstand verloren? Du kannst bestenfalls darauf hoffen, einen Schauprozeß und anschließend eine schnelle Hinrichtung zu erhalten. Auf Nebelwelt wären wir wenigstens…« »Nein! Nein! Falls ich mich ergebe und den Rebellen sage, daß sie die Waffen niederlegen sollen, hören die Kämpfe auf. Meine Leute wären in Sicherheit. Viel zu viele sind bereits gestorben, Kit. Warum die Qual unnötig verlängern? Für mich zählt nur noch eins: Ich muß mein Volk schützen, so gut ich kann.« Kit funkelte den Todtsteltzer an. »Seit wann bist du so verdammt edel? Das sind nur Bauern, weiter nichts!« »Nein«, widersprach David. »Das sind meine Bauern. Das Band der Verpflichtung und Treue gilt für beide Seiten. Ich habe es nur heute erst richtig begriffen.« Er grinste traurig. »Lange genug hat es ja gedauert. Aber ich glaube, ich habe endlich verstanden, was es heißt, ein Todtsteltzer zu sein. Schalt den Schirm wieder ein. Sieh zu, daß du einen der Verantwortlichen erreichen kannst .« Kit erkannte die Entschlossenheit im Gesicht seines Freundes und verstummte. Wie sich herausstellte, war es überraschend einfach, den Mann zu erreichen, der die gesamte Invasion leitete. General Shaw Beckett an Bord des Imperialen Sternenkreuzers Elegance blickte vom Schirm herab auf die beiden Rebellen und verbeugte sich höfisch. »Mylord Todtsteltzer, Mylord Sommer-Eiland. Gut, daß Ihr Euch meldet. Vergebt mir meine Offenheit, David, aber Ihr seht nicht gerade aus wie das blühende Leben.« »Aber ich lebe noch, General«, erwiderte David mit ruhiger, gleichgültiger Stimme. »Ich möchte Euch meine Kapitulation anbieten.« »Sehr ehrenhaft von Euch, Mylord. Ich begrüße Eure Geste.« Beckett schnitt eine traurige Grimasse. »Unglücklicherweise habe ich in der Zwischenzeit neue Befehle von der Imperatorin persönlich. Ich darf Eure Kapitulation unter gar keinen Um-ständen akzeptieren. Sie will Euch tot, Mylord, und die Rebellion niedergeschlagen. Meine Truppen haben Holokameras mitgenommen. Überall im Imperium sind die Bürger live bei der Einnahme von Virimonde dabei. Die Imperatorin beabsichtigt, ein Exempel zu statuieren. Es tut mir leid. Ich kann Eurem Freund, dem Sommer-Eiland, einen gewissen Schutz gewähren, falls Ihr es wünscht. Ich habe keine Befehle für seinen unmittelbaren Tod. Ich gebe Euch mein Wort…« »Ich denke drüber nach«, unterbrach ihn Kit. Der General nickte langsam. »Überlegt nicht zu lange, Mylord«, sagte er. David grinste den General erschöpft an. »Dann haben wir uns vermutlich nichts mehr zu sagen, nicht wahr, Shaw? Das Schicksal hat für jeden von uns einen Weg vorgegeben , und wir können nichts weiter tun, als ihm bis zu seinem Ende zu folgen. Verzeiht mir, wenn ich Euch nicht viel Glück wünsche.« »Ich verstehe, Mylord.« General Beckett verabschiedete sich mit militärischem Gruß. »Ich wünsche Euch einen guten Tod, Todtsteltzer.« Sein Gesicht verschwand vom Schirm, und Kit schaltete den Empfänger ab. Er sah David an. »Leg dich wieder hin. Versuch dich ein wenig auszuruhen. Du mußt dir etwas einfallen lassen, wie wir aus dieser Sache wieder rauskommen. Du bist der Denker in dieser Partnerschaft, oder hast du das vergessen?« »Er hat recht, Kit. Du solltest nicht hier bei mir bleiben.« »Tu ich aber.« Sie lächelten sich an. David streckte die Hand nach Kit aus. Der Sommer-Eiland nahm sie in seine beiden Hände und drückte sie fest. Davids Hand war feucht und kalt wie der Tod. David sank wieder aufs Bett zurück, und Kit half ihm dabei. Seine ganze Seite war inzwischen blutig rot. Kit hielt noch immer seine Hand. Plötzlich wurde es draußen laut. Kit ließ Davids Hand los und trat zum Fenster. Vor dem Haupttor der Festung war der Steward mit seinen Männern und einer kleinen Armee Imperialer Truppen aufmarschiert. Sie wurden angeführt vom Hohen Lord Dram persönlich, und in seiner Begleitung befanden sich Kapitän Johan Schwejksam und Investigator Frost. Tobias Shreck und sein Kameramann Flynn rannten eine enge Gasse entlang. Die Häuser zu beiden Seiten brannten lichterloh wie Freudenfeuer unter einem blutigroten Himmel. Die Luft war dick von fettem, schwarzem Ruß und glühender Asche, und es war so heiß, daß sie sich Gesicht und Hände verbrannten . Flynns Kamera tanzte über ihnen in der Luft, schoß die besten Aufnahmen, die unter diesen Umständen möglich waren, und schickte alles live hinaus. Hoch oben regneten Tod und Zerstörung aus Imperialen Kriegsschiffen herab, und Energiestrahlen von ganzen Batterien von Disruptorkanonen brachten Häuser zum Einsturz und zerfetzten Straßen. Überall rannten Leute durcheinander, und alle hielten irgendeine Art von Waffe in den Händen. Tobias wußte längst nicht mehr, wo auf Virimonde sie sich gerade befanden. Eine brennende Stadt sah aus wie die andere, und wohin sie auch kamen, überall legen Berge von Leichen im Weg. Männer, Frauen und Kinder lagen in anonymen, blutgetränkten Gruppen übereinander, niedergestochen und zerhackt oder verbrannt im Energiefeuer eines Disruptors. Tobias hatte in seinem Leben noch kein derartiges Gemetzel gesehen. Die Löwenstein mußte den Verstand verloren haben. Das hier ging weit über die Bestrafung eines Rebellionsversuchs hinaus, und es war auch weit mehr als ein Exempel, um andere Welten zu entmutigen. Nichts im Universum konnte ein derartiges Blutbad rechtfertigen. Hin und wieder kam ihm der Gedanke, daß seine Aufnahmen wahrscheinlich sensationell waren. Niemand hatte jemals zuvor eine Invasion aus so großer Nähe gefilmt. Er hoffte nur, daß irgend jemand es sah. Er traute den Imperialen Schiffen durchaus zu, alle Signale bis auf die eigenen zu stören. Tobias schnitt im Rennen eine Grimasse. Er war müde; doch er haßte den Gedanken, daß all seine Mühe umsonst gewesen sein könnte. Die Explosion traf ihn völlig überraschend. Direkt neben ihm flog ein ganzes Haus in die Luft. Er hörte nur ein Geräusch wie Donner, und dann wurde er von irgend etwas gepackt und durch die Gasse geschleudert. Er prallte hart auf das Kopfsteinpflaster, und seine Kleidung zerriß. Er versuchte, seinen Kopf unter den hochgerissenen Armen zu schützen, als ringsum zerfetztes Mauerwerk niederprasselte. Steine trafen ihn auf dem Rücken und an Armen und Beinen, und er schrie laut auf; doch seine Stimme ging im allgemeinen Lärm unter. Irgendwann war es vorbei, und Tobias hob vorsichtig den Kopf und spähte um sich. Die halbe Straße lag in Trümmern. Flynn war nicht weit entfernt. Der Kameramann war halb unter zusam-mengebrochenem Mauerwerk begraben. Tobias zwang sich auf die Beine und stolperte zu Flynn. In seinen Ohren klingelte es; seine Hände zitterten, und seine Beine fühlten sich an, als ge-hörten sie jemand anderem; aber Tobias vergaß das alles, als er sich über Flynn beugte. O Gott, sei nicht tot, Flynn! Bitte sei nicht tot! Ich habe dich nicht zum Sterben mit genommen. Seine tastende Hand fand einen schwachen Puls an Flynns Hals, und Tobias entspannte sich wieder ein wenig. Er fing an, die Ziegelsteine von Flynn weg zuräumen, einen nach dem anderen. Ihm schien, als würden sie überhaupt nicht weniger. Er hatte kaum richtig angefangen, als eine Kompanie Imperialer Marineinfanteristen im Laufschritt durch die Gasse marschierte. Sie hielten schußbereite Waffen in den Händen. Der Unteroffizier erblickte Tobias und richtete die Waffe auf ihn. Tobias hob die Hände. »Nicht schießen! Ich bin Reporter! Ich berichte über die Invasion!« Der Sergeant rümpfte enttäuscht die Nase und bedeutete seinen Männern mit einem Wink, die Waffen zu senken und ste-henzubleiben. Dann funkelte er Tobias drohend von oben herab an. »Was macht Ihr dort? Ihr härtet diese Gegend längst verlassen sollen!« »Mein Kameramann ist hier drunter verschüttet«, sagte Tobias und nahm vorsichtig die Hände runter. »Helft mir, ihn wieder auszugraben, und wir verschwinden von hier wie der Blitz.« »Alles, wenn Ihr nur so schnell wie möglich verschwindet. Ich weiß sowieso nicht, warum die Imperatorin Euch überhaupt hier haben wollte.« Er winkte ein paar seiner Leute herbei, und sie halfen Tobias, die restlichen Trümmer über Flynn beiseite zu räumen. Und da erst bemerkte Tobias, daß entweder die Gewalt der Explosion, oder die scharfen Ränder der zerbrochenen Steine Flynns Kleider aufgerissen hatten und allen einen freizügigen Blick auf die spitzenbesetzte schwarze Frauenunterwäsche gestattete, die Flynn heute darunter trug. Die Strümpfe und die Strapse waren ganz besonders aufreizend. Sechs Marineinfanteristen wichen so hastig vor Flynn zurück, als hätten sie sich verbrannt, während ihre Kameraden anzügliche Witze rissen und zweideutige Kommentare abgaben. Tobias’ Gedanken überschlugen sich. »Das ist eine Art Talisman!« rief er. »Die Wäsche gehörte einer Kollegin von Flynn, die ihm sehr nahe stand, und seit ihrem Tod trägt er diese Unterwäsche als Erinnerung und als Glücksbringer. Ehrlich! Viele Kameramänner tun so etwas! Das ist eine alte Tradition bei uns Reportern.« »Haltet die Klappe«, sagte der Sergeant. »Das gilt auch für Euch, Männer! Ein Freak wie der dort kann sich unter gar keinen Umständen für die Frontberichterstatter der Armee qualifiziert haben, und das bedeutet, daß Ihr beide illegal auf Virimonde seid. Wahrscheinlich seid ihr nicht nur Degenerierte, sondern auch noch Rebellen!« »Selbstverständlich sind wir keine Rebellen! Ich bin Tobias Shreck! Ihr müßt mich kennen! Sicher habt Ihr schon die ein oder andere meiner Reportagen gesehen!« »Hab’ ich.« Der Sergeant sah seine Männer an. »Erschießt sie. Alle beide.« Tobias stand wie erstarrt da. Für einen Augenblick, der ihm wie eine Ewigkeit erschien, geschah überhaupt nichts. Er besaß keine Waffe, um sich zu verteidigen, und es gab keine Fluchtmöglichkeit – selbst wenn er sich dazu hätte überwinden können, Flynn zurückzulassen. Er sah hilflos zu, wie die Soldaten ihre Waffen auf ihn richteten, und er dachte nur daran amüsiert, ob die Kamera auch alles filmte. Und dann fiel ihm der Unterkiefer herab, als der Sergeant und all seine Soldaten mit einemmal lichterloh in Flammen standen . Die Marineinfanteristen warfen ihre Waffen weg und rannten schreiend und in Panik durcheinander. Sie schlugen mit nackten Händen auf die Flammen ein, die immer stärker loderten und ihre Opfer ver-zehrten . Einer nach dem anderen gingen sie zu Boden, während die Flammen ihrem Atem den Sauerstoff stahlen, und schließlich lagen sie zuckend am Boden . Ihr Fleisch wurde schwarz, und ihr Haar brannte in hellen blauen Flammen. Dann traten zwei Frauen aus den Schatten, die beide gleich aussahen, und mit einemmal begriff Tobias, was geschehen sein mußte. Die Stevie Blues waren gekommen und hatten ihn wieder einmal gerettet. Er grunzte ihnen ein hastiges Dankeschön zu und beugte sich erneut über Flynn, der benommen versuchte, sich aufzurichten. Die beiden Stevies halfen ihm auf die Beine und zerrten ihn mit sich die Gasse entlang. Tobias eilte hinter ihnen her. Selbst im Chaos einer brennenden Stadt zeigten die Menschen noch genügend Instinkt, um den Stevie Blues aus dem Weg zu gehen. Sie kamen rasch voran, obwohl sie immer wieder marodierenden Abteilungen Imperialer Marineinfanteristen ausweichen mußten. Sie eilten durch eine Reihe weiterer enger Gassen, die in Tobias’ Augen allesamt gleich aussahen, und blieben schließlich vor einer nichtssagenden Tür in einer relativ unzerstörten Gegend stehen. Stevie Drei hämmerte mit der Faust an die Tür, und eine kleine Klappe wurde geöffnet. Dahinter kam ein Paar mißtrauischer Augen zum Vorschein. Stevie Drei erwiderte den Blick, und das Paneel wurde wieder zugeworfen. Dann ertönte das Geräusch von Riegeln, die zu-rückgeschoben, und von Schlössern, in denen Schlüssel gedreht wurden, und die Tür öffnete sich. Die Stevies führten Tobias und Flynn hinein, und hinter ihnen wurde die Tür wieder verschlossen und verriegelt . Es war nicht viel mehr als ein Schlupfloch – ein einzelner großer Raum mit brettervernagelten Fenstern und nur einem einzigen Eingang. An einer Wand waren Pistolen und Gewehre aufgestellt, zusammen mit großen offenen Munitionskisten . Ein Dutzend schwerbewaffneter Männer und Frauen starrte durch Ritzen in den verbarrikadierten Fenstern nach draußen . Sie würdigten Tobias und Flynn kaum eines Blickes. Die Luft war dick und abgestanden und roch nach Schweiß und Anspannung. Stevie Eins unterhielt sich mit gedämpfter Stimme mit einem der Rebellen, während Stevie Drei eine Waffe entdeckte, die ihr zusagte, und sie begann, sie zu laden. Tobias half Flynn auf einen Stuhl. Der Kameramann sah inzwischen wieder ein wenig besser aus, doch der Zustand seiner Kleidung machte ihm inzwischen zunehmend zu schaffen. »Das war meine schönste Unterwäsche«, beschwerte er sich bitter. »Ich wußte gleich, daß es keine gute Idee war, sie hier unten zu tragen.« »Verdammt richtig«, sagte Tobias. »Um ein Haar wären wir beide deswegen umgebracht worden.« Flynn rümpfte die Nase. »Marineinfanteristen haben eben keinen Sinn für Mode.« Die Kamera thronte auf seiner Schulter und schien zustimmend zu nicken. Tobias drehte sich zu Stevie Drei um. »Wo sind wir hier?« »Das sind die Reste einer Rebellenzelle, die ziemlich weit unten in der Kommandokette stand. Wahrscheinlich haben die Truppen sie nur deswegen noch nicht gefunden. Wir benutzen die Räume als Treffpunkt für Kameraden, die von der Invasion versprengt wurden. Wir warten auf neue Befehle; aber ich weiß nicht einmal, ob es in dieser Stadt überhaupt noch Überreste der Untergrundorganisation gibt. Wir sind schlimm getroffen worden. Die Kommunikation ist vor die Hunde gegangen, und wir haben kaum Esper bei uns. Ihr hattet Glück, daß meine Schwester und ich nach Versprengten gesucht haben. Wir hatten bereits entschieden, daß es unser letzter Versuch sein sollte. Die Stadt ist gefallen; sie weiß es nur noch nicht.« »Habt Ihr vielleicht Zeit für ein Interview?« fragte Tobias. »Schließlich haben wir für den Augenblick nichts zu tun, und es besteht immer die Chance, daß irgend jemand gerade zusieht.« Er gab Flynn einen Wink, und der Kameramann ruckte als Zeichen, daß seine Kamera noch immer funktionierte. Er setzte sie in eine bequeme Position auf der Schulter, und das rote Au-ge erwachte zum Leben. Es richtete sich auf Stevie Drei. »Es gibt nicht viel zu erzählen«, sagte der Esper-Klon mit leiser Stimme. »Die Invasion hat uns alle überrascht. Die Kommandokette der Rebellen wurde beinahe augenblicklich zerstört. Wir haben nicht die geringste Vorstellung davon, was in den anderen Städten vor sich geht. Einige von uns wollten sich ergeben, als sie erkannten , wie schlimm es stand; aber die Imperialen Streitkräfte sind nicht daran interessiert, Gefangene zu machen. Meine Schwester und ich taten, was in unseren Kräften stand. Wir schalteten ein paar kleinere Kriegsmaschinen mit unserem Feuer aus und jagten Truppen, die von den Hauptstreitkräften getrennt worden waren, aber es waren einfach zu viele. Wir sind alle völlig erschöpft. So viele von uns sind tot. Unsere Munition geht zur Neige, und vielleicht bleibt uns keine andere Wahl mehr, als möglichst tapfer zu sterben und so viele von den verfluchten Bastarden mit uns zu nehmen, wie wir nur können.« »Sie sind da!« rief Stevie Eins und starrte aus einem Schlitz im Fenster nach draußen. Alle schoben die Waffen durch die Öffnungen in den verbarrikadierten Fenstern und eröffneten das Feuer auf die vorrückenden Truppen. Der Lärm so zahlreicher Projektilwaffen in dem beengten Raum war ohrenbetäubend. Tobias und Flynn hielten sich die Ohren zu. Rauch und der Gestank nach Kordit erfüllten die Luft. Und dann schlug ein Energiestrahl einfach durch die verriegelte Holztür und den Körper eines dahinter Wache haltenden Rebellen, bevor er auf der anderen Seite wieder austrat . »Ein Kriegswagen!« schrie Stevie Eins . »Er hat eine Disruptorkanone!« Und dann schlugen aus allen Richtungen Disruptorstrahlen in das Schlupfloch ein . Sie krachten durch die Wände und erwischten die meisten Rebellen, bevor sie sich auf den Boden und in Deckung werfen konnten. Die Strahlen erfüllten den Raum mit blendend hellem Licht, und sie zuckten kreuz und quer und bildeten ein leuchtendes unheimliches Spinnennetz. Die meisten Rebellen wurden innerhalb der ersten zwei Sekunden durchlöchert oder zerrissen, und ihre versengten und zerfetzten Glieder fielen zu Boden, wo sie noch eine Zeitlang zuckten. Einem Mann wurde der Kopf sauber weggeschossen, und sein Rumpf schwankte noch ein halbes Dutzend Schritte weit durch den Raum, bevor ein zweiter Schuß ihm die Beine abtrennte und er endgültig fiel. Tobias hätte sich am liebsten in den Steinboden eingegraben. Er hatte den Arm über den Kopf gelegt. Gleichzeitig hatte er Flynn gepackt und zu Boden gerissen, nachdem Stevie Eins ihre erste Warnung hinausgeschrien hatte. Tobias war kein Kämpfer. Noch immer zuckten Energiestrahlen durch den Raum, durchlöcherten die Wände und erfüllten die Luft mit dem Gestank von ionisierter Luft. Ein paar Rebellen schrien noch – entweder vor Schmerz oder Angst oder Schock –, aber es dauerte nicht lange. Schließlich endete der Beschuß, und alles war still, mit Ausnahme der leise knackenden Geräusche von den geschwächten Mauern. Das Licht des frühen Morgens strömte durch Hunderte von Löchern in den Wänden und wurde vom Pulverdampf und Staub zu einem diffusen Schein geschwächt. Langsam hob Tobias den Kopf und blickte sich um. Überall lagen Tote: zerfetzt und zerrissen wie Puppen, die von wütenden Kindern weggeworfen worden waren, weil sie nicht mehr mit ihnen spielen wollten. Flynn lag neben Tobias und hielt beschützend seine kostbare Kamera in den Armen. Er nickte Tobias zu, als Zeichen, daß ihm nichts fehlte; aber er machte keinerlei Anstalten aufzustehen. Stevie Eins und Stevie Drei lagen beieinander, doch nur eine der beiden bewegte sich. Langsam richtete Stevie Drei sich auf. Ihr halbes Gesicht mitsamt den Haaren waren verbrannt, als ein Energiestrahl sie gestreift hatte, doch ansonsten schien sie unverletzt. Stevie Eins war weniger glimpflich davongekommen. Sie war gleich mehrere Male getroffen worden. Den linken Arm hatte man ihr abgeschossen, und die rauchende Wunde war oberhalb des Ellbogens nur wenig kauterisiert. Stevie Drei wiegte ihre Schwester in den Armen. Stevie Eins stöhnte leise und öffnete schließlich die Augen. »Verdammt«, flüsterte sie mit schwerer Zunge. »Ich schätze, unsere Chancen haben sich noch weiter verschlechtert.« »Sei still«, sagte Stevie Drei. »Ruh dich aus. Spar deine Kräfte.« »Wofür? Es ist vorbei, Liebste. Das Imperium hat gewonnen.« »Es ist erst dann vorbei, wenn wir es sagen«, widersprach Stevie Drei wild. »Wage es ja nicht, zu sterben und mich allein zu lassen. Wir haben zusammen gelebt , und wir werden zusammen sterben, und wir werden auf den Beinen sterben. Steh auf , verdammt noch mal! Komm schon, Liebste. Wir wollen der Imperatorin ein letztes Mal ins Gesicht spucken.« Stevie Eins grinste . »Richtig.« Stevie Drei half ihrer Schwester beim Aufstehen und stützte sie, bis sie halbwegs sicher stand. Sie blickten sich nach anderen Überlebenden um und entdeckten Tobias und Flynn, die sie entsetzt anstarrten. Stevie Drei grinste. »Ich hätte es wissen müssen. Gute Männer und Frauen sterben, aber Reporter nie. Bleibt in Deckung, Jungs. Das ist nicht Euer Kampf.« »Was habt Ihr vor?« erkundigte sich Tobias. Stevie Drei sah zur Tür, und Tobias wußte, daß sie die Massen feindlicher Truppen davor abschätzte. Als sie nach einer Weile antwortete, klang ihre Stimme ruhig und beinahe sachlich. »Einst gab es von uns vier. Klone, Schwestern, Liebende; wir standen uns näher, als Ihr es Euch jemals vorstellen könnt. Zwei von uns starben im Kampf gegen das Imperium, das uns geschaffen hat, und jetzt sind wir ebenfalls an der Reihe. Wir wußten stets, daß wir eines Tages so enden würden. Brennend. Nichts ist geblieben, bis auf eine letzte Geste des Trotzes .« »Was habt Ihr vor?« wiederholte Tobias seine Frage. »Was könnt Ihr schon ausrichten?« »Aufrecht sterben«, antwortete Stevie Eins, und Stevie Drei nickte. »Manchmal ist das eben alles, was geht.« »Nein!« widersprach Tobias mit einer Stimme, die von unvertrauten Emotionen rauh war. »Es muß einen anderen Weg geben. Es gibt immer einen anderen Weg.« »Diesmal nicht«, sagte Stevie Drei beinahe freundlich. »Nicht immer, und diesmal nicht. Jede Straße hört irgendwann einmal auf. Macht Eure Kamera bereit. Wir gehen nach draußen.« Sie half ihrer Schwester zur Tür, entriegelte vorsichtig die Schlösser und schob die Bolzen einen nach dem anderen zu-rück. Flynns Kamera schwebte von seiner Schulter nach oben, um einen besseren Blickwinkel zu finden. Stevie Drei stieß die Tür weit auf, und sie krachte gegen die Wand. Die Esper-Klone standen einen Augenblick lang im Eingang und sahen auf die Männer und Maschinen, die tief gestaffelt vor ihnen in Stellung gegangen waren. Von irgendwo tief in ihrem Innern beschwor Stevie Eins die Kraft herauf, allein zu stehen. Stevie Drei warf einen Blick über die Schulter zu Tobias und Flynn und entblößte die Zähne zu einem Grinsen . »Wir sehen uns in der Hölle, Jungs .« Sie drehte sich wieder um und starrte auf die Soldaten, und dann gingen die beiden Stevies in Flammen auf. Grelles blaues Feuer loderte ringsum, wurde heller und verzehrte die Stevies, als sie all ihre verbliebene Kraft zusammennahmen zu einem letzten verzweifelten Akt des Widerstands. Sie rannten vor, ihren Kriegsruf auf den Lippen, und Feuer entsprang ihren drei ausgestreckten Händen und setzte Männer und Maschinen gleichermaßen in Brand. Die Imperialen Streitkräfte eröffneten das Feuer. Disruptorstrahlen durchbohrten die beiden Stevies immer und immer wieder und schüttelten sie, wie ein Hund eine Ratte schüttelt. Sie fielen übereinander, und ihre Flammen erloschen. Und dann gab es keine Stevie Blues mehr, nirgendwo im Imperium. Flynn bannte alles auf Film . Tobias wußte nicht, was er sagen sollte. Ein Sergeant der Marineinfanteristen trat vor und tippte gelassen mit dem Fuß an die beiden Stevies, um sicherzugehen, daß sie tot waren. Er nickte zufrieden und ging dann ohne Eile zur Tür, wo er stehenblieb und Tobias und Flynn musterte. Tobias erwartete seinen Tod. Er wußte nicht, wohin er fliehen sollte, und er hätte auch nicht gewußt, was er mit einer Waffe in der Hand anfangen sollte, selbst wenn er eine besessen hätte. Er fühlte sich eigenartig unbeteiligt, als wäre es falsch, daß er noch immer am Leben war und alle anderen ringsum tot. Er starrte den Sergeant herausfordernd an und hoffte nur, daß Flynn bis zum letzten Augenblick filmte. »Ihr seid ein rechter Glückspilz, Shreck«, sagte der Sergeant. »Scheint, die Imperatorin ist ein Fan von Euch. Sie hat all Eure Berichte mit größtem Interesse verfolgt. Stellt Euch vor, wie überrascht und erfreut sie war, als die Elegance mit einemmal Euer Signal auffing! Ihr kommt mit uns. Zusammen mit Eurem Kameramann seid Ihr jetzt offiziell Imperiale Berichterstatter, und die Imperatorin wünscht, daß Ihr den Fall der Todtsteltzer-Festung dokumentiert. Und nein, Euch bleibt keine Wahl. Also Beeilung, meine Herren, sonst kommt Ihr noch zu spät.« Er riß Tobias vom Boden hoch und klopfte grob den Staub aus seinen Kleidern. Flynn stand ohne fremde Hilfe auf. Der Sergeant starrte den Kameramann an und zuckte zusammen. »Wir suchen besser einen Umhang für Euch. Selbst Reporter sollten einen gewissen Standard einhalten. Kommt jetzt, Burschen. Die Imperatorin will, daß das gesamte Reich sieht, was mit Menschen geschieht, die es wagen, ihrer weisen und gerechten Herrschaft zu trotzen. Macht Eure Arbeit gut, und vielleicht werdet Ihr dann hinterher nicht exekutiert, weil Ihr Euch mit dem Feind verbündet habt. Und jetzt: Bewegung!« Tobias und Flynn stapften auf unsicheren Beinen aus dem Raum voller toter Rebellen und direkt in die Arme des wartenden Imperiums. David Todtsteltzer saß in der altehrwürdigen Festung seines Clans auf der Bettkante und beobachtete auf dem Holoschirm, wie sein Planet starb. Er zappte durch sämtliche Kanäle; doch der Anblick war überall der gleiche: seine Leute, kämpfend und sterbend. Imperiale Bodentruppen, Kampfandroiden oder Kriegsmaschinen, und immer wieder seine sterbenden Leute. Dörfer und Städte brannten, und das Land war voll mit Flüchtlingen, die von den Imperialen zusammengetrieben wurden. Später würde jeder zehnte Überlebende exekutiert werden. Als Exempel. Die Löwenstein war sehr gründlich, was die Einhal-tung derartiger Traditionen anging. David schaltete den Schirm ab, und plötzlich war es im Schlafzimmer totenstill. Er schlang die Arme um den Leib, so fest er konnte. Der Schmerz kam und ging, und David wußte nicht, ob das ein gutes Zeichen war oder ein schlechtes. Wenn die Schmerzen stark waren, konnte er nichts anderes tun, als regungslos dazusitzen und die Zähne zusammenzubeißen, um nicht laut aufschreien, und zu warten, daß der Schmerz verging, damit er wieder klar denken konnte. Ihm war abwechselnd heiß und kalt, und Schweiß tropfte von seiner Stirn. In Gedanken suchte er verzweifelt nach irgend etwas, was die Situation noch retten konnte. Sein Angebot zur Kapitulation war abgelehnt worden, und er konnte keine Nachricht nach draußen schicken, um die Hilfe des Untergrunds herbeizurufen. Unten kämpften die wenigen Leute aus der Besatzung der Festung, die ihm noch treu ergeben waren, gegen die anrückenden Imperialen Streitkräfte und ihren Versuch, die Festung zu überrennen. Sie würden sich nicht mehr lange halten können. Kit Sommer-Eiland stürmte durch die offene Tür, und David sah die Neuigkeiten bereits in seinem Gesicht. »Kapitän Schwejksam und Investigator Frost führen einen Angriff auf das Hauptportal durch«, sagte er. »Unsere Leute können ihn unmöglich abwehren.« David nickte langsam. »Das Portal war nie dazu geschaffen , einen derartigen Ansturm aufzuhalten.« Er bemühte sich , und Kit eilte herbei und half ihm dabei. David klammerte sich an seinen Freund. Seine Beine fühlten sich an, als müßten sie jeden Augenblick unter ihm nachgeben; doch er kämpfte gegen das Gefühl an. Er zwang sich dazu, aufrecht zu stehen, und grinste den Sommer-Eiland an. »Das war’s, Kit. Sobald die Festung gefallen ist, hat die Rebellion auf dieser Welt aufgehört zu existieren. Ich glaube, jetzt endlich begreife ich, was es heißt, ein Todtsteltzer zu sein. Man kämpft auf der guten Seite, setzt alles ein, was man hat, selbst wenn man weiß, daß man nicht gewinnen kann.« Er deutete auf das Holoporträt des ursprünglichen Todtsteltzers, das über dem Fußende seines Betts an der Wand hing. »Sieh ihn dir nur an. Wie irgendein böser alter Söldner und Barbar sieht er aus, mit seinem Zopf und der Lederkleidung. Giles, mein Vorfahr. Ich frage mich, was er wohl von mir halten mag? Wir hatten nie Gelegenheit zum Reden. Und dann ist da noch Owen. Ich glaube, ich verstehe ihn jetzt ein wenig besser. Er hat versucht, mich zu warnen, aber ich wollte nicht auf ihn hören. Er sagte, ich würde Virimonde niemals halten können, und er hatte recht. Die Imperatorin gibt, und die Imperatorin nimmt. Ganz nach Lust und Laune. Gott verdamme die Imperatorin!« »Du hast Fieber«, sagte Kit. »Setz dich lieber wieder hin.« »Nein. Wenn ich mich hinsetze, finde ich nie wieder die Kraft, um aufzustehen . Ich glaube, es wird Zeit, daß wir verschwinden.« Kit sah ihn an. »Die Festung ist eingeschlossen, David. Sie haben alle Fluchtwege versperrt.« »Einen gibt es noch, den sie nicht kennen .« David schlurfte zu dem Holoporträt und betätigte einen verborgenen Schalter. Das Porträt schwang zur Seite und gab den Blick auf einen schmalen Durchgang frei. Licht schaltete sich ein und zeigte einen Gang, der nach unten in die Dunkelheit führte. David grinste müde, als er neue Hoffnung in den Augen seines Freundes aufkeimen sah. »Ein Geheimgang. Owen hat mir davon erzählt. Hat ihm den Hintern gerettet, als sie ihn jagten. Er führt zu den Höhlen unter der Festung, in einen kleinen Hangar. Wir schnappen uns einen Flieger, geben Vollgas und verschwinden wie der Blitz, bevor sie überhaupt wissen, wie ihnen geschieht. Ich darf noch nicht sterben, Kit. Mein Volk braucht mich. Und wenn ich es schon nicht retten kann, dann kann ich es vielleicht einrichten, daß es gerächt wird. Weißt du, Kit, ich weiß jetzt, was meine Pflicht und Ehre von mir verlangen.« »Du hast Fieber, David«, sagte Kit. »Komm, wir gehen.« Sie kamen nur langsam voran. David stützte sich schwer auf Kit. Die Wunde hatte wieder heftig zu bluten begonnen, und wenn er hustete, was manchmal trotz der damit verbundenen Schmerzen unumgänglich war, dann sprühte Blut über seine Lippen. Aber er ging weiter. Er wollte einfach nicht aufgeben. Ein Todtsteltzer gab niemals auf. In seinem Kopf drehte sich alles, und manchmal glaubte er, Owen sei bei ihm, manchmal Giles; doch wenn er für ein paar Augenblicke wieder klar denken konnte, war es stets sein Freund Kit Sommer-Eiland: der einzige wirkliche Freund, den David je gekannt hatte. Sie erreichten das Ende des Ganges und blieben stehen. Kit spähte vorsichtig um eine Ecke in den Hangar und riß augenblicklich den Kopf zurück und warf sich in Deckung. Ein Disruptorstrahl krachte in die Wand, wo er noch Sekundenbruchteile zuvor gestanden hatte. Trümmerstücke wirbelten durch die Luft. David verlor das Gleichgewicht und fiel der Länge nach zu Boden, wobei er Kit mit sich riß. Sie lagen nebeneinander auf dem Steinboden und atmeten schwer. Kit feuerte seinen Disruptor blindlings nach draußen in den Hangar ab, damit niemand auf den Gedanken kam, sie wären wehrlos. Er suchte nach Davids Waffe und stellte fest, daß der Todtsteltzer keine mehr bei sich trug. »David«, sagte er drängend. »Wo zur Hölle ist dein Disruptor?« »Ich gab ihn Alice, unmittelbar bevor wir abgestürzt sind. Sie hat ihn noch immer.« David spuckte Blut und schnitt eine Grimasse. »Kit, ich habe gerade versucht, den Zorn heraufzubeschwören, aber nichts ist passiert. Ich habe keine Energie mehr in mir. Ich kann nicht mehr kämpfen. Ich kann nicht weiter.« »Halt den Mund«, sagte Kit. »Wir warten , bis du wieder zu Atem gekommen bist , und dann gehen wir durch den Gang zurück.« »Nein , ich gehe nirgendwo mehr hin, Kit. Mir ist kalt. Entsetzlich kalt.« Kit setzte sich auf, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und wiegte David in den Armen. Er drückte ihn an sich, so fest es ging, und versuchte, den sterbenden Freund ein wenig zu wärmen. »Wir hatten eine schöne Zeit, nicht wahr, Kit?« »Die beste.« »Schade um Alice. Und um Jenny.« »Ja.« »Laß mich hier zurück, Kit.« »Was?« »Sie wollen mich, nicht dich. Es wäre sinnlos, wenn du mit mir zusammen stirbst.« »Ich kann dich nicht im Stich lassen, David. Du bist mein einziger Freund.« »Dann tu, worum ich dich bitte. Stirb nicht umsonst, Kit. Töte mich, und dann geh zu ihnen nach draußen. Mein Tod wird dich wieder in die Gunst der Löwenstein bringen. Zeig ihr meinen Kopf, und sie macht dich wahrscheinlich sogar zum Lord von Virimonde. Schließlich bleibt ihnen nichts anderes übrig, als zu glauben, du wärst einer von ihnen.« »David… bitte. Ich kann dich nicht…« »Doch, Kit. Du kannst. Du mußt, Kit. Ich will nicht Stück für Stück hier sterben und schreien, wenn die Schmerzen unerträglich werden. Tu es, Kit. Sei mein Freund. Ein letztes Mal.« Er hustete heiser. Blut spritzte über sein Kinn. Er wollte noch etwas sagen, aber er brachte keinen Ton mehr hervor. Kit hielt ihn in den Armen, bis der Hustenanfall vorüber war; dann zog er sein Messer und stieß es Kit mit einer geübten Bewegung ins Herz. David atmete in einem langen Seufzer aus und lag still. Kit saß noch eine Weile da und wiegte den Leichnam in seinen Armen. David hatte recht. Die Imperatorin würde ihn mit offenen Armen aufnehmen. Er hatte den Todtsteltzer zur Strecke gebracht. Die Eiserne Hexe hatte schon immer eine Schwäche für ihren lächelnden Killer gehabt. Außerdem war es nicht so, als wäre ihm eine andere Möglichkeit geblieben. Die Rebellion war vorbei. Jeder Blinde konnte das erkennen. Und damit blieb nur noch die Löwenstein übrig. Kit war ein Killer, und er ge-hörte dorthin, wo andere den Tod fanden . Vorsichtig ließ er Davids Leichnam zu Boden gleiten und verschränkte die Arme des Toten über der Brust. Er zog das Schwert und beugte sich über David. Das Gesicht des jungen Todtsteltzers strahlte Frieden und Ruhe aus. Kit beugte sich vor und küßte David auf die blutigen Lippen. »Mein geliebter David.« Er richtete sich auf und hob das Schwert. KAPITEL VIER ALLE WEGE FÜHREN NACH GOLGATHA Und so begann schließlich der große Krieg. Beinahe wie ein Zufall. Die Liveübertragung von der Zerstörung Virimondes und dem Gemetzel, das die Imperialen Truppen unter der Bevölkerung angerichtet hatten, ging nach hinten los. Ein Aufschrei der Entrüstung und Wut ging durch das gesamte Imperium, als ein Planet nach dem anderen seine eigene mögliche Zukunft in den entsetzlichen Szenen sah, die sich auf den Holoschirmen ab-spielten. Welt um Welt versank in spontanen Aufständen, und aus Funken wurden Flammen, als die hereinkommenden Bilder an Schrecken immer mehr zunahmen. Die unteren Klassen gingen auf die Straßen; aus Protestkundgebungen wurden Unruhen, aus Unruhen Straßenschlachten, die sich gegen alles wandten, was auch nur annähernd danach aussah, als vertrete es Imperiale Autorität. Die begüterten Klassen fanden sich ebenso häufig mit auf der Straße, aufgerüttelt aus ihrer satten Selbstzufriedenheit durch Schock und Wut und Entsetzen, und sie alle waren bereit, lieber zu kämpfen und zu sterben, als geduldig dabei zuzusehen, wie ihre Welt das gleiche Schicksal der Mechanisierung ereilte wie Virimonde. Die Untergrundbewegung ergriff die Gelegenheit beim Schöpf. Man entsandte Repräsentanten zu jeder Welt, zu der die Bewegung Zugang hatte, und beriet und führte die Aufständischen. Man lieferte Waffen, lenkte die Massen in die richtige Richtung und setzte lange geschmiedete Pläne in die Tat um. Schlafende Agenten tief in den Reihen der Imperialen erwachten zum Leben, begingen Sabotage, unterbrachen Kommunikationsverbindungen und verursachten ganz allgemein den größtmöglichen Schaden, den sie dem Imperium mit ihren Mitteln zufügen konnten. Die Streitkräfte reagierten damit, ihre Kasernen zu leeren und Truppen auf die Straßen zu entsenden mit dem Befehl, auf alles zu schießen, was sich bewegte. Vielleicht hätte es funktioniert, wenn nicht so viele Menschen wegen der Geschehnisse auf Virimonde außer sich vor Ekel und Wut gewesen wären. Sie waren weit über das Stadium hinaus, wo die Imperialen Truppen sie noch einschüchtern konnten. Männer und Frauen strömten auf die Straßen und bewaffneten sich mit allem, was sich nur irgendwie als Waffe verwenden ließ, und sie fielen in derartigen Zahlen über die Imperialen Truppen her, daß nicht einmal der massive Einsatz von Disruptoren sie aufhalten konnte. Überall im Imperium, auf jeder einzelnen Welt, tobten blutige Schlachten und Kämpfe in den Dörfern und Städten, und die Gebäude der Verwaltung brannten wie helle Warnfeuer und verkündeten noch Schlimmeres für die Zukunft. In den Straßen verfluchten sie den Namen des Witwenmachers, rissen die Standbilder und Porträts der Eisernen Hexe von ihren Sockeln und heulten nach Rache für die Millionen Toten von Virimonde. Die Lords, in zunehmendem Maße aufgebracht und isoliert, schlugen sich schließlich mitsamt ihren eigenen Truppen auf die Seite der Rebellen und kämpften mit ihnen gegen die Imperialen. Die Familien waren in allererster Linie an ihrem eigenen Überleben interessiert, und die Löwenstein war zu einer größeren Bedrohung für den gesamten Adel geworden, als es irgendein spontaner Aufstand je sein konnte. Sie hatten schon immer gewußt, daß die Eiserne Hexe wahnsinnig war, aber jetzt war sie auch noch gemeingefährlich geworden. Hätte sie wegen David Todtsteltzer oder der Invasion Virimondes oder auch nur wegen ihren Plänen zur Automatisierung des Planeten zuerst die Versammlung der Lords konsultiert, hätte die Sache vielleicht anders ausgesehen. Die Familien hätten sicher eine Möglichkeit gefunden, einen Vorteil daraus zu ziehen. Doch das erste, was die meisten Lords über all die Geschehnisse erfuhren, war die Liveberichterstattung auf den Holoschirmen über die rücksichtslose Eroberung eines Planeten, der einem der ihren gehörte. Keiner von ihnen mußte seine Phantasie besonders anstrengen, um sich als das nächste Opfer von Löwensteins Willkür zu sehen, für vogelfrei erklärt, damit sein Planet die nächste vollautomatische Produktionsstätte unter dem direkten Befehl der Löwenstein werden konnte. Und angesichts einer so eindeutigen Bedrohung für ihr Leben, ihre Stellung und ihren Reichtum blieb es unausweichlich, daß die Lords schließlich stillschweigend die Rebellion unterstützten. Und wenn einige der Lords in dem ganzen Chaos eine Gelegenheit erblickten, sich selbst auf den Eisernen Thron zu schwingen, dann behielten sie das – zumindest für den Augenblick – für sich. Mit einemmal schien es, als sei alles möglich. Jede Gruppierung , jede Lobby und jede kleine Fraktion sah eine Chance , die geltende Ordnung umzustürzen, und alle gingen sie auf die Straße, um für ihre Ziele zu kämpfen. Leute, die normalerweise nicht miteinander geredet hätten, ohne sich gegenseitig anzu-spucken, waren mit einemmal Verbündete, wenn auch nur vo-rübergehend, und sie kämpften Seite an Seite. Ihr gemeinsames Ziel, die Löwenstein von ihrem Thron zu stoßen, bevor sie in ihrem Wahnsinn jeden umbringen würde, schweißte sie zusammen. Eine Stadt nach der anderen und eine Welt nach der anderen forderte die Imperialen Truppen heraus, und der Ruf der Rebellion war auf jedermanns Lippen. Die Armee und die Sternenflotte wäre leicht mit ein paar Rebellionen auf ein paar Welten fertig geworden, aber nicht mit allen zur gleichen Zeit. Die Streitkräfte waren weit über das Imperium verteilt. Sie wurden von allen Seiten zugleich und sogar von innen heraus angegriffen, von denjenigen, die zu den Rebellen und ihrer Sache hielten. Konfusion breitete sich aus und verkrüppelte die Schlagkraft der Streitkräfte. Über den größten Unruheherden tauchten Sternenkreuzer auf; aber waren nicht dafür gebaut worden , Rebellionen auf der Oberfläche niederzuschlagen. Sie konnten nur damit drohen, den gesamten Planeten zu sengen, und wenigstens für den Augenblick waren die Schiffe dazu zu weit verteilt. Rebellen in den eigenen Reihen sabotierten die Kommunikationseinrichtungen und isolierten die Schiffe noch weiter. Der Untergrund hatte lange auf diesen Tag gewartet und war bestens vorbereitet, und das Imperium in seiner Arroganz hatte die Gelegenheit versäumt. Auf dem Planeten Golgatha, der Heimatwelt des Imperiums und dem Zentrum aller Macht, strömten Menschen außer sich vor Wut auf die Straßen. Sie stürmten und plünderten und brandschatzten die Verwaltungszentren. Anfänglich hatten sie gezögert, die Rebellion zu unterstützen, hauptsächlich, weil die meisten so viel zu verlieren hatten; doch der Untergrund hatte das Gerücht verbreitet, daß die Löwenstein neue, noch höhere Steuern plante, noch repressivere Gesetze und sogar die über alles geliebte Arena schließen lassen wollte. Nach dem, was sie auf den Holoschirmen über die Ereignisse auf Virimonde gesehen hatten, waren selbst die Einwohner Golgathas bereit, alles über ihre Herrscherin zu glauben, und die neuen Drohungen trafen sie hart in ihren gemachten Nestern. Vereinzelte Proteste wurden mit derartiger Brutalität und Wildheit niedergeschlagen, daß selbst die einiges gewohnte Bevölkerung Golgathas schockiert war und sich überall wie ein Mann gegen die Löwenstein erhob. Der Untergrund gab sich die größte Mühe, alle in die richtige Richtung zu lenken, während die Führer ihr Grinsen kaum unterdrücken konnten. Sie hatten schon immer gewußt, daß die Leute nur die richtige Motivation brauchten, und was sie nicht aus dem richtigen Grund heraus zu tun bereit waren, taten sie manchmal aus dem falschen heraus freiwillig. Die Behörden schickten jeden bewaffneten Soldaten auf die Straßen, den sie zur Verfügung hatten, mit dem Befehl, den Aufstand unter allen Umständen niederzuwerfen, gleichgültig, was es kostete, und keine Gefangenen zu machen. Das ver-schlimmerte die Situation nur noch und versetzte eine bereits wütende Bevölkerung in hellste Raserei. So schnell die Truppen auch die Rebellion an einem Ort erstickten, so schnell erhob sich die Bevölkerung woanders wieder neu. Sie gruppier-ten und reformierten sich schneller, als das Militär reagieren konnte. Der Untergrund unterbrach jede Form von Kommunikation und setzte Esper ein, um die eigenen Kräfte zu organisieren. Die Clans warfen einen Blick auf das wachsende Chaos, riefen ihre eigenen Truppen zurück und verschanzten sich hinter den dicken Mauern ihrer pastellfarbenen Türme, wo sie sich in die Sicherheit ihrer tief gestaffelten Abwehreinrich-tungen verkrochen. Die Kämpfe auf anderen Welten anzusta-cheln war eine Sache, doch das hier war entschieden zu nah. Also zogen sie die Köpfe ein, vermieden es, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und ließen es geschehen, daß die Rebellen ihren ganzen Haß an der Verwaltung Löwensteins aus-tobten. Wenn das Blutbad erst vorüber war und die Rebellen müde und wieder ohne Ziel vor Augen waren, dann würden die Familien hervorkommen und von neuem die Kontrolle übernehmen, genau so, wie sie es schon immer getan hatten. Jedenfalls glaubten sie das. Sie wußten nichts von der Untergrundbewegung. Sie wußten nichts von den Plänen der Rebellen und ihrer Macht. Sie wußten nichts von den Menschen, die das Labyrinth des Wahnsinns überlebt hatten. Und ganz sicher begriffen sie nicht, daß die lange überfällige Große Rebellion endlich begonnen hatte. Das Parlament berief eine Sitzung ein und kam zu dem Schluß, daß man sich aus allem heraushalten und unterstützen würde, wer auch immer am Ende oben stand – was niemanden weiter überraschte . Hoch über den Welten des Imperiums stießen Raumschiffe in der Nacht zusammen. Der Untergrund hatte einen Ruf an die Hadenmänner ergehen lassen, und ihre gewaltigen goldenen Schiffe durchstreiften wieder einmal den Weltraum. Groß und mächtig und furchterregend waren sie den zerstreuten Imperialen Sternenkreuzern mehr als ebenbürtig. Soweit es die Stati-stik betraf, waren die Schiffe der Hadenmänner in der Unterzahl, und das nicht wenig; doch sie liefen die schwerfälligen Sternenkreuzer schwindlig und waren jedem einzelnen menschlichen Schiff sowohl in der Bewaffnung, als auch in Wendigkeit und Beschleunigung haushoch überlegen. Die Imperialen Besatzungen gerieten in Panik, als sie den legendären alten Feinden der Menschheit gegenüberstanden, und sandten allgemeine Hilferufe aus, daß alle Imperialen Schiffe die Rebellion vergessen und sich der größeren Bedrohung durch die Hadenmänner entgegenwerfen sollten. Überall im Imperium ignorierten die Sternenkreuzer die zunehmend panischen Befehle der Löwenstein und brachen auf, um den goldenen Schiffe entgegenzutreten – nur, um eines nach dem anderen zu fallen. Glühende Wracks trieben langsam durch die Atmosphäre ahnungsloser Planeten, und die Hadenmänner flogen weiter durch die ewige Nacht. Die Kirche von Christus dem Krieger sah das erneute Auftauchen der aufgerüsteten Männer von Haden sowohl als spiri-tuelle, als auch als kriegerische Bedrohung, und sie warf alles gegen die goldenen Schiffe, was sie hatte, und ignorierte im übrigen die Rebellion. Es erging ihr nicht anders als der Imperialen Flotte, und wieder einmal wurden wertvolle Ressourcen von den Brennpunkten der Rebellion abgezogen. Der Untergrund sorgte für weitere Verwirrung, indem er sorgfältig geplant Gerüchte ausstreute, daß die Löwenstein plante, die Ländereien der Kirche zu beschlagnahmen, um ihre Steuerausfälle auszugleichen, was die Kirche noch weiter verärgerte. Und jedes noch so kleine Stück half der Rebellion . Hätte die Löwenstein mehr als nur eine Handvoll ihrer neuen E-Klasse-Sternenkreuzer mit ihren neuen Antrieben und ihrer überlegenen Bewaffnung zur Verfügung gehabt, wären die Dinge vielleicht anders ausgegangen. Doch nachdem die Rebellen die Fabrikationsanlage der Wolfs für den neuen Hyperraumantrieb auf Technos III zerstört hatten, befanden sich lediglich fünf der neuen Schiffe in Dienst, und sie konnten un-möglich überall zugleich sein. Auf einigen Schiffen der Flotte kam es sogar zu offener Meuterei. Untergeordnete Offiziere mit Sympathien für den Untergrund und Verbindungen zu den Rebellen starteten Übernah-meversuche auf den Brücken der Schiffe. Sie erhielten Rük-kendeckung von verstimmten Mannschaftsdienstgraden, deren Sold schon seit Monaten nicht mehr gezahlt worden war, weil die Schatzmeister nach dem Zusammenbruch der Steuerbehör-de knapp bei Kasse waren. Nicht wenige der Meutereien führten zum Erfolg, und die neuen Rebellenschiffe zogen sich augenblicklich aus den Kampfhandlungen zurück. Sie kämpften nicht gegen ihre eigenen Kameraden, aber sie unternahmen auch nichts gegen die Rebellion. In der Zwischenzeit befanden sich Tobias Shreck und sein Kameramann Flynn im dichtesten Getümmel. Sie filmten alles und übertrugen live zu den Welten des Imperiums, wann immer sich eine Möglichkeit dazu bot. Sie wurden von ihren Imperialen Gorillas von einem blutigen Feuergefecht zum nächsten gezerrt und gaben ihr Bestes, so objektiv wie nur irgend möglich zu berichten. Die Sicherheitsoffiziere, die für die Zensur ihrer Beiträge verantwortlich waren, hatten meist viel zu sehr mit anderen Problemen zu kämpfen, als daß sie sich Tobias und Flynn widmen konnten . Auf einem kraterübersäten Schlachtfeld auf dem Planeten Loki wurden die Imperialen Armeen von wildäugigen Rebellenstreitkräften überrannt, und Tobias und Flynn ergriffen die Gelegenheit zur Flucht. Sie kamen nicht weit zwischen den leichengefüllten Kratern, bevor sie von den vorrückenden Rebellen geschnappt wurden, die Tobias Shreck glücklicherweise wiedererkannten. Ein paar von ihnen baten die beiden Nachrichtenleute sogar um Autogramme. Tobias suchte wortreich um eine Passage nach Golgatha nach, wo der Hauptschauplatz der Rebellion war, und nach einer langwierigen Diskussion brachten die Rebellen die beiden auf den Weg. Sie wußten nur zu gut, wie wichtig positive Propaganda war, und es schien allen Beteiligten nur gerecht, daß die beiden Männer, die bereits so viel von der Geschichte gebracht hatten, auch vom letzten Akt berichten sollten, wenn es denn soweit sein würde. Tobias lächelte und nickte und erklärte an den richtigen Stellen sein Einverständnis und betete insgeheim, daß niemand auf den Gedanken kam zu fragen, wer denn am Ende alle Rechnungen bezahlen würde. Sein Gebet wurde erhört, und so be-gaben sich Tobias und Flynn auf den ersten Abschnitt von einem halben Dutzend ungemütlicher Passagen, die beide schließlich nach Golgatha und zum Hof der Löwenstein und zu der Hölle führen würden, welche die Eiserne Hexe daraus gemacht hatte. Denn es würde Golgatha sein, wo die wirklichen Auseinandersetzungen und die entscheidenden Schlachten stattfinden würden. Wer die Heimatwelt beherrschte, der herrschte über das Imperium. Jeder wußte das. Und so zog sich die Löwenstein in ihren Palast aus glänzendem Stahl zurück, der sich inmitten eines massiven Stahlbunkers von eineinhalb Meilen Durchmesser tief unter der Oberfläche des Planeten befand, und wartete darauf, daß ihre Feinde kommen würden, um sie zu holen. Sie verbrannten die Poeten, hängten die Troubadoure und spießten die Satiriker auf. Überall herrschten Blut, Tränen und Entsetzen. Ein ganz normaler Tag in der Hölle. Der Hof war zu einem dunklen, gefährlichen Ort geworden, der den Charakter der Herrscherin widerspiegelte. Die Imperatorin Löwenstein XIV, die angebetete und bewunderte, saß auf ihrem Eisernen Thron, als wolle sie sich jeden Augenblick auf einen unglückseligen Feind stürzen, um ihn zu zerreißen und zu zerfetzen. Sie trug eine glänzend weiße Kampfrüstung, und zusammen mit ihrem bleichen Gesicht und dem langen blonden Haar sah sie aus wie ein rachedurstiger Familiengeist. Normalerweise trug sie das lange Haar zu Gelegenheiten, wo sie bei Hofe erschien, kunstvoll auf dem Kopf aufgetürmt; doch jetzt hing es schlaff in ungepflegten Strähnen herab, durch die ihre eisig blauen Augen unverwandt auf ihre Untertanen starrten. Auf dem Kopf trug sie die große Dornenkrone, die aus einem einzigen riesigen Diamanten geschliffen worden war – das Symbol der Macht und Herrschaft über das Imperium. An der Basis ihres Throns kauerten ihre Jungfrauen wachsam wie Hunde, und nichts anderes waren sie auch. Nackt und ohne Schamgefühl wie Tiere, mit ausgelöschtem Bewußtsein nach einem chirurgischen Eingriff, der sie zu loyalen Kreaturen bis hin zum Tod gemacht hatte, kauerten sie vor dem Thron und beobachteten die Anwesenden mit ihren kybernetischen Sin-nen, allzeit bereit, jeden Angriff gegen ihre geliebte Herrscherin zu vereiteln. Sie würden töten oder sterben bei dem Versuch, ihre Herrin zu schützen, und ihre Wildheit war Legende. Ihre Zähne waren spitz, und ihre Finger endeten in implantier-ten stählernen Klauen. In ihre nackten Körper waren weitere, häßlichere Überraschungen eingebaut – die besten, die für Geld käuflich waren. Einst waren sie Menschen gewesen wie jeder andere auch; doch das war, bevor die Löwenstein sie auserwählt und aus ihrem alten Leben gerissen hatte, um ein Teil des ihren zu werden. Sie mochten Gewöhnliche oder Aristokratin-nen gewesen sein; unter Löwensteins Willen wurden sie alle gleichgemacht. Niemand widersprach. Niemand wagte zu widersprechen. Außerdem galt es als hohe Ehre, der Eisernen Hexe als eine ihrer Jungfrauen zu dienen. In der Luft vor dem Thron schwebten Dutzende von Schirmen, die ununterbrochen Bilder aus dem gesamten Imperium zeigten. Die Szenen wechselten häufig. Ständig kamen neue Meldungen über den wachsenden Erfolg der Rebellen herein. Moderatoren mit schwitzenden Gesichtern lasen beinahe ver-zeihungheischend die Neuigkeiten vor. Karten zeigten den Vormarsch der Rebellen und die Verluste der Imperialen. Zitternde Kameras zeigten Bilder von Blut und Gewalt und vom Toben der Schlacht. Sie sahen alle gleich aus. Zunehmend verwirrte Kommentatoren redeten endlos über die Bedeutung der Ereignisse . Auf einigen Welten hatten die Rebellen die Kommunikationseinrichtungen unter ihre Kontrolle gebracht, und triumphierende rauchgeschwärzte Gesichter riefen die Geknechteten dazu auf, sich zu erheben und die Eiserne Hexe von ihrem Thron zu stoßen. Neue Schirme erwachten zum Leben und andere wurden dunkel, weil der Untergrund und die mit ihm verbündeten Kyberratten sich an den Kommunikationskanälen zu schaffen machten. Das gesamte Imperium schrie mit sich überschlagender Stimme, und jeder wollte sich verzweifelt Gehör verschaffen. Die Imperatorin beobachtete all das reglos, und ihr starrer Blick war so kalt wie der Tod persönlich. Für diejenigen, die glaubten, sie zu kennen, war dieser Blick und ihre gelassene Ruhe besorgniserregender als die ge-brüllten Befehle und Temperamentsausbrüche kurze Zeit zuvor. Es bedeutete, daß die Eiserne Hexe nachdachte. Daß sie Pläne schmiedete. Daß sie sich schon jetzt an ihrer Rache und den schrecklichen Formen ergötzte, die sie zweifellos annehmen würde. Vor dem Eisernen Thron standen schweigend und in hoffentlich ausreichend sicherer Entfernung zwei der wenigen Menschen, die mit Ausnahme der Imperialen Wachen und Löwensteins Opfern noch Zutritt zum Imperialen Hof hatten: General Shaw Beckett und der Oberste Krieger des Imperiums, der Ho-he Lord Dram. Höflinge waren nicht anwesend. Keine Lords und Ladys, keine Vertreter der Großen Familien, keine Abge-ordneten des Parlaments, niemand von der Einen Wahren Kirche von Christus dem Krieger, keine der üblichen Berühmthei-ten und Gestalten und Vorteilssuchenden. Löwenstein vertraute ihnen nicht mehr. Keinem von ihnen. Und so standen Beckett und Dram nebeneinander und ignorierten sich gegenseitig, so gut es ging. Sie waren beide Männer des Krieges und Kämpfer; doch außer ihrer Loyalität gegenüber der Löwenstein hatten sie nichts gemeinsam. Die große, imposante Erscheinung Drams sah in ihrer ge-wohnten schwarzen Robe über der schwarzen Kampfrüstung aus wie eine Aaskrähe, die gerade vom Schlachtfeld zurückgekehrt war . Dram trug sowohl Disruptor als auch Schwert, und das in der Gegenwart der Imperatorin. Er war einer der ganz wenigen, denen das gestattet war. Beckett bildete einen krassen Gegensatz dazu. Er trug einen zerknitterten Umhang, und seine taillierte Kampfrüstung konnte die Tatsache nicht verbergen, daß er an gewaltigem Übergewicht litt. Beckett hielt sich mit bemerkenswerter Gelassenheit und geringer Autorität. Er rauchte eine stinkende Zigarre, und es war ihm egal, in welche Richtung der Rauch zog. Rings um die beiden erstreckte sich die Hölle, die Löwenstein diesmal aus ihrem Hof gemacht hatte. Das Licht schimmerte blutrot, und in der Luft hing der Gestank von Schwefel. Große Klappen im Boden des Raums standen weit offen, und aus ihnen eruptierten unregelmäßig plötzliche Flammenstöße und machten die Hitze noch unerträglicher. Und von ganz weit unten erklangen die Schreie der Verdammten und Gequälten. Große steinerne Säulen erhoben sich so hoch hinauf, daß man das obere Ende nicht mehr sehen konnte. Sie waren mit einge-meißelten Gesichtern der Qual bedeckt, die von unvorstellba-rem Schmerz verzerrt in schweigender Agonie schrien. Überall ringsum lagen Tote und Sterbende. Unglückselige, die der Löwenstein im falschen Augenblick unter die Augen gekommen waren. Gehenkte hingen schlaff an Seilen oder Ketten; Gepfählte zuckten nicht mehr länger auf ihren blutigen Pfählen, und schwarze, verbrannte Gestalten in eisernen Käfigen schwelten nur noch leise vor sich hin. Anderen war ein leichter Tod verwehrt worden. Eine Ballerina mit gebrochenen Beinen, ein Poet mit ausgestochenen Augen, ein gefangener Anführer der Rebellen, dem lange purpurne Schlingen der eigenen Eingeweide aus dem offenen Bauch hingen , und noch viele , viele andere. Sie krochen auf Händen und Knien umher und bissen sich auf die Zungen , um nicht zu schreien , weil das weitere Bestrafungen nach sich gezogen hätte. Manche bettelten leise um einen Schluck Wasser. Beckett hoffte, daß die meisten von ihnen nur Hologramme waren, lektronengenerierte Bilder, die Löwenstein ins Leben gerufen hatte, um die Atmosphäre zu vervollständigen, aber irgendwie glaubte er nicht so recht daran – besonders nicht, nachdem einige von ihnen mit gebrochenen Händen an seinen Hosenbeinen zupften und leise um ein gutes Wort flehten. Er sah nicht nach unten. Er konnte ihnen nicht helfen. Beckett wußte nicht einmal, ob er sich selbst noch retten konnte. Um sich abzulenken, musterte er die schweigenden Reihen bewaffneter Leibwächter hinter dem Thron. Die Löwenstein hatte sie wie Teufel angezogen: Auf ihren Helmen saßen geschwungene Hörner, und aus den Rük-kenteilen ihrer Kampfrüstungen ragten feurige Schwingen. Löwenstein liebte es, wenn eine Illusion bis ins Detail vollkommen war. Schließlich wandte sich die Eiserne Hexe von den Holoschirmen ab und richtete ihre Aufmerksamkeit auf Beckett und Dram. Beide bemühten sich, noch aufrechter zu stehen. Als sie schließlich sprach, war ihre Stimme genauso eisig kalt wie ihr Blick. »General Beckett, Wir haben Euch herzitiert, um die Verteidigung dieses Planeten in Eure alleinige Verantwortung zu legen. Wir legen Euch Golgatha in die Hände. Bewacht es wohl und achtet darauf, daß Uns kein Leid geschieht.« Beckett starrte sie fassungslos an. »Aber ich… Euer Majestät, ich hatte angenommen, daß man mich hergeholt hat, um das Kommando über Eure Flotte zu übernehmen! Ich bin der einzige noch verbliebene Offizier mit der Erfahrung und dem Rang, um die Dinge wieder unter Kontrolle zu bringen. Sie werden auf mich hören! Wer sonst wäre besser für diese Aufgabe qualifiziert als ich, Euer Majestät?« »Glaubt nicht, daß Ihr mit Uns diskutieren könnt, General!« erwiderte die Löwenstein mit gefährlich leiser Stimme. »Ihr habt Eure Befehle, und ich erwarte, daß Ihr sie ausführt.« Beckett schluckte seinen Ärger runter, um nichts sagen, was er später vielleicht bereuen würde. Er machte auf dem Absatz kehrt und stapfte aus dem Hof. Sein ganzes Leben lang war er dem Eisernen Thron gegenüber loyal gewesen, und das würde sich auch jetzt nicht ändern; ganz egal wie sehr er versucht war. Die Löwenstein blickte ihm hinterher, dann wandte sich an Dram. »Ihr werdet meine Flotte kommandieren, lieber Dram. Beckett ist ein wenig zu weich, trotz seiner vielgepriesenen Loyalität. Er könnte zögern, Dinge zu tun, die getan werden müssen. Ich habe Eure Entschlossenheit und Eure Sorgfältigkeit auf Virimonde bewundert, und ich brauche jemanden als Kommandanten der Flotte, dem ich blind vertrauen kann. Also werdet Ihr das Kommando übernehmen, Dram. Ihr seid mein Mann. Enttäuscht mich nicht. Wagt es nicht, mich zu enttäuschen. Ihr werdet Eure Befehle von hier aus erteilen. An meiner Seite werdet Ihr in Sicherheit sein, und ich werde imstande sein, Euch um Euren Rat zu fragen, falls es erforderlich sein sollte.« »Jawohl, Löwenstein. Aber… werden die Kapitäne mich als ihren Kommandanten akzeptieren? Sie wissen, daß ich nicht Becketts Erfahrung besitze.« »Sie dienen dem Obersten Krieger. Dem Mann, für den sie Euch halten . Das ist alles, was zählt. Nehmt meine Flotte und zerschmettert meine Feinde, Dram. Zerbrecht sie und zerstreut sie und zeigt keine Gnade. Genau, wie Ihr es auf Virimonde getan habt. Ich bin die Imperatorin , und mir wird man gehorchen. Und hinterher… Wir werden die Schwachen und un-loyalen Elemente in unserem Imperium ausmerzen, und zwar in einem Ausmaß, wie es noch nie dagewesen ist.« Sie lächelte ein unangenehmes Lächeln, und Dram nickte zum Zeichen, daß er verstanden hatte. »Wie Ihr meint, Löwenstein. Verzeiht mir die Frage, aber… meint Ihr, es ist gut, wenn Ihr Euch noch weiter auf dieser Welt aufhaltet? Ich meine, seid Ihr in Sicherheit? Wer weiß, wozu die Elfen und Rebellen bereit sind, nur um einen direkten Schlag gegen Euch zu führen.« »Macht Euch deswegen keine Gedanken«, antwortete Löwenstein leichthin. »Wir haben nach den Besten der Besten geschickt, um nach Golgatha zu kommen und Unsere persönliche Leibwache zu sein. Niemandem wird es gelingen, an Investigator Razor und Kid Death vorbeizukommen.« Hoch oben auf der Oberfläche gingen die Kämpfe weiter. Die Verbitterung, mit der sie geführt wurden, nahm von Minute zu Minute zu, genau wie das Blutvergießen. Armeen strömten durch die Straßen und drängten sich auf den offenen Plätzen, und sie kämpften aus diesem oder jenem Grund gegen die Imperialen Truppen des Monsters Löwenstein, dieser Wahnsinnigen auf dem Eisernen Thron. Kein einziger Soldat war mehr in den Kasernen, und die beiden Lager prallten aufeinander, wo auch immer sie sich begegneten . Jede Partei war fest davon überzeugt, daß Recht und Schicksal auf ihrer Seite standen. Die einen kämpften für Ordnung, die anderen für Gerechtigkeit, und keine Seite verschwendete einen Gedanken an Kapitulation oder Erbarmen. Entweder war der Sieg überwältigend, oder die Niederlage vernichtend. Sie kämpften mit Schwertern und Äxten, mit Energieschilden und Disruptoren und mit den furchteinflößenden, unvertrauten Projektilwaffen, die der Untergrund zur Verfügung gestellt hatte. Blut spritzte durch die Gegend, und Männer und Frauen fielen und lagen schreiend auf dem mit Eingeweiden übersäten Boden, wo sie an ihren Wunden oder am Schock oder einfach nur vom endlosen Getrampel der dicht gedrängten Kämpfer starben. Niemand hatte Zeit, sich um die Verwundeten zu kümmern, und die Toten lagen überall . Sie wurden achtlos zur Seite getreten oder an Straßenecken aufgestapelt, vergessen von Freunden und Feinden gleichermaßen, während die Schlacht weiter tobte . Einige von Löwensteins Truppen setzten die neuen Stasisprojektoren ein. Innerhalb des von diesen Apparaten erzeugten eng begrenzten Felds kam die Zeit zum Stillstand, und wer in das Feld geriet, war völlig hilflos, gefangen in einem Augenblick der Zeit wie ein Insekt in Bernstein. Der Vormarsch der Rebellen kam unvermittelt zum Stillstand. Ganze Gegenden wurden unpassierbar. Doch es war eine neue Technologie , und die Anzahl der Projektoren war begrenzt. Außerdem waren sie unzuverlässig und instabil. Manchmal reichte das einfache Einschalten des Apparats aus , um die Maschine explodieren zu lassen und jeden in einem Umkreis von dreißig Metern zu töten. Verständlich , daß die Truppen die Apparate nur zögernd einsetzten. Manchmal mußten die Offiziere neben ihnen stehen und ihnen Pistolen an die Köpfe setzen. Doch wo die Maschinen funktionierten, waren die Effekte dramatisch. Im Innern des projizierten Feldes konnte die Zeit zu einem Kriechen verlangsamt oder unendlich be-schleunigt werden. Wer in Stasis gefangen war, wurde entweder zu einer lebenden Statue, die nichts mehr zu den Kämpfen beitragen konnte, oder, häufiger, er alterte entsetzlich schnell. Haut wurde faltig; Körper beugten sich vor Alter, Herzen versagten, und Gehirne verrotteten in aufbrechenden Schädeln. Selbst mit geringer Energie erzeugten die Apparate Fessel-felder, die ganze Straßen ausfüllten, den Vormarsch der Rebellen verlangsamten und sie zu hilflosen Zielen für traditionellere Waffen machten. Doch dieser Erfolg hielt nicht lange an. Sobald die Gefahr deutlich wurde, infiltrierten die Kyberratten die Zielsteuersy-steme der Apparate und schalteten sie ab. Kampfesper schalteten die Bedienmannschaften der Apparate aus sicherer Entfernung aus, indem sie entweder ihre Gehirne zerstörten oder sie in Brand setzten . Wo die Truppen durch ESP-Blocker geschützt waren, setzten die Esper Gedankenbomben ein: gemeine kleine Maschinen, die um das tote Hirngewebe von Espern herum aufgebaut waren. Bei der Detonation einer Gedankenbombe wurde jeder Nicht-Esper in ihrem Wirkungskreis zu einem rasenden Wahnsinnigen. Die Soldaten wandten sich gegeneinander und zerrissen sich mit bloßen Händen, und sie kreischten und schrien und heulten und besudelten sich mit dem Blut ihrer Kameraden. Die Streitkräfte der Rebellen drängten vor. Sie überrannten die Stasisprojektoren mitsamt ihren toten oder wahnsinnigen Bedienmannschaften und zogen weiter. Später würde immer noch Zeit sein, um über die schrecklichen Dinge nachzudenken, die sie getan hatten. Die Imperatorin gab Befehl, die Grendels loszulassen, die gnadenlosen Killermaschinen, die man in den Gewölben der Schläfer entdeckt hatte. Blutrünstige Monster aus Silizium mit spitzen Stacheln am gesamten Körper rannten durch die Straßen. Sie bewegten sich so schnell, daß das menschliche Auge ihnen nicht folgen konnte, und sie töteten alles, was sich bewegte. Waffen waren nutzlos gegen sie. Sie waren zu schnell und zu stark für ihre menschlichen Gegner, und sie eilten unaufhaltsam durch die überfüllten Straßen und hinterließen nichts als Blut und zerfetzte, ausgeweidete Leichen. Unglücklicherweise besaß die Imperatorin nur eine sehr eingeschränkte Kontrolle über diese Kreaturen. Sobald sie erst einmal aus der Gewalt ihrer kybernetischen Jochs entlassen waren, töteten sie jedes lebende Wesen, dem sie begegneten, ganz gleich, auf welcher Seite es stand. Ohne jegliche Kontrolle oder Führung wüteten die purpurnen, einer Hölle der Fremdwesen entsprun-genen Teufel in den Straßen Golgathas, und Berge von Leichen stapelten sich hinter ihnen. Hätte die Löwenstein mehr von ihnen gehabt, hätte sie das Blatt vielleicht wenden können. Aber es gab nur wenige, und so blieb der Schaden relativ gering, den sie in einer Stadt voller Kämpfender verursachen konnten. Der Untergrund entsandte Kampfesper gegen die Grendels; aber viele von ihnen starben beim bloßen Kontakt mit den Be-wußtseinen der Fremd wesen. Sie waren zu fremdartig, zu anders und zu schrecklich, als daß ihr Verstand erträglich war. Und so rief der Untergrund die Elfen zu Hilfe, die Mitglieder der Esper-Liberations-Front. Die Elfen bildeten den militante-sten Flügel der Rebellen, und sie schickten Poltergeister und Zündler. Bald schon rasten glühende PSI-Stürme durch die Straßen, zerrissen die Grendels und setzten die blutigen Frag-mente in Brand. Eines nach dem anderen fielen die Grendels, während die wilden Kreaturen vergeblich nach einem Feind suchten, den sie weder sehen noch erreichen konnten. Und als ihre Leichname von lodernden Feuern verzehrt wurden, feierten beide kämpfenden Seiten die Elfen als Helden. Niemals zuvor war es Fremdwesen erlaubt worden, durch die Straßen der Heimatwelt zu ziehen und Menschen zu töten, und auf beiden Seiten sahen viele es als ein weiteres Zeichen von Löwensteins wachsendem Wahnsinn an. Soldaten und Zivilisten, die hilflos hatten mit ansehen müssen, wie die Grendels ihre Kameraden und Angehörigen schlachteten, verfluchten die Imperatorin und schlossen sich den Aufständischen an. Doch es lief nicht alles so glatt für die Rebellen. Der legendäre Halbe Mann führte seine eigenen Truppen durch die Pracht-straße Golgathas. Er kämpfte an vorderster Front und schlug die Rebellion nieder, wo er sie fand, und er setzte alle Mittel ein, die dazu nötig waren. Seine Erfolge und seine kühle militärische Art beflügelten seine Soldaten, und fast reichte allein seine Persönlichkeit aus, um das Stadtzentrum zu halten und zu verteidigen, ganz gleich, wie groß die Übermacht auch sein mochte. Für seine Truppen war er genausosehr Held wie Legende , Beschützer der Menschheit, und sie hielten ihre Stellung und kämpften lieber bis zum Tod, als ihn zu enttäuschen. Und so überließen ihm die Rebellen das Zentrum der Stadt und umgin-gen es. Denn schließlich war er nur ein einzelner Mann, und er konnte nicht überall zugleich sein. Die Kyberratten drangen in Golgathas Hauptkommunikati-onssysteme ein und schalteten jeden militärischen Kommunikationskanal aus, den sie erreichen konnten. Die einzelnen Einheiten wurden voneinander isoliert und kämpften auf sich allein gestellt. Strategie wurde zu einer Unmöglichkeit, und Verstärkungen rannten hilflos im Kreis. Imperiale Esper waren keine Gegner für die organisierten Telepathen des Untergrunds, und schnell zerfielen die militärischen Organisationen und der Sicherheitsapparat. Befehle erreichten ihre Bestimmungsorte nicht mehr. Hilferufe blieben unbeantwortet. Das Chaos regierte. Doch die Aufständischen verschwendeten ihre Energien in Plünderungen und trivialer Rache, trotz aller Anstrengungen des Untergrunds, sie zu führen. Die Rebellen selbst blieben in der Unterzahl und waren in ihrer Bewaffnung dem Gegner weit unterlegen, und je länger die Kämpfe dauerten, desto schlechter standen die Chancen für sie. Sie mußten zuschlagen, solange sie noch den Vorteil der Überraschung auf ihrer Seite hatten, und die Kontrolle über Golgatha übernehmen . Die Rebellion konnte noch immer zerfallen und niedergeschlagen werden, trotz all ihrer bisherigen Erfolge. Das Militär wußte dies, und es wartete ab. Es hielt Schlüsselpositionen besetzt und verweigerte den Rebellen den Durchgang. Und so wurde unendlich viel Blut vergossen, und auf beiden Seiten starben Männer und Frauen. Das Schlachtenglück wandte sich in diese und in jene Richtung, und nach und nach wuchs bei den Führern des Untergrunds die Verzweiflung . Allmählich sah es ganz danach aus, als hingen ihre Hoffnungen von einer kleinen Gruppe von Helden und Legenden ab, die bisher noch nicht einmal in Erscheinung getreten waren, und als stünde oder fiele die ganze Rebellion mit Owen Todtsteltzer und seinen Freunden. Die Festung Shandrakor von Giles Todtsteltzer, das ursprüngliche Zuhause und der Zufluchtsort des Todtsteltzer-Clans, fiel aus dem Hyperraum und ging in einen Orbit über dem Planeten Golgatha. Shandrakor war ein gewaltiges steinernes Schloß mit eigenem Hyperraumantrieb und eigenen Schilden und vielen anderen Überraschungen, und es hing lautlos über der Heimatwelt wie ein Gespenst aus der Vergangenheit, aus den besseren Tagen des Imperiums, bevor der Traum zu einem Alptraum geworden war und gute Männer sterben mußten, weil die bösen an die Macht gekommen waren. Das uralte Steingemäuer glänzte weiß in der Sonne Golgathas, bleich wie ein Geist: Das Faktotum war gekommen, um die Usurpatoren hinauszuwer-fen. Nach 943 Jahren war die Festung des Todtsteltzers endlich wieder nach Hause zurückgekehrt. Giles Todtsteltzer stand gelassen in der Großen Halle seiner Festung. Er stand mit dem Rücken zu einem prasselnden Feuer und beobachtete den Planeten tief unter sich, der sich langsam auf dem gewaltigen Sichtschirm am Ende der Großen Halle drehte . Giles war in seinen üblichen abgetragenen Lederanzug und die schlampigen Felle gekleidet. An den Armen baumelte goldener Schmuck, und mit dem Zopf der Söldner sah er eher aus wie ein Barbarenkrieger aus der fernen Vergangenheit der Menschen, als wie der erste Oberste Krieger des Imperiums, der Held und die Legende, die er seit beinahe einem Jahrtausend im gesamten Imperium war. Das lange zweihändige Schwert hing in einer ledernen Scheide quer über seinem Rük-ken, und der lederumwickelte Griff ragte über die Schulter, als warte er nur darauf, endlich wieder gepackt zu werden. Der ursprüngliche Todtsteltzer, der Namensgeber und Gründer seines Clans, war aus dem Exil zu einer Heimatwelt zurückgekehrt, die ihn nicht mehr kannte. Sein ferner Abkömmling, Owen Todtsteltzer, stand ein wenig abseits von ihm, zusammen mit seiner Waffengefährtin Hazel d’Ark. Zwischen den beiden hatte sich eine Nähe entwickelt, die zuvor noch nicht dagewesen war – als hätten sie während der Invasion der Nebelwelt etwas Wichtiges über sich selbst und den jeweils anderen erfahren. Sie standen hoch aufgerichtet und voller Selbstvertrauen da, und eine Aura von Stärke, Macht und Größe umgab die beiden. Sie trugen beide keine Rüstung; doch während Owen sich mit Schwert und Disruptor begnügte, hatte Hazel sich mit so vielen Waffen beladen, wie sie nur tragen konnte. Hazel war ein Waffennarr. Sie hatte einen weiten Weg hinter sich seit ihrer ersten Begegnung mit Owen auf Virimonde, auf einem Feld, das nicht mehr existierte, und es fiel Giles schwer, in Owen den zurückgezogenen Gelehrten und in Hazel die unfreiwillige Piratin von einst zu sehen. Sie hatten ihre Bestimmung gefunden, und das war nicht zu übersehen. Auf der anderen Seite des gewaltigen Kaminfeuers stand Jakob Ohnesorg, der legendäre professionelle Rebell. Von dem gebrochenen alten Mann, den Owen erst vor so kurzer Zeit in seinem Versteck in Nebelhafen vorgefunden hatte, war nichts mehr zu sehen. Er war einer kraftvollen, muskulösen Gestalt in den besten Jahren gewichen. Jakob hatte sich selbst neu erschaffen, allein durch sein Selbstvertrauen, seine Kraft, seinen Mut und die mysteriösen Kräfte des Labyrinths des Wahnsinns, und er war wieder einmal der Held aus den Legenden geworden. Er stand einfach nur da, gelassen und entspannt, und doch sah er aus, als könne er es ganz alleine mit dem verdammten Imperium aufnehmen. Und wenn es auf dem Weg dahin zu Blut und Gewalt und dem Niedermetzeln von Feinden kommen sollte, dann war ihm das gar nicht mal unrecht. Dicht an seiner Seite stand Ruby Reise, und sie sah aus, als gehöre sie dorthin und als wäre das schon immer dort gewesen. Sie trug schwarze Lederkleider unter einem weißen Fellumhang, und sie war auf einschüchternde Weise attraktiv, genau wie jene Art von Blumen, deren Blütenpollen unruhige Träume bescheren. Sie stand einfach nur da, aber sie sah gefährlich aus wie die Hölle, und es schien ihr sogar zu gefallen. Im Gegensatz zu den anderen, die gemeinsamen mit ihr durch das Labyrinth des Wahnsinns gegangen waren, hatte sich Ruby Reise nicht sehr verändert. Sie war nur in allem… raffinierter geworden. Als Kopfgeldjägerin hatte sie ihre Opfer meistens tot zurück-gebracht statt lebendig, weil das weniger Papierkram bedeutete . Sie suchte den Kampf und die Schlacht und die gefährlichsten Verbrecher und höchsten Kopfgelder, nur um zu beweisen, daß sie genauso gemein war, wie es jeder von ihr behauptete . Und indem sie zu den Rebellen übergelaufen war, hatte sie sich nur einen noch größeren Feind gesucht. Ihr ging es immer noch um nichts anderes als um Beute und Chaos, und was die Rebellion betraf, so sah sie im Durcheinander Golgathas lediglich eine Gelegenheit, ihre finanzielle Situation ein wenig aufzubes-sern. Sie besaß in der Tat nicht die geringste Absicht, sich mit so unwichtigen Dingen wie Politik abzugeben. Mit diesen Dingen sollte Jakob Ohnesorg sich befassen. Im Gegensatz zu Ru-by verstand er wenigstens etwas davon. Alexander Sturm, der müde, alte Mann, hatte die meiste Zeit seines Lebens für die Große Rebellion gekämpft. Als junger Mann hatte er in unzähligen Schlachten an der Seite Jakob Ohnesorgs gekämpft. Früher war er ein brillanter Schwertkämpfer und verwegener Abenteurer gewesen, ein Held, der beinahe so berühmt gewesen war wie Jakob Ohnesorg selbst, doch heute drückten Bitterkeit und das Gewicht des Alters auf seine Schultern. Er konzentrierte seine verbliebene Energie darauf, dem Untergrund bei der Entwicklung seiner politischen und strategischen Ziele zu helfen, und falls er Eifersucht auf seinen alten Freund Jakob Ohnesorg verspürte, der im Gegensatz zu ihm auf geheimnisvolle Weise wieder jung und vital geworden war, dann behielt er es zumindest für sich – die meiste Zeit über jedenfalls. Und schließlich waren da noch Jung Jakob Ohnesorg und Johana Wahn. Sie standen abseits von den anderen beisammen, weil niemand unnötig viel mit ihnen zu tun haben wollte, und selbst jetzt noch gaben sie sich alle erdenkliche Mühe, sich gegenseitig zu ignorieren. Jung Jakob Ohnesorg war wie aus dem Nichts auf der Bildfläche erschienen und hatte behauptet, der echte Jakob Ohnesorg zu sein. Zu seiner Entschuldigung mußte gesagt werden, daß er ganz genau wie ein Held aus dem Bilderbuch aussah. Er war groß und kraftvoll und in eine silberne Kampfrüstung mit goldenen Ziselierungen gehüllt, und er strahlte positive Kraft und Weisheit aus. Er war Zoll für Zoll ein Held, und die Menschen folgten ihm beinahe instinktiv , sogar in die aussichtslo-sesten Situationen. Er war unschlagbar mit dem Schwert und erstürmte Barrikaden und führte mutig tollkühne Rettungsak-tionen durch, ohne auch nur für eine Sekunde das strahlende Grinsen zu verlieren. Schon jetzt wurde er als Retter der Nebelwelt während der Invasion durch die Imperatorin Löwenstein gefeiert, als hätte er allein und eigenhändig die Imperialen Streitkräfte nach Hause geschickt . Owen und Hazel hätten eine andere Version der Geschichte erzählen können, doch sie zogen es vor zu schweigen. Die Rebellion brauchte ihre Helden, um die Massen aufzurühren. Noch immer war nicht klar, welcher der beiden Ohnesorgs denn nun der echte war. Beide waren sie mächtige Kämpfer und kühne Strategen. Und so benutzte der Untergrund, weise wie immer, beide gleichermaßen. Johana Wahn war ein anderer Fall. Das Imperium hatte irgendwo tief in ihr etwas zerbrochen, und es war nicht wieder richtig zusammengewachsen. Aber dann war Johana von dem rätselhaften Überesper berührt worden, der Mater Mundi, und seither besaß sie gewaltige Kräfte. Ihre Gegenwart brachte die Luft ringsum zum Knistern wie ein Gewitter, das jeden Augenblick loszubrechen drohte. Johana lebte nur für ihre Rache, und sie verließ sich darauf, daß die Rebellion ihrem Leben Sinn und Ziel gab. Einst hatte sie einen anderen Namen getragen; doch das war in einem anderen Leben gewesen, und es war schon sehr lange her. Die meiste Zeit über erinnerte sie sich kaum noch an den unbedeutenden Esper, der Diana Vertue geheißen hatte. Owen Todtsteltzer blickte sich unauffällig um und musterte seine Begleiter nachdenklich. Wie es schien, hatten sie alle in der kurzen Zeit, die sie voneinander getrennt gewesen waren, dramatische Veränderungen durchgemacht. Jakob Ohnesorg sah dreißig Jahre jünger aus, und er wirkte hart genug, um Blechdosen zu kauen und Nägel zu spucken. Er sah dem jungen Jakob sehr viel ähnlicher als zuvor, doch es war noch immer ein deutlicher Unterschied zu erkennen. An Jung Jakobs unverzagtem Heldenmut war etwas beinahe unnatürliches, als wäre er kein wirklicher Mensch, sondern ein Charakter aus irgendeinem Holodrama, der ohne Verlust seines Charismas aus dem Bildschirm und in die Realität getreten war. Im Gegensatz zu seinem älteren Selbst kam Jung Jakob daher, als hätte er in seinem ganzen Leben noch nie einen Zweifel gehabt oder einen Fehlschlag erlitten. Außerdem grinste er zuviel. Owen vertraute niemandem, der so viel grinste. Es war einfach nicht natürlich, jedenfalls nicht in diesen Tagen und in dieser Epoche. Owen hatte noch immer nicht die leiseste Ahnung, wer Jung Jakob in Wirklichkeit war, höchstens einen Verdacht, und den behielt er für sich. Wenn der Mann ein Hochstapler war, dann ein verdammt überzeugender, und der Untergrund benötigte dringend Helden, um die Massen in die Schlacht zu führen. Selbst dann, wenn sie halb wahnsinnig waren wie Johana Wahn. Owen machte sich Sorgen wegen ihr. Die Esper würden ihrem Kommando blind folgen, und das allein deswegen, weil sich einst die Mater Mundi, Unsere Mutter Aller Seelen, in ihr manifestiert hatte. Für die Esper war Johana Wahn eine Heilige – eine verrückte Heilige, aber nichtsdestotrotz eine Heilige – und es ließ sich nicht verleugnen, daß sie geradezu unglaublich machtvoll war. Wenn Johana richtig loslegte, erzitterte die Realität. Aber nach all den Foltern und Qualen, die sie durchgemacht und überstanden hatte, war ihr seelisches Gleichgewicht ein zerbrechliches, und es war nur eine Frage der Zeit, bevor sie unter dem Druck zerbrach. Owen hoffte nur, daß er weit weg und in Sicherheit war, wenn das geschehen würde. Ruby Reise… ihr Anblick machte ihn so nervös wie immer. Wäre sie nicht eine alte Freundin Hazels gewesen, hätte Owen sie wahrscheinlich längst erschossen, davon war er fest überzeugt, und wenn es nur aus Prinzip gewesen wäre. Ruby um sich zu haben war, als befände man sich mit einem paranoiden Kampfhund in einer engen Zelle, der sich von seiner Kette los-gerissen hatte. Am besten fuhr man noch mit Ruby, wenn es einem gelang, sie rechtzeitig in die richtige Richtung zu drehen und dann loszulassen. Man brauchte nur noch der Spur aus Leichen zu folgen . Was Jakob Ohnesorg in ihr sah, blieb Owen ein Rätsel. Vielleicht lebte der Mann einfach nur gerne gefährlich. Man konnte nicht abstreiten, daß er einige ganz erstaunliche Veränderungen durchgemacht hatte. Es war, als hätte sein Körper die Zeit zu-rückgedreht und die vergangenen Jahren einfach ignoriert, so jung und vital schien er mit einemmal wieder geworden zu sein. Owen fragte sich, ob das für alle galt, die im Labyrinth gewesen und von ihm verändert worden waren. Und wenn es so war, wie lange sie alle leben würden… Owen versuchte sich ein zukünftiges Leben vorzustellen, das sich endlos vor ihm erstreckte. Ewige Jugend. Doch dann grinste er und schüttelte den Kopf. Viel wahrscheinlicher würden sie alle unten auf Golgatha sterben. Zuerst mußten sie das überstehen. Später konnte er sich immer noch Gedanken um die Ewigkeit machen. Owen verdrängte die Vorstellung und konzentrierte sich statt dessen auf Ohnesorg. Der professionelle Rebell wirkte gerissen und tödlich, und er schien begierig zu sein, sich Hals über Kopf in die Schlacht zu stürzen, auf die er sein ganzes Leben lang gewartet hatte. Auch das machte Owen Sorgen. Eine derartige Entschlossenheit rührte in der Regel aus einer gefährlichen Sturheit. Manchmal dachte Owen, Jakob Ohnesorg würde über den Leichnam seines besten Freundes gehen, um den Sieg zu erreichen, den er so sehr herbeisehnte. Owen verspürte Schuldgefühle, weil er solche Dinge über seine Freunde und Kameraden dachte. Er hatte damit begonnen, nachdem er auf der Nebelwelt entdeckt hatte, wie wenig er in Wirklichkeit über Hazel wußte, und jetzt schien er nicht mehr damit aufhören zu können. Es sah ganz danach aus, als hätten sie alle ihre geheimen Obsessionen und privaten Ziele, und das Gemeinschaftsgefühl, welches das Labyrinth ihnen geschenkt hatte, schien im Verlauf ihrer Trennung verschwunden zu sein. Owen konnte noch immer ihre Gegenwart ringsum spüren, doch er konnte nicht mehr länger fühlen, was sie gerade dachten oder empfanden. Sie waren nicht mehr länger untereinander verbunden, Bewußtsein mit Bewußtsein, als hätte das, was sie auf ihren verschiedenen Missionen erlebt hatten, sie so sehr verändert, daß sie nicht mehr die gleichen Menschen waren wie zuvor. Owen spürte noch immer die Mächte des Labyrinths, die hell in ihnen allen brannten, am hellsten in seinem Vorfahren Giles. Owen betrachtete den Mann nachdenklich, und seine Hand glitt unbewußt zum Griff des Schwertes an seiner Seite. Giles starrte noch immer mit mürrischem Gesicht auf den großen Holoschirm. Er war in seine eigenen Gedanken versunken und ignorierte die anderen völlig. Giles war derjenige von ihnen gewesen, der am meisten gezögert hatte, die Kräfte zu erforschen, die ihnen vom Labyrinth des Wahnsinns geschenkt worden waren. Es schien fast, als wären sie für ihn nur einnotwendiges Übel, das man nur dann benutzte, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gab. Owen hatte bei einem Gespräch mit seinem Ahnen das Thema angerissen; doch Giles hatte nur wortkarg erwidert, daß es ja wohl reiche, ein Todtsteltzer zu sein, und das war das Ende der Konversation gewesen. Für Owen und Giles war es schon immer schwierig gewesen, miteinander zu reden. Sie stammten aus grundverschiedenen Epochen und hatten völlig verschiedene Erfahrungen gemacht, und das einzige, was sie – abgesehen vom Namen gemeinsam hatten, schien die Rebellion zu sein. Giles hatte kurze Zeit versucht, für Owen eine Art Vaterfigur zu spielen. Das war gewesen, nachdem er seinen eigenen mißratenen Sohn, den echten Hohen Lord Dram, getötet hatte, aber Owen hatte dem rasch Einhalt geboten . Ihm reichte es, daß sein leiblicher Vater einst versucht hatte, sein Leben zu manipulieren. Owen war sein eigener Herr, und wenn das Leben, das er nun führte, nicht ganz so war, wie er sich das vorgestellt hatte, so war es immer noch sein Leben, und er achtete eifersüchtig darauf, daß es auch so blieb. Aber das war nicht alles. In Owens Hinterkopf regte sich noch immer ein leiser Verdacht gegen Giles, der einfach nicht verstummen wollte. Der ursprüngliche Todtsteltzer schien zu mehreren Gelegenheiten überraschend gut informiert über die gegenwärtige Lage, jedenfalls für einen Mann, der angeblich die letzten 943 Jahre in Stasis verbracht hatte… Owen verdrängte den Gedanken für den Augenblick, und schlenderte zu seinem Vorfahren am Holoschirm hinüber. »Was ist das für ein Gefühl«, fragte er leise, »nach so langer Zeit wieder nach Hause zurückzukehren? Ist es so, wie du es erwartet hast?« »Nein«, erwiderte Giles genauso leise, ohne den Blick vom Schirm abzuwenden. »Beinahe tausend Jahre ist es her, daß ich Golgatha zum letzten Mal gesehen habe, aber es kommt mir vor wie gestern. Jeder, den ich jemals kannte und mochte, ist längst tot und zu Staub zerfallen. Der ganze Planet ist überlaufen mit Klonen und Espern, und die Familien sind korrupt, verweichlicht oder geistig degeneriert, und das Imperium… das Imperium aus meiner Erinnerung existiert nicht mehr. Ich komme mir vor wie ein Geist, wie jemand, der längst geschlagene Schlachten kämpft und nicht wahr haben will, daß die Welt sich inzwischen weitergedreht hat. Das Imperium trug bereits in meiner Zeit die ersten Anzeichen des Verfalls, aber ich hätte mir niemals träumen lassen, daß es eines Tages so endet. Ich weiß nicht, ob ich helfen soll, sein Elend zu beenden, oder ob ich versuchen soll, es zu retten. Es ist eine perverse Verzerrung von allem, an das ich je geglaubt habe. Aber ich werde die Dinge wieder ins Lot bringen. Ich werde die Menschen aus diesem Alptraum von Geschichte wecken und das Imperium wieder zu dem machen, was es einmal war.« »Mit der Hilfe deiner Freunde«, sagte Owen leichthin. Zum ersten Mal sah Giles seinen fernen Nachfahren an. In seinem markanten, von tiefen Linien durchzogenen Gesicht regte sich kein Muskel. »Selbstverständlich, Verwandter. Alleine wäre ich niemals so weit gekommen. Erst du und deine Freunde haben all das möglich gemacht. Das werde ich euch niemals vergessen. Aber jetzt wird es Zeit für eine Konferenz, denke ich. Bevor die Schlacht beginnt und wir uns in alle Richtungen verstreuen. Vielleicht dauert es eine ganze Weile, bis wir uns wieder miteinander unterhalten können.« »Worüber sollten wir uns denn unterhalten?« fragte Ruby. Sie war damit beschäftigt, ihre Fingernägel mit einem gefährlich aussehenden Dolch zu maniküren. »Wir landen auf der Oberfläche, bringen alles um, was eine Uniform anhat, schnappen uns soviel Beute, wie wir tragen können, und dann veran-stalten wir ein Wettrennen, wer als erster die Löwenstein umbringt. Genau die Art von Party, die mir liegt.« »Trotzdem gibt es ein paar Dinge, über die wir miteinander reden müssen«, beharrte Giles starrköpfig. »Das Labyrinth des Wahnsinns hat uns verändert, aber ganz offensichtlich auf verschiedene Art und Weise. Nach den Berichten zu urteilen, die ich seit Eurer Rückkehr gelesen habe – ich warte übrigens noch immer auf Euren, Ruby –, scheint es ganz so, als hätten sich unsere Fähigkeiten in… unterschiedliche Richtungen entwik-kelt. Ich habe gelernt zu teleportieren. Owen besitzt psychokinetische Fähigkeiten . Jakob und Ruby haben pyrokinetische Begabungen entwickelt , und Hazel kann alternative Versionen von sich selbst aus verschiedenen Zeitlinien heraufbeschwören. Ich verstehe nicht einmal ansatzweise, wie das funktioniert. Und nichts von alledem hätte ich erwartet.« »Warum hätten wir uns denn nicht unterschiedlich entwik-keln sollen?« erkundigte sich Jakob Ohnesorg. »Wir sind doch schließlich verschiedene Persönlichkeiten. Und außerdem – was wissen wir schon über das Labyrinth? Daß es höchstwahrscheinlich ein Artefakt von einer fremden Rasse war, daß niemand sagen kann, wie alt es war oder welchen Zweck es ursprünglich hatte, und daß die letzten Menschen , die vor uns hindurchgegangen sind, die Hadenmänner erschufen. Das ist nicht gerade viel, oder?« »Es sei denn, du weißt mehr über das Labyrinth des Wahnsinns, als du bisher zugegeben hast«, sagte Hazel. »Was ist damit, Giles? Was hast du uns die ganze Zeit über verschwiegen?« »Selbstverständlich nichts«, antwortete Giles. »Ich habe es kurze Zeit studiert, bevor ich nach Shandrakor flüchten mußte, aber ich habe seinen Sinn nie verstanden. Ich bin nicht einmal sicher, ob der menschliche Verstand überhaupt dazu in der Lage ist. Ich glaube nicht, daß wir es jemals wissen werden. Was zählt ist einzig und allein, daß wir alle wunderbar reich be-schenkt worden sind. Jetzt liegt es an uns, diese Geschenke zu verstehen. Und im Gegensatz zu dem, was Ruby Reise zu glauben scheint, werden die Kämpfe unten auf der Oberfläche weder einfach, noch geradeheraus sein. Die Löwenstein hat eine ganze Armee von Leibwächtern und Sicherheitsleuten; sie hat das Militär, und sie wird sicherlich noch einige häßliche Überraschungen für uns bereithalten. Man sollte niemals die Paranoia der Herrschenden unterschätzen. Die Löwenstein wußte immer, daß ein Tag wie dieser hier kommen könnte, und sie hat sicher Pläne für diesen Fall geschmiedet, die uns ziemlich frustrieren werden.« »Verdammt«, fluchte Hazel. »Dein Vorfahr hält noch längere Ansprachen als du, Owen! Muß wohl in der Familie liegen.« »Wo liegt der Sinn dieser ganzen Unterhaltung?« fragte Ohnesorg. »Ich für meinen Teil würde lieber runtergehen und mitmischen, bevor alles vorbei ist.« »Der Sinn ist der, daß wir uns aufteilen müssen«, erklärte Giles. »Wir müssen unsere Talente so weit zerstreuen wie möglich und die Löwenstein an allen Fronten gleichzeitig treffen .« »Augenblick mal«, unterbrach Owen. »Wir waren immer dann am stärksten, wenn wir alle zusammen waren. Erinnert ihr euch noch an den Energieschirm, den wir auf der Wolflingswelt errichtet haben? Er war stark genug, um einer Disruptorkanone auf kürzeste Distanz zu widerstehen. Und auf der Nebelwelt haben Hazel und ich wahre Wunder vollbracht, weil wir zusammen waren. Wer weiß, wozu wir imstande sind, wenn wir alle zusammenbleiben?« »Uns bleibt aber keine Zeit für Experimente«, entgegnete Giles tonlos. »Die Rebellion braucht uns, und sie braucht uns jet z t. Ich habe verdammt lange darüber nachgedacht.« »Ohne mit uns zu reden«, sagte Ruby. »Genau«, stimmte ihr Ohnesorg zu. »Wann habt Ihr all diese Pläne geschmiedet? Wir anderen hatten auf unseren verschiedenen Missionen bis zum Umfallen zu tun.« »Ich brauche nicht viel Schlaf«, erwiderte Giles. »Und jetzt hört bitte alle her. Wir werden uns in die folgenden Gruppen aufteilen…« »Das gefällt mir überhaupt nicht«, unterbrach ihn Hazel. »Beim letzten Mal haben wir zugelassen, daß die Führer des Untergrunds uns aufteilten. David und der Sommer-Eiland sind auf eigenen Faust davongezogen. Und jetzt ist David tot, und der Sommer-Eiland hat sich dem Feind angeschlossen.« »Ich vermisse David«, sagte Owen unvermittelt. »Ich habe ihn niemals richtig kennengelernt, und jetzt ist es zu spät dazu. Aber ich vermisse ihn. Ich bin der letzte meines Geschlechts. Der letzte der Todtsteltzer.« »Das ist es nicht, was dich so wütend macht«, sagte Hazel. »Du bist ärgerlich, weil du nicht mehr nach Hause zurückkehren kannst, seit Virimonde zerstört wurde. Du kannst niemals wieder in dein altes Leben zurück, und das ist alles, was du dir von dieser Rebellion je erhofft hast. Oder vielleicht nicht?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Owen. »Vielleicht. Ich wollte nie ein Krieger werden. Ich war glücklich als Gelehrter und Historiker, ohne Zwänge und ohne Verantwortung. Aber ich würde nicht mehr zurückkehren, auch dann nicht, wenn ich könnte. Ich habe zuviel gesehen. Und was David angeht… er war lästig wie ein Stein im Schuh, aber er hatte Talent. Ich hät-te ihn so viel lehren können… und jetzt ist er tot. Ermordet von Kit Sommer-Eiland. Vom gleichen grinsenden Bastard, der auch schon meinen Vater ermordet hat. Der Sommer Eiland gehört mir, ganz gleich, was dort unten geschieht.« »Gut«, sagte Giles Todtsteltzer anerkennend. »Endlich fängst du an, wie ein echter Todtsteltzer zu reden. Du hast dich sehr verändert, Historiker.« »Was kann ich schon dafür, daß mir nicht immer gefällt, was aus mir geworden ist?« sagte Owen. »Manchmal glaube ich, ich bin all das geworden, was ich immer verabscheut habe. Ein Mann der Gewalt, der von Rache getrieben wird. Nichts als ein weiterer Bauer in den Intrigen meines Vaters, mit dem Ziel, die Eiserne Hexe zu stürzen . Nichts als ein weiterer Barbar an den Toren des Imperiums.« Peinliches Schweigen breitete sich aus, das erst durch ein dringliches Signal vom Holoschirm durchbrochen wurde. Giles schaltete auf Empfang, und der Anblick Golgathas verschwand und wich den Gesichtern Finlay Feldglöcks, Evangeline Shrecks und Julian Skyes. Die drei erweckten einen gehetzten Eindruck. »Was hält Euch noch auf?« fragte Finlay , ohne sich mit Höf-lichkeitsfloskeln abzugeben. »Wir brauchen Euch hier unten , und zwar jetzt. Es steht gar nicht gut in der Hauptstadt, und das ist schließlich der Ort, auf die es im Grunde genommen an-kommt! Wir wissen nicht mehr, wer gewinnt und wer verliert, falls überhaupt jemand. Das reinste Chaos. Allein Eure Gegenwart wird unsere Kämpfer ermutigen. Ihr seid allesamt zu Helden geworden, zu lebenden Legenden, und das nicht zuletzt durch Tobias Shrecks Berichterstattung. Die Leute werden Euch folgen, wohin sie keinem von uns folgen würden.« »Berichtet mehr über die Lage«, verlangte Giles. Er ließ sich nicht so leicht unter Druck setzen. »Wer hat im Augenblick die Oberhand?« »Das hängt davon ab, mit wem Ihr redet«, antwortete Evangeline. »Der gesamte Regierungsapparat löst sich mit rasender Geschwindigkeit auf, und wir unternehmen alles in unserer Macht Stehende, um daraus einen Vorteil zu ziehen. Andererseits herrscht schon seit sehr langer Zeit ein sorgfältig ausba-lanciertes Gleichgewicht, und es hatte tatsächlich nur einen Funken gebraucht, um die Leute rebellieren zu lassen. Hätten wir früher gewußt, daß wir so kurz vor der offenen Rebellion gestanden haben, hätten wir selbst den Funken geliefert. Aber in den Straßen laufen immer noch verdammt viele Sicherheitsleute und Truppen herum, und sie sind ein gewaltiges Stück besser bewaffnet als unsere eigenen Leute. Deswegen brauchen wir Euch. Eure Fähigkeiten könnten die Wende einleiten. Gott allein weiß, daß wir eine brauchen. Wir kämpfen an so vielen Fronten, daß wir nicht imstande sind, einen echten Durchbruch zu erzielen.« »Was ist mit den Hadenmännern?« mischte sich Owen in die Unterhaltung ein. »Ich mache mir ihretwegen Sorgen. Ich habe sie aus ihrem Schlaf geweckt, weil wir ihre Hilfe benötigten; aber sie waren immerhin die Offiziellen Feinde der Menschheit, bevor Shub den Titel errang. Benehmen sie sich denn?« »Überraschenderweise ja«, sagte Julian Skye. »Ihre Schiffe greifen lediglich die Ziele an, die wir ihnen nennen, und ihre Bodentruppen sind ein wahrer Segen! Sie geben großartige Stoßtruppen ab. Die Hälfte der Zeit rennt die Armee lieber vor ihnen davon, anstatt sich zu stellen! Nicht, daß ich ihr daraus einen Vorwurf machen könnte. Aber alles in allem verhalten sich die aufgerüsteten Männer von Haden tadellos. Uns liegen sogar Berichte vor, daß sie Gefangene gemacht haben, anstatt alles zu töten, was sich bewegt. Das hat alle ziemlich überrascht. Am meisten natürlich die Gefangenen selbst. Vielleicht haben die Hadenmänner in ihrer Gruft ja endlich ihren Gott gefunden. Jedenfalls war das eine Eurer besseren Ideen, Owen Todtsteltzer.« »Genau«, sagte Evangeline. »Und wenn Ihr jetzt zufrieden seid, können wir uns vielleicht wieder wichtigeren Dingen zuwenden? Womit ich das heillose Durcheinander in der Hauptstadt meine…« »Schafft Eure kollektiven Hintern hier herunter«, sagte Finlay scharf. »Sofort. Wir dürfen die Stadt nicht verlieren!« »Verstanden«, sagte Owen. »Wir sind gleich da. Schließlich sind wir nicht den ganzen weiten Weg gekommen, um das Fi-nale zu verpassen.« Finlay nickte und schaltete ab. Das Bild ihrer besorgten Gesichter war kaum verblaßt, als ein anderes Signal hereinkam. Alles in der Großen Halle richtete sich unwillkürlich auf, als ein neues Gesicht den Schirm ausfüllte. Zahlreiche Hände griffen instinktiv nach den Waffen. Der breite, zottelige Wolfs-kopf, der auf sie heruntersah, wurde von einer langen Schnauze voller messerscharfer Zähne und zwei dunklen, glänzenden Augen beherrscht, großen, intelligenten Augen von einer beinahe überwältigenden Wildheit. Es war der Wolfling, der letzte seiner Rasse und einziger Überlebender des ersten Experiments des Imperiums, eine überlegene Rasse von Kriegern zu erschaffen . Der letzte einer Rasse, die von einer ängstlichen Menschheit abgeschlachtet und ausgemerzt worden war . Einstiger Bewacher des Labyrinths des Wahnsinns, und jetzt Pro-tektor des schlafenden Dunkelzonen-Projektors. Giles grinste das vertraute Gesicht breit an. »Wolf! Ich warte schon die ganze Zeit auf deinen Anruf! Wann wirst du bei uns sein?« »Ich werde nicht kommen«, erwiderte der Wolfling. Seine dunkle, tiefe Stimme klang wie ein Knurren; doch eine tiefe Traurigkeit und Erschöpfung darin nahm ihr viel von ihrem Schrecken. »Ich hab’s dir doch schon gesagt, Giles. Ich habe genug vom Kämpfen. Ich habe zuviel Tod und Zerstörung gesehen, um noch Freude daran zu empfinden. Die Löwenstein muß gestürzt werden, das weiß ich selbst. Aber sie wird fallen, ob ich nun dabei bin oder nicht. Du brauchst mich nicht mehr, Giles. Du bist inzwischen weit mächtiger als ich.« »Aber… wir haben soviel Zeit mit Pläneschmieden und Diskussionen verbracht, wie wir die Eiserne Hexe stürzen können! Tu mir das nicht an, Wolf! Laß mich nicht allein! Du bist mein ältester Freund und alles, was mir noch von den alten Tagen geblieben ist.« »Darin haben wir uns schon immer unterschieden, Giles. Du willst dich an die Vergangenheit erinnern, und ich will sie vergessen. Laß ab von deinem Haß, Giles! Ich weiß alles über dieses Gefühl. Gib ihm zuviel Macht über dich, und es frißt dich auf, bis nichts mehr in dir ist außer Haß. Das ist keine Art zu leben. Tu, was du tun mußt, weil es das Richtige ist, und nicht, weil es dir Spaß macht. Ich bin müde, Giles . Ich lebe schon viel zu lange. Ich habe gesehen, wie sich das Imperium in etwas verwandelt hat, das ich nicht mehr wiedererkenne, und ich habe gesehen, wie meine Rasse ausgelöscht und zur Legende geworden ist. Ich glaube, es wird Zeit für mich, endlich loszulassen und ihr zu folgen.« »Kann ich denn gar nichts für dich tun?« fragte Giles beinahe flehentlich. »Doch«, erwiderte der Wolfling. »Du kannst die Löwenstein für mich töten. Was auch immer geschieht , ihr dürft sie auf gar keinen Fall entkommen lassen. Töte sie, Giles.« »Ja«, sagte Giles. »Das kann ich für dich tun.« Der Wolfling nickte mit seinem mächtigen zotteligen Kopf, und der Schirm wurde dunkel. Giles starrte sekundenlang auf die leere Fläche, und schließlich nickte er zögernd, als lausche er einer inneren Stimme, die nur er allein hören konnte. Er drehte sich zu den anderen um, und sein Gesicht war vollkommen gelassen und gefaßt, als erwartete er Kommentare der anderen wegen der Emotionen, die er gezeigt hatte. Als er dann redete, klang seine Stimme steif und formell. »Die Fremdwesen«, sagte er. »Wir haben bisher noch kein Wort über die Fremdwesen verloren. Seit dem Angriff auf Golgatha wurde keines ihrer Schiffe mehr im Imperium gesich-tet; aber wir dürfen uns nicht erlauben , sie zu vergessen. Sie sind irgendwo dort draußen, und sie beobachten uns ohne Zweifel und schmieden ihre Pläne. Es ist lebenswichtig, daß wir die Rebellion so rasch wie möglich beenden, damit wieder Ordnung einkehrt. Wir dürfen uns nicht von einer angreifenden Streitmacht der Fremden überraschen lassen, während wir uneins und geschwächt sind.« »Nicht zu vergessen Shub«, sagte Owen. »Vielleicht kommen die KIs auf die Idee, ihren Vorteil aus unserem Streit zu ziehen und starten einen eigenen Angriff, solange wir schwach sind.« »Mein Gott, ihr seid vielleicht ein optimistischer Haufen!« sagte Ruby Reise. »Paßt auf, wir machen, daß wir nach unten kommen und die Schau über die Bühne bringen. Über Fremdwesen und KIs und Froschplagen können wir uns Gedanken machen, wenn sie auftauchen.« »Genau«, stimmte Hazel ihrer Freundin zu. »Wir verschwenden hier nur unsere Zeit.« »Eine gute Planung ist niemals Zeitverschwendung«, entgegnete Giles kalt. »Und jetzt paßt auf. Wir machen es folgender-maßen: Owen hat einige Nachforschungen angestellt und alte Aufzeichnungen des Imperialen Palasts studiert, aus der Zeit, als er gebaut wurde. Ich wußte immer, daß seine Erfahrungen als Historiker eines Tages gelegen kommen würden. Heutzutage gibt es nur noch einen Weg in den Palast, und das ist ein unterirdischer Zug, der von den Sicherheitssystemen des Palasts gesteuert und überwacht wird. Die Haltestellen sind streng bewacht, und die Waggons selbst sind mit tödlichen Gasdu-schen ausgerüstet – nur für den Fall. Allerdings hat Owen eine ganze Reihe alter Wartungstunnel entdeckt, die seit langem nicht mehr genutzt werden und die anscheinend in Vergessenheit geraten sind. Wir können die Tunnel benutzen und die Wachen umgehen. Auf diese Weise kommen wir unbemerkt in die Züge. Diese Aufgabe werden Owen, Hazel und ich übernehmen.« »Halt, einen Augenblick!« meldete sich die KI Ozymandius in Owens Ohr. »Tut mir leid, wenn ich mich einmische, Boß, aber die Worte deines Vorfahren haben eine Datei in meinen Speichern zum Vorschein gebracht, die dein Vater dort abgelegt hat. Er wußte alles über die Züge und die Tunnel, und er hat mir sämtliche notwendigen Sicherheitskodes gegeben, mit denen du in den Zug und von dort aus in den Palast kommen kannst.« »Bist du sicher?« fragte Owen unhörbar für die anderen. »Wenn auch nur einer dieser Kodes falsch ist, sind wir alle tot.« »Vertrau mir«, sagte die KI. »Es sind die richtigen Kodes. Dein Vater hat weit vorausgeplant.« Owen berichtete den anderen von seiner Unterhaltung mit Ozymandius, und eine unbehagliche Pause entstand. Owen hatte immer erklärt, daß er die verräterische KI Ozymandius mit Hilfe der Macht des Labyrinths völlig zerstört habe, als ihr Verrat offensichtlich geworden war. Ozymandius hatte versucht, Owen und Hazel mit Hilfe von eingepflanzten Kontrollworten dazu zu bringen, ihre Kameraden zu töten. Aber einige Zeit später war Ozymandius – oder irgend etwas, das behauptete, Ozymandius zu sein – wieder in Owens Kopf aufgetaucht. Einzig und allein Owen konnte seine Stimme hören, doch die Informationen, die Ozymandius hin und wieder lieferte, hatten sich als absolut verläßlich herausgestellt. Und die restliche Zeit gab sich Owen alle erdenkliche Mühe, die KI zu ignorieren. »Dein Vater hätte sicherlich versucht, Zugang zu diesen Kodes zu erhalten«, sagte Giles langsam. »Vermutlich könnte er sie tatsächlich in deiner KI versteckt haben, wo sie sicher waren. Wir haben keine Möglichkeit, das hier auszuprobieren. Ich schätze, wir werden die Wahrheit erfahren, wenn wir dort sind. Ganz bestimmt würde es die Dinge ein gutes Stück einfacher machen. Selbst mit all unseren Fähigkeiten wird das Durchbrechen der Palaststation ein größeres Unternehmen. Wie es scheint, müssen wir Ozymandius vertrauen, ob wir nun wollen oder nicht, und egal wer oder was er auch immer in Wirklichkeit ist.« »Na, dann danke ich auch schön«, murmelte Ozymandius in Owens Ohr. Owen verzichtete darauf, den Kommentar weiter-zugeben. Hazel schüttelte den Kopf. »Großartig. Wir riskieren unser aller Leben auf eine Stimme in Owens Kopf hin, die nur er ganz allein hören kann! Was müssen wir für eine Zugabe tun? Den Göttern ein Opfer bringen und unsere Zukunft aus den Eingeweiden lesen?« »Bringt mich nicht in Versuchung«, sagte Giles. »Weiter im Text. Jakob Ohnesorg und Ruby Reise werden den Angriff gegen die Türme der Familien leiten. Wir benutzen Antigravschlitten und halten uns an den Plan, den der Untergrund ausgearbeitet hat. Für den Augenblick scheinen die Clans beschlossen zu haben, daß sie auf keiner der beiden Seiten stehen, aber das wird nicht mehr lange so bleiben. Die Ächtung von David und die drohende Mechanisierung ihrer Landwirt-schaftsplaneten hat sie mitten ins Herz getroffen; doch sie werden schon sehr bald begreifen, daß ihr finanzielles und gesellschaftliches Wohlergehen untrennbar mit dem Imperium und den augenblicklichen Strukturen verbunden ist. Eine erfolgreiche Rebellion durch die niederen Klassen würde für sie den größten denkbaren Alptraum bedeuten. Und angesichts der Gefahr, Reichtum und Einfluß zu verlieren, werden sie ihre Truppen schließlich zur Verteidigung der Imperatorin einsetzen, mit der Begründung, daß die verrückte Teufelin immer noch den Teufeln mit Blut in den Augen und Jahrhunderten des unterdrückten Grolls vorzuziehen ist. Im Augenblick reichen ihre Truppen vielleicht aus, um die Dinge zugunsten der Eisernen Hexe zu wenden. Und deshalb ist es lebenswichtig, daß wir sie in ihren Türmen festnageln, weitab vom Hauptschauplatz. Sie müssen vollauf mit ihrem eigenen Überleben beschäftigt sein, dann haben sie keine Zeit, sich um die Imperatorin zu kümmern . Ohnesorg, wir sind die logistischen Probleme mit dem Untergrund durchgegangen. Ihr wißt, was zu tun ist. Unmittelbar vor der Hauptstadt wartet eine ganze Flotte von Antigravschlitten darauf, daß Ihr sie anführt. Wie es scheint, haben sich die Rebellen tatsächlich darum gestritten, die Schlitten zu bemannen und Euch in ein Unternehmen zu folgen, das für die meisten den sicheren Tod bedeutet. Viele scheinen noch immer an den legendären professionellen Rebellen zu glauben. Ich bitte Euch nur um eins, Jakob: Während Ihr dort draußen seid und Euch damit vergnügt, Tod und Zerstörung auf die Köpfe der Lords herabregnen zu lassen, vergeßt bitte nicht, daß wir ein paar Überlebende brauchen, um die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen, sobald die Rebellion vorüber ist.« »Ich werde sehen, was ich tun kann«, erwiderte Ohnesorg gelassen. »Keine Versprechungen.« Giles seufzte und schüttelte den Kopf. »Selbstverständlich wird Ruby Reise Euch begleiten – wenn auch nur aus dem einen Grund, daß sich außer Euch niemand in ihrer Umgebung sicher fühlt.« »Du sagst immer so nette Sachen«, grinste Ruby. »Ich gehe mit den beiden«, meldete sich Alexander Sturm entschlossen zu Wort. »Ich habe nicht die ganzen Jahre auf den Sturz der Familien gewartet, um jetzt nicht dabeizusein. Ich habe mein ganzes Leben lang hart gekämpft und gearbeitet, um ihren Untergang zu erleben, und ich will verdammt sein, wenn ich jetzt hierbleibe. Ich mag vielleicht nicht ganz so jung sein wie einige andere Leute hier; aber ich kann mein Päckchen immer noch ganz gut alleine tragen.« »O ja«, sagte Ruby Reise. »Laß ihn mitkommen, sonst schmollt er noch die ganze Zeit.« »Selbstverständlich kommst du mit uns, Alexander«, sagte Jakob Ohnesorg beruhigend. »Ich würde nicht einmal davon träumen, dieses Unternehmen ohne meinen alten Kameraden an meiner Seite zu beginnen.« »Jetzt hast du schon wieder alt gesagt!« beschwerte sich Sturm. »Schon gut. Was hältst du von antik?« erkundigte sich Ruby. »Ruby…!« sagte Ohnesorg. Sie rümpfte hörbar die Nase und wandte sich wieder ihrer Nagelpflege mit Hilfe des Dolches zu. Ruby hatte sich damit abgefunden, daß Jakob Ohnesorg eine Schwäche für seinen Freund Sturm besaß. In seinen Augen war Sturm noch immer der alte, jung und kühn und geistesgegenwärtig und ein höllischer Kämpfer mit dem Schwert in der Hand. Er konnte anscheinend nicht akzeptieren, daß Sturm nicht wieder jung und stark geworden war wie er selbst. Ruby beschloß, ein wachsames Auge auf Sturm zu haben. Es war ihr völlig egal, wenn er getötet werden sollte; aber sie wollte verdammt sein, wenn sie zuließ, daß er Jakob mit ins Verderben zog. Wahrscheinlich war es sogar das beste, wenn Sturm gleich zu Beginn der Kämpfe von einer verirrten Kugel erwischt werden würde… Niemand würde wissen, woher die Kugel gekommen war, wenn die Kämpfe erst einmal losgegangen waren. Selbstverständlich würde sie vorsichtig zu Werke gehen müssen. Falls Jakob jemals dahinterkommen würde… Ruby Reise legte die Stirn in Falten und dachte angestrengt nach. »So, nachdem wir das jetzt erledigt haben«, fuhr Giles fort, und alle Augen richteten sich wieder auf ihn, »kommen wir zu dem jungen Jakob Ohnesorg. Ihr werdet auf dem freien Feld landen und Euch mit Finlay Feldglöck und Julian Skye zu-sammenschließen . Euer Ruf wird ihre Leute motivieren und den Verteidigern eine Heidenangst einjagen. Eure Aufgabe wird es sein, die Kommandozentrale der Sicherheitstruppen in der Hauptstadt einzunehmen und zu halten. Sie verfügen noch immer über ein paar offene Kommunikationskanäle, und das heißt, daß sie als einzige in der Lage sind, die Verteidigung der Stadt zu organisieren. Sobald sie aus dem Verkehr gezogen sind, werden die Sicherheitstruppen auseinanderfallen, und wir können die Hauptstadt im Sturm erobern. Nachdem wir sie eingenommen haben, steht nur noch die Imperatorin selbst zwischen uns und der Kontrolle Golgathas. Und von Golgatha aus werden wir das neue Imperium errichten. Wie einst Phönix aus der Asche.« »Blablabla«, sagte Hazel. »Laßt uns endlich anfangen. Spar dir deine aufmunternden Worte, Giles. Wir alle wissen sehr gut, aus welchem Grund wir hier sind. Und wenn ich dich daran erinnern darf: Die Rebellion ist noch lange nicht vorbei. Im Augenblick sind wir nichts weiter als eine Handvoll Terrori-sten, auf deren Köpfe hohe Belohnungen ausgesetzt sind.« »Worauf wollt Ihr hinaus?« fragte Giles eisig. »Daß wir einen Schritt nach dem anderen machen sollten. Wir können immer noch von der Zukunft träumen, wenn wir die Gegenwart unter Kontrolle gebracht haben. Ich will nicht, daß irgendeiner von uns in den Rücken geschossen wird, weil wir zu viel davon geträumt haben, das Imperium zu regieren, statt unserer Umgebung die erforderliche Aufmerksamkeit zu widmen.« »Keine Sorge, Hazel«, sagte Jung Jakob Ohnesorg gelassen. »Wir werden gewinnen. Wir sind Helden. Es ist unsere Bestimmung.« »Irgend jemand soll ihm den Mund stopfen, bevor ich kotzen muß«, knurrte Hazel. »Ich bin keine Heldin, und ich war nie eine. Helden neigen zu einem ruhmreichen, schmerzhaften und ziemlich plötzlichen Tod, und dann errichten die Überlebenden Statuen zu ihren Ehren. Ich persönlich bin mehr am Überleben als an einer Statue interessiert.« »Ganz genau«, sagte Ruby Reise. »Außerdem haben wir noch kein Wort über die Beute verloren. Können wir vielleicht jetzt darüber reden?« »Irgend jemand soll ihr den Mund stopfen«, sagte Giles. »Ich bekomme Kopfschmerzen. Kommen wir abschließend zu…« »Wurde ja auch allmählich Zeit, daß wir zu meiner Person kommen«, sagte Johana Wahn und schnitt eine wütende Grimasse. »Ich habe schon geglaubt, Ihr hättet mich ganz vergessen.« »Das war leider nicht möglich«, erwiderte Giles. »Ihr werdet den Einsatz der Esper auf der gesamten Oberfläche des Planeten koordinieren und zwischen den verschiedenen Rebellengruppierungen vermitteln. Die Esper werden Euch ohne Zweifel überall hin folgen. Ihr seid für sie das gleiche wie die beiden Ohnesorgs für die normalen Rebellen. Also versucht bitte, Eure Leute unter Kontrolle zu halten. Esper können gewaltige Schäden anrichten, wenn sie alle das gleiche Ziel im Auge haben, und das letzte, was wir gebrauchen können, sind durch-drehende Esper überall auf dem Planeten.« »Ihr seid anmaßend«, sagte Johana Wahn. »Ihr habt hier schließlich nicht das Kommando. Am Ende wird es der Untergrund sein, der diesen Krieg gewinnt, und der Untergrund wird entscheiden, was nach Löwensteins Imperium kommt. Wir haben uns seit Jahrhunderten auf diesen Tag vorbereitet. Esper, Klone, Anhänger und Freunde. Wir lassen uns nicht im Augenblick unseres Triumphs von einer Bande von Neuankömmlingen zur Seite wischen, auch nicht, wenn sie allesamt Helden und Legenden sind, und…« »Wir können uns später streiten, wer die Verantwortung für den Sieg trägt«, unterbrach Jakob Ohnesorg entschlossen die Anfänge einer drohenden längeren Tirade. »Zuerst einmal müssen wir den Sieg erringen. Laßt uns anfangen, Leute. Es ist Zeit, daß wir an die Arbeit gehen.« »Genau«, sagte Hazel. Owen grinste die anderen der Reihe nach an. »Wir sehen uns in der Hölle wieder.« Im riesigen Imperialen Palast unter der Oberfläche von Golgatha wurde die Hölle, in die Löwenstein ihren Hof verwandelt hatte, von Sekunde zu Sekunde schlimmer. Die Umgebung veränderte sich von einem Augenblick zum anderen. Sie re-flektierte die ständig schlechter werdende Stimmung der Eisernen Hexe. Die Unterwelt wurde immer furchteinflößender. Das Licht war jetzt mehr purpurn als rot, und es verdrängte alle anderen Farben. Der Gestank nach Schwefel war beinahe überwältigend. Es gab auch andere Gerüche: Urin, Kot und Blut, und der Duft von Angst. Fledermausflügelige Gestalten schwebten träge durch den Raum wie dunkle Schatten . Sie waren zu weit entfernt, um sie deutlich zu erkennen. Wie glühende Ascheflocken, die aus den Tiefen der Hölle ausgespuckt worden waren. Die Jungfrauen drängten sich am Fuß des Eisernen Throns, und sie sahen dämonischer aus als je zuvor. Der offene Hof selbst war gesäumt von Reihen um Reihen gepfählter Männer und Frauen. Es waren so viele, daß Dram annahm, es handele sich um Hologramme, doch er fragte nicht nach. Er wollte es gar nicht wissen . Die Schreie jedenfalls klangen real Dram stand, wo man ihm zu stehen befohlen hatte: neben dem Eisernen Thron, und er tat sein Bestes, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Die Löwenstein war zu unruhig, um noch länger auf ihrem Thron zu sitzen. Ruhelos wanderte sie vor dem Thron auf und ab und brüllte Befehle zu den Leuten auf den schwebenden Holoschirmen. Noch hatte sie sich unter Kontrolle; doch ihre Wut stieg mit jedem Bericht über einen Sieg der Rebellen oder einen Rückschlag der Imperialen. Für die Löwenstein war die Auseinandersetzung längst kein politischer Kampf mehr, bei dem es um die Kontrolle über das Imperium ging. Sie fühlte sich persönlich angegriffen . Alle waren hinter ihr her . Sie konnte niemanden mehr vertrauen . Jedes Versagen ihrer Truppen war ein Betrug an ihr . Sie erteilte endlose Serien von Befehlen, und manchmal widersprach sie sich selbst. Dram sagte nichts zu alledem. Angesichts so vieler Angriffe von so vielen Seiten gleichzeitig drohte die sprichwörtliche Selbstbeherrschung der Löwenstein zum ersten Mal zu zersplittern. Sie hatte Valentin Wolf zu sich zitiert, und er stand geduldig vor dem Thron und vergiftete die Atmosphäre allein durch seine Anwesenheit und dadurch, daß ihm dieses Gefühl auch noch Freude zu bereiten schien. Seine langen schwarzen Locken waren frisch geölt und fielen in kunstvoller Unordnung über die Schultern. Die maskarageschminkten Augen leuchteten fieberhell aus dem totenbleichen Gesicht. Das purpurne Grinsen wirkte breiter denn je zuvor. Fast beiläufig riß er irgendeinem kreischenden schwarzen Ding in der Hand die Beine aus. Dram hoffte nur, daß es ein Insekt war. Valentin Wolf war in die Hölle gekommen, und er sah aus, als fühlte er sich hier wie zu Hause. Dram stand ihm direkt gegenüber – nicht, weil er es sich ausgesucht hätte, sondern weil die Löwenstein ihm nicht die Erlaubnis gegeben hatte, sich zu bewegen . Offiziell war er noch immer Befehlshaber der Imperialen Sternenflotte – soweit die Löwenstein ihn ließ . Er hatte sein Bestes gegeben, doch Mangel an Erfahrung hatten sein Verständnis und seine Möglichkeiten stark eingeschränkt. Den größten Teil der Zeit ging alles viel zu schnell für ihn, um mit der Entwicklung Schritt zu halten. Die Flotte war über das gesamte Imperium zerstreut, und die zunehmend isolierten Schiffe waren viel zu sehr damit beschäftigt, sich gegen die Hadenmänner und gegen die eigenen meuternden Besatzungen zur Wehr zu setzen, um ihm und seinen Befehlen großartige Aufmerksamkeit zu widmen – selbst dann, wenn der Hohe Lord Dram sinnvolle Befehle erteilt hät-te. Plötzlich blieb die Löwenstein stehen und wirbelte zu den beiden Männern herum. »Ihr beide! Wir sollten Euch beide exekutieren lassen! Das ist alles Eure Schuld! Wir hatten alles unter Kontrolle, bis Ihr auf Virimonde durchgedreht seid! Ihr hattet lediglich Befehl, einen unbedeutenden Hinterweltplaneten zu befrieden, und was habt Ihr gemacht? Ihr seid wie besessen durch die Gegend gerannt und habt alles niedergemetzelt, was Euch vor die Waffen kam! Ihr verdammten Dummköpfe! Selbst ein vollautomatischer Planet braucht ein paar Leute zum Arbeiten! Welchen Sinn macht es Eurer Meinung nach, Imperatorin zu sein, wenn man keine Bauern mehr hat, über die man regieren kann?« Sowohl Dram, als auch der Wolf hatten sich auf Virimonde genau an die Befehle der Löwenstein gehalten; aber keiner von beiden war so dumm, sie jetzt daran zu erinnern. Die Löwenstein funkelte sie an, und ihre Jungfrauen regten sich unruhig, als sie die Stimmung ihrer Herrin spürten. Dram fühlte, wie ihm der kalte Schweiß auf die Stirn trat. Am liebsten hätte er sich umgedreht und wäre davongerannt. Aber die Jungfrauen hätten ihn sofort gepackt und niedergerissen, bevor er noch ein Dutzend Schritte weit gekommen wäre. Außerdem wußte er nicht, wohin er hätte rennen sollen. Seit Virimonde hatte er nirgendwo mehr Freunde. Nicht, daß er auch nur einen einzigen köstlichen Augenblick auf Virimonde bereute, nein. Er hatte sich noch nie so lebendig gefühlt. Nein, ob gut oder schlecht, sein Schicksal war untrennbar mit dem der Löwenstein verbunden, der Frau, die ihn aus den Zellen seines toten Originals geklont hatte. »Wir müssen Euch nach draußen schicken, um Uns zu verteidigen«, sagte die Imperatorin schließlich, nachdem sie einen Teil ihrer Selbstbeherrschung wiedergewonnen hatte. »Ihr seid alles, was Uns noch geblieben ist. Valentin, Ihr übernehmt die Kontrolle über sämtliche Kriegsmaschinen, die gegenwärtig auf Golgatha stationiert sind. Es sind Gott weiß nicht viele, aber seht, was Ihr mit ihnen erreichen könnt. Die meisten Unserer wunderbaren Zerstörungswerkzeuge befinden sich noch immer auf Virimonde, und bis Wir sie hierher zurückbeordert haben, ist der Kampf längst entschieden, auf die eine oder andere Art und Weise. Also verschwendet sie nach Möglichkeit nicht. Dram, Euch wünschen Wir oben auf der Oberfläche. Ihr werdet Unsere Truppen persönlich anführen. Sie werden dem Obersten Krieger folgen. Wir übergeben Beckett den Befehl über die Flotte. Er hat recht gehabt, der verdammte Kerl. Er besitzt als einziger die Erfahrung. Wir können nur hoffen, daß der Bastard loyal bleibt.« »Ich habe mein Bestes getan«, sagte Dram vorsichtig , »und ich bin sicher . Euer Majestät können darauf vertrauen , daß auch General Beckett sein Bestes geben wird.« »Hübsch gesagt« , spottete Valentin. »Höflich und aufmunternd , aber leider ohne jegliche Bedeutung. Falls wir diese Geschichte überleben , habt Ihr sicherlich eine strahlende Zukunft als Höfling vor Euch.« »Mir gefällt der Gedanke nicht . Euer Majestät hier ohne Verteidigung zurückzulassen« , sagte der Hohe Lord Dram , wobei er die letzte Bemerkung des Wolfs geflissentlich ignorierte. »Investigator Razor und Lord Sommer-Eiland warten bereits in Unserem Vorzimmer auf Uns« , sagte die Imperatorin. »Und außerdem sind… auch noch andere auf dem Weg. Und jetzt verschwindet aus Unseren Augen. Alle beide. Wagt nicht, Uns zu enttäuschen!« »Das würde ich niemals wagen«, murmelte Dram. Gemeinsam mit Valentin verbeugte er sich tief vor dem Thron, und sie brachen auf. Beim Hinausgehen trafen sie auf Razor und Kid Death, doch sie hielten den Blick vorsichtig geradeaus gerichtet. In ihrem gegenwärtigen Zustand mochte die Löwenstein bereits einen unverfänglichen Seitenblick als ein Zeichen von Verrat interpretieren. Dram und der Wolf passierten die große Hügeltür des Hofs und ließen die Hölle hinter sich. Sie bewegten sich so schnell, wie sie es in Gegenwart der Löwenstein nur wagten. Investigator Razor und Lord Kit Sommer-Eiland näherten sich dem Thron ein wenig langsamer. Sie blieben in sicherer Entfernung vor den Jungfrauen stehen und verbeugten sich respektvoll vor der Imperatorin. Als sie die Köpfe wieder hoben, stellten sie zu ihrer Bestürzung fest, daß die Löwenstein sie anlächelte . Man erzählte sich, daß die Imperatorin immer dann am gefährlichsten war, wenn sie lächelte. Ihr Sinn für Humor war… anders als der anderer Menschen. Razor und der Sommer-Eiland blieben unverwandt stehen und ließen sich nichts anmerken. Sie achteten darauf, die Hände weit weg von den Griffen ihrer Waffen zu halten, die zu tragen die Eiserne Hexe ihnen befohlen hatte. »So so«, sagte die Löwenstein leichthin. »Unsere beiden Lieblingskiller. Wie schön. Razor, Wir sollten eigentlich böse mit Ihm sein. Wir haben Ihn ausgeschickt, um in Unserem Namen die Nebelwelt zu erobern, und Er hat versagt. Aber es war nicht wirklich Seine Schuld. Viele Unserer Leute versagten bei dieser Mission, doch Er blieb Uns treu. Und Kit Death, Unser lächelnder Assassine. Er brachte Uns den Kopf des jungen Todtsteltzers – die einzig gute Sache, die bei diesem Debakel herausgekommen ist. Er hat Uns schon immer die hübschesten Geschenke gebracht, Sommer-Eiland. Wir haben den Kopf hier auf einem Pfahl… irgendwo. Es ist schön, daß Ihr beide wieder hier bei Uns seid. Es ist gut, Leute um sich zu haben, auf die man sich verlassen kann. Eure Pflichten hier sind einfach. Ihr werdet Uns vor jeglicher Gefahr beschützen. Die Chancen, daß irgendeiner der Rebellen so weit vordringen kann, sind verschwindend gering, ganz besonders seit Wir die zusätzlichen ESP-Blocker installiert haben. Allerdings scheint es, als könnten Wir Uns nicht mehr länger darauf verlassen, daß alle Unsere Leute ihre Pflicht er-füllen. Zwischen der Oberfläche und Unserem Palast gibt es sehr viele Verteidigungsringe, nicht alle von ihnen menschlicher Natur, und Wir selbst sind ebenfalls nicht vollkommen hilflos… aber Wir werden Uns besser fühlen, wenn Ihr beide über Unsere Sicherheit wacht. Irgendwelche Kommentare? Vergeßt nicht, daß sie besser äußerst konstruktiv sein sollten, wenn Ihr Eure Köpfe behalten wollt.« »Es ist wie immer eine Ehre, Euer Majestät dienen zu dürfen«, sagte Razor glatt. »Ich bin sehr stolz auf das Vertrauen, das Euer Majestät mir geschenkt haben. Allerdings denke ich, ich sollte darauf hinweisen, daß mein Schwert völlig ausreichend ist zu Euer Majestät Schutz. Ich sehe wirklich keinen Anlaß, den Sommer-Eiland ebenfalls herzurufen. Ich bin seit vielen Jahren ein Mann des Kampfes. Der junge Lord ist bestenfalls ein begabter Amateur, weiter nichts.« »Ein außergewöhnlicher Amateur mit einer beispiellosen Serie von Erfolgen ist wahrscheinlich besser als ein müder alter Mann, den man aus dem Ruhestand geholt hat«, entgegnete Kit gelassen. »Schickt diesen versteinerten Greis weg, Euer Majestät. Ihr braucht ihn nicht, solange ich da bin, und ich möchte nicht auf ihn aufpassen müssen, solange ich Euer Leben verteidige, Hoheit.« »Ihr müßt Euch nicht mögen«, sagte die Löwenstein. »Erledigt Eure Arbeit, mehr nicht. Und kommt Unseren Jungfrauen nicht zu nah. Wir haben sie schon längere Zeit nicht mehr ge-füttert.« Sie strahlte ihre beiden Verteidiger liebevoll an. »Und macht Euch keine Gedanken, o Ihr loyalsten Unserer Untertanen. Sobald dieser Unsinn erst einmal vorüber und die Ordnung wiederhergestellt ist, was unzweifelhaft geschehen wird, versprechen Wir Euch, daß Ihr soviel zu töten bekommen werdet, wie Ihr nur wollt. Die Exekutionen werden Tag und Nacht weitergehen, und Blut wird in Strömen durch die Straßen fließen.« Sie wandte sich von den beiden ab, ignorierte ihre tiefen Verbeugungen und schaltete die Holoschirme wieder ein. Die Nachrichtenkanäle brachten die neuesten Meldungen. Die Rebellen ließen die militärischen Frequenzen noch immer genauso schnell zusammenbrechen, wie neue errichtet werden konnten; doch die Nachrichtenkanäle ließen sie unangetastet. Sie wollten, daß die Menschen sahen, was geschah. Auf sämtlichen Schirmen waren jetzt verschiedene Nachrichten aus der ganzen Welt zu sehen; doch die meisten konzentrierten sich auf die Hauptstadt, wo die wirklich wichtigen Kämpfe tobten. Gehetzte Stimmen sprudelten aus den Lautsprechern laut, schrill, beinahe hysterisch. Von Hunderten verschiedener Welten gleichzeitig trafen Nachrichten über die Rebellion ein, und die Nachrichtensender überschlugen sich fast, um am Ball zu bleiben. Die Löwenstein musterte einen Schirm nach dem anderen in dem Bemühen, einen Überblick über die Lage zu gewinnen. Sie vertraute nicht einmal mehr den Berichten ihrer eigenen Sicherheitsleute. Die Bildschirme waren voll von Blutvergießen und von Ge-bäuden und ganzen Straßenzügen, die in Flammen aufgingen. Die Bilder wurden nur hin und wieder von Reportern und gehetzten Kommentatoren unterbrochen. Ihre Gesichter waren hektisch, und sie redeten zu schnell. Keiner von ihnen hatte je eine Geschichte wie diese hier erlebt, und weil soviel zur gleichen Zeit geschah und das meiste davon auch noch live ausgestrahlt wurde, gab es nur noch wenig oder gar keine Zensur mehr. Berauscht von der erschreckenden Wahrheit schlugen die Nachrichtenredaktionen jegliche Vorsicht in den Wind und brachten alles, was an Meldungen einging, ganz gleich, was sie besagten oder aus welchen Quellen sie stammten . Kommentatoren sagten zum ersten Mal im Leben das, was sie wirklich dachten, und wie es schien, konnten sie gar nicht genug davon kriegen. Genausowenig wie die Zuschauer, wenn man den letzten Erhebungen glauben durfte. Es sah aus, als würde jeder, der nicht draußen in den Straßen war und an den Kämpfen teilnahm, zu Hause am Bildschirm kleben und die Geschehnisse von dort aus verfolgen . Das hier sei erlebte Geschichte, sagten die Nachrichtensender, und zum ersten Mal übertrieben sie nicht damit . Löwenstein erblickte ein vertrautes Gesicht und stolzierte zu dem Schirm, auf dem es zu sehen war. Tobias Shrecks fettes, schwitzendes Gesicht starrte auf sie herab. Hinter ihm herrschte Chaos. Menschen mit Waffen in den Händen rannten hin und her. Dichter fetter Rauch hing in der Luft. Er stammte aus einem halbzerstörten, verrußten Gebäude im Hintergrund. Eine Gruppe von Soldaten in zerrissenen, blutigen Uniformen rannte in wilder Flucht vorüber und brachte die Kamera zum Schwanken. Das Gesicht des Shrecks war rußverschmiert, und seine Kleidung war ruiniert. Er mußte schreien, um sich über all dem Lärm ringsum verständlich zu machen. »Hier ist Tobias Shreck für die Imperialen Nachrichten. Ich berichte aus dem Zentrum von Parade der Endlosen, der Hauptstadt Golgathas. Rebellenstreitkräfte stehen im Begriff, die gesamte Stadt zu überrennen, und sie treiben dezimierte und demoralisierte Imperiale Truppen vor sich her. Das Gemetzel ist unbeschreiblich. Überall liegen Leichen. Die Verwundeten bleiben auf den Straßen liegen und sterben, weil in den Krankenhäusern kein Platz mehr ist. Zivilisten und Unbeteiligte rennen um ihr Leben. Es sieht so aus, als wäre es nirgendwo mehr sicher. Die Imperialen und die neu hinzuge-kommenen Kriegsmaschinen behandeln jeden als Feind, der nicht zu ihnen gehört. Sicherheitskräfte zerren Zivilisten auf die großen Plätze und exekutieren sie als Warnung für andere, die Rebellion nicht zu unterstützen, und wenn überhaupt, dann erreichen sie damit nur das Gegenteil. Die Rebellen werden überall als Befreier begrüßt. Die Imperatorin hat erst vor kurzem eine ganze Horde der schrecklichen Grendels auf die Straßen losgelassen. Niemand weiß, wie viele Zivilisten durch sie den Tod gefunden haben. Die Leichenteile sind zu beschädigt, um eine Zählung zu ermöglichen. Heldenhafte Esper der Untergrundbewegung haben die Fremdwesen schließlich gestellt und sie besiegt. Dieses wahnsinnige Blutvergießen auf Geheiß der Imperatorin scheint auf zunehmende Verzweiflung hinzu-deuten, aber was noch erschreckender ist: Die Sicherheit ihrer Untertanen bedeutet Löwenstein offensichtlich überhaupt nichts mehr.« »Dieser fette Verräter!« keifte die Löwenstein und schaltete den Sender ab. Ihre Augen drohten vor Wut aus den Höhlen zu quellen. »Das kostet ihn den Kopf! Wie kann er es wagen?« Sie rannte von Schirm zu Schirm und funkelte die Bilder an, als könnte sie sie auf diese Weise zwingen, gute Nachrichten zu verkünden . Doch es war überall das gleiche. Menschen kämpften in anonymen Straßen, und im Hintergrund immer nur Rauch und Feuer. Schreie und Flüche und sich widersprechen-de Befehle allerorten, blitzende Schwerter und Äxte, und überall spritzte Blut. Energieschirme summten, Disruptoren brüllten. Schnelle Schwenks auf Trümmerhaufen, die einmal Häuser gewesen waren, und auf wildäugige Kinder voller Entsetzen, die in ihrem eigenen Blut und in dem anderer lagen. Frauen, die über reglosen, zerfetzten Körpern weinten. Schlaffe Gestalten, die an Laternenmasten baumelten, einige davon in Uniformen, andere in Zivilkleidung. Die Nachrichtensprecher wurden von den Geschehnissen mitgerissen, und sie hatten jeden Versuch aufgegeben, ruhig und gelassen zu klingen. Ihre Aufregung und Fassungslosigkeit nahm von Minute zu Minute zu, während sie an Wassergläsern nippten, um die heiseren, überanstrengten Stimmen zu schmieren. Die ersten Berichte von größeren Siegen der Rebellen kamen herein. Anfangs waren es nur Städte, dann Kolonien und schließlich ganze Welten, die sich vom Imperium lossagten oder ihm entrissen wurden. Es fing an den Rändern an und breitete sich von dort zum Zentrum hin aus. Einige noch immer regierungstreue Sender schalteten lieber ab, als derartige Nachrichten zu zeigen. Andere wurden von den siegreichen Rebellen übernommen. Die Löwenstein schaltete die von ihnen ge-sendeten Nachrichten aus; doch es wurde von Minute zu Minute schwieriger, Nachrichten zu finden, die das berichteten , was sie hören wollte. Schließlich schaltete sie sämtliche Bildschirme aus und kreischte in ihr Komm-Implantat nach General Beckett. Sein Bild erschien auf einem Schirm, der unmittelbar vor Löwensteins Gesicht schwebte. Er sah erschöpft aus. Die obersten Knöpfe seiner Uniform standen offen. »Was wollt Ihr, Löwenstein? Ich bin beschäftigt .« »Wage Er nicht, auf diese Weise mit Uns zu reden!« fauchte sie ihn an. »Er spricht mit seiner Imperatorin! Wir haben neue Befehle für Ihn, die augenblicklich in Kraft treten . Er hat alle Planeten zu finden, die von rebellischen Kräften kontrolliert werden, und sie zu sengen! Einen nach dem anderen. Er ist nicht autorisiert, Kapitulationen anzunehmen. Wir wollen diese Welten tot und ohne jegliches Leben.« Beckett starrte sie reglos vom Schirm her an. »Und die Milliarden von Unschuldigen, die sterben würden?« »Sie sind entbehrlich. Sie hätten härter gegen die Rebellen kämpfen sollen. Bestätige Er seine Befehle, General!« »Ich bedaure, aber das kann ich nicht, Euer Hoheit. So leid es mir tut. Die Überreste der Flotte werden ununterbrochen von den Hadenmännern angegriffen. Viele meiner Schiffe wurden vernichtet oder geentert. Die wenigen Überlebenden sind viel zu weit verstreut, um sie zurückzurufen. Wir haben nirgendwo genügend Schiffe, um auch nur eine einzige Welt zu sengen. Wir müssen mit allem kämpfen, was wir besitzen, um wenigstens zu überleben, Majestät. Ich schätze, daß mehr als vierzig Prozent Eurer Flotte entweder zerstört wurden oder in die Hän-de des Feindes gefallen sind.« Die Löwenstein verlor die Fassung. Sie schrie und tobte und schleuderte Flüche in Becketts ungerührte Gesicht. Sie drohte ihm mit Degradierung und Arrest und standrechtlicher Erschießung, falls er sich weigerte, ihre Befehle auszuführen, und er schwieg einfach. Schließlich gewann sie ihre Selbstbeherrschung teilweise wieder und stand schwer atmend und mit ge-ballten Fäusten vor den Schirmen. Beckett wartete geduldig, bis sie wieder zu Atem gekommen war. Die Löwenstein fixier-te ihn mit einem eiskalten Blick. »Also schön, General. Erneut werden Wir von denen enttäuscht, denen zu vertrauen Wir gezwungen sind. Neue Befehle, General. Sämtliche Sternenkreuzer haben augenblicklich zurückzukehren, um die Heimatwelt zu schützen. Keine Ausreden, keine Entschuldigungen. Wir verlangen einen Schild von Schiffen rings um Golgatha. Niemand darf passieren. Was auch immer geschieht, die Heimatwelt darf unter keinen Um-ständen fallen. Hat Er verstanden, General?« Beckett seufzte schwer. »Löwenstein, es ist vorbei. Wir sind zu weit entfernt. Selbst wenn wir die Menschen, die wir vor den Hadenmännern schützen, im Stich lassen würden… Bis wir uns an ihren Schiffen vorbeigekämpft hätten, wäre auf Golgatha längst alles vorüber. Daran ändert auch Euer Geschrei nichts. Ich kann Euch nicht mehr helfen. Meine besten Wünsche für Euch und Eure persönliche Sicherheit. Ich kann nichts mehr für Euch hin, so leid es mir tut. Lebt wohl, Löwenstein.« »Verräter!« keifte die Löwenstein, und dann war Becketts Bild vom Schirm verschwunden. Sie atmete schwer und mit weit aufgerissenen Augen, doch ihr Blick war in eine unbestimmte Ferne gerichtet. Dann rannte sie hektisch zwischen den schwebenden Bildschirmen hin und her und rief die einzelnen Kapitäne ihrer Schiffe persönlich an. Viele antworteten nicht, aus dem einen oder anderen Grund, und wer auf ihren Ruf reagierte, konnte ihr nicht helfen. Alle hatten ihre eigenen Probleme. Löwenstein sparte sich die neuen E-Klasse-Schiffe bis zum Schluß auf. Sie waren ihr ganzer Stolz und ihre Freude. Und nur eines von ihnen antwortete. Die Ausdauer. Die Brücke stand in Rammen. Alarmsirenen und Warnmel-dungen dröhnten durch das Schiff. Besatzungsmitglieder saßen zusammengesunken in ihren Sitzen und bedienten die noch intakten Kontrollen mit verzweifelter Konzentration. Zahlreiche gebrüllte Befehle und Antworten waren über den allgemeinen Lärm hinweg kaum zu verstehen, und nur die Schreie der Verletzten drangen durch. Überall auf der Brücke lagen Leichen. Einige verkohlte Gestalten saßen noch immer vor ihren explodierten Konsolen . Rauch stieg schneller auf, als die Ven-tilatoren ihn abtransportieren konnten. Verwundete schluchzten und stöhnten, und niemand fand die Zeit, sich um sie zu kümmern. Die Löwenstein schrie nach einem Offizier , der Bericht erstatten sollte, und nach einiger Zeit tauchte ein zerzauster Unteroffizier vor der Kamera auf. Einer seiner Uniformärmel war schwarz und verbrannt und qualmte noch, als hätte er das Feuer erst wenige Minuten zuvor erstickt, und das Haar auf einer Seite des Kopfs war weggebrannt. Sein halbes Gesicht bestand aus rohem, wütend leuchtendem Fleisch. Er riß sich zusammen und nahm eine Art Haltung an, bevor er salutierte . Seine Augen blickten wild und panisch wie die einer Kreatur, die von einem Waldbrand überrascht worden ist . Die Löwenstein funkelte ihn an. »Wer ist Er? Wo steckt der Kapitän? Was geht auf der Ausdauer vor?« »Navigationsoffizier Robert Feldglöck, Euer Hoheit. Der Kapitän ist tot. Wir werden von drei Schiffen der Hadenmänner angegriffen. Wir sind schneller als sie, aber die Hadenmänner besitzen bessere Waffen und Schilde. Unsere eigenen Schilde brechen jeden Augenblick zusammen. Wir haben eins der Ha-denmannschiffe kampfunfähig geschossen; aber das hat unsere Energiereserven beinahe vollständig erschöpft. Überall an Bord bricht die Spannung zusammen. Aber wir geben nicht auf, Euer Majestät. Wir werden kämpfen, bis sie das Schiff in Fetzen geschossen haben. Wenn schon nichts anderes, so werden wir Euch Zeit verschaffen.« Eine schwere Explosion ließ die gesamte Brücke erzittern . Die Hülle war durchschlagen worden. Luft und Rauch Schossen kreischend aus dem rasch größer werdenden Loch. Wer nicht an seinem Sitz festgeschnallt war, klammerte sich mit aller Kraft an Armlehnen, Streben und Kontrollpulte, um nicht weggerissen zu werden. Die Beleuchtung flackerte und erlosch und wich dem düsteren Rot der Notbeleuchtung. Jetzt schrillte nur noch eine Sirene, aber sie klang laut und durchdringend – fast wie eine Seele, die im Begriff stand, in die ewige Dunkelheit zu stürzen. Robert Feldglöck klammerte sich an den Bildschirm und schrie irgend etwas, aber er hatte nicht mehr genug Luft in den Lungen. Er stieß sich vom Schirm ab und zog sich quer über die verwüstete Brücke zum Notausgang. Rings um ihn herum explodierten die Konsolen eine nach der anderen und schleuderten ihre totes Bedienungspersonal durch die Luft oder zerrissen es an Ort und Stelle. Und dann erlosch der Schirm schlagartig, und Stille kehrte ein. Die Löwenstein starrte noch eine ganze Weile reglos auf den dunklen Schirm. »Ein tapferer Bursche«, sagte sie schließlich. »Vielleicht hät-te ich ihm das Kommando übergeben sollen. Und meine schöne Ausdauer ist zerstört. Sie war das beste von allen E-Klasse-Schiffen. Sie sollte eigentlich unbesiegbar sein.« »Ehrlich gesagt«, meldete sich Razor offensichtlich unbewegt zu Wort, »ehrlich gesagt glaube ich nicht, daß die Konstrukteure dabei an die Schiffe der Hadenmänner gedacht haben. Immerhin waren drei der legendären goldenen Schiffe von Haden erforderlich, um ein einziges E-Klasse-Schiff zu zerstören.« »Es war auch nicht das Schiff, das Uns enttäuscht hat«, sagte die Löwenstein mit sichtlich besserer Stimmung als noch Augenblicke zuvor. »Es war die Besatzung! Feiglinge, Verräter und Inkompetente! Gibt es denn niemanden mehr, dem Wir vertrauen können?« Kid Death und Razor wechselten einen Blick, doch keiner von beiden sagte etwas. Hoch über dem Palast, auf der Oberfläche Golgathas, in den überfüllten Straßen der Hauptstadt, wurden die Kämpfe immer verbissener und blutiger. Die Imperialen Streitkräfte waren an allen Fronten auf dem Rückzug, und sie nahmen es nicht eben leicht. Sie schossen inzwischen auf alles, was keine Uniform trug, und sie brachten wahllos Häuser und Gebäude zum Einsturz, um ihre Flucht zu decken. Sie hatten sogar versucht, Frauen und Kinder als menschliche Schilde zu benutzen; aber sie neigten dazu, ihre Geiseln frühzeitig zu erschießen, wenn sie nicht mithalten konnten. Die meisten Zivilisten waren inzwischen aus der Stadt geflohen. Oben am Himmel hatte sich eine dichte Wolke aus dem Rauch zahlreicher Brände gebildet und tauchte die Stadt in ein frühes Dämmerlicht. Die meisten Straßenlaternen waren längst zerstört, und die flackernden Feuer aus Hunderten von Bränden waren die einzigen Lichtquel-len. Dunkle Gestalten huschten durch das purpurne Licht, und sie hatten nichts als Blut im Sinn. Die Imperialen Streitkräfte hatten noch nicht aufgegeben. Die Grendels mochten vielleicht alle tot sein; aber es gab noch andere, geheime und mindestens ebenso unangenehme Überraschungen für die Rebellen, die bisher nicht zum Einsatz gekommen waren. Man hatte in aller Eile ESP-Blocker an die Fronten geschafft, um die Elfen zurückzuwerfen; doch die Esper-Gehirne in ihren Glasbehältern waren nicht in rauhen Massen verfügbar, und ihre Reichweite war ausgesprochen gering. Also wurden die experimentellen lebenden ESP-Blocker herbeigeschafft, gefangene Esper, deren Gehirne ausgebrannt und leergewaschen worden waren und die man zu gehorsamen lebenden Hüllen konditioniert hatte. Sie waren nicht sehr intelligent, und man mußte sie überall in Ketten hinführen, aber sie waren effektiv, und ihre Reichweite war viel größer als die der normalen Blocker. Die Esper der Rebellen hatten keine andere Wahl, als sich zurückfallen zu lassen und den normalen Kämpfern den Vortritt zu gewähren. Der Vormarsch der Rebellen kam in den entsprechenden Abschnitten fast zum Stillstand. Das verschaffte den Imperialen Truppen kostbare Zeit, um sich neu zu formieren. Also brachten die Rebellen die Klone an die Front. Gruppen von Leuten mit identischen Gesichtern, bewaffnet bis an die Zähne und alle gekleidet wie die gefallenen Stevie Blues, zur Erinnerung und um sie zu ehren. Massiertes Disruptorfeuer empfing die vorrückenden Reihen und tötete Hunderte; doch sie waren zu Tausenden, und sie waren einfach nicht aufzuhalten. Sie stürmten immer weiter, mitten ins feindliche Feuer hinein, sprangen über die Gefallenen und Toten, bis sie die Barrikaden erreicht und gestürmt hatten und die Imperialen stellen konnten. Sie kümmerten sich stets zuerst um die ESP-Blocker und schenkten ihnen einen gnädigen Tod, so daß die Elfen hinter ihnen angreifen konnten. Ein paar Stunden, nachdem die Klone zum ersten Mal in die Kämpfe eingegriffen hatten, gab es in der gesamten Hauptstadt keinen einzigen ESP-Blocker mehr. Und dann brachte der Untergrund massiv seine eigenen schweren Waffen zum Einsatz, die bisher nur vereinzelt in Aktion getreten waren. Poltergeister schickten rasiermesserscharfe PSI-Stürme durch die Straßen, die jeden zerrissen, der mit ihnen in Berührung kam. Pyros griffen in die Kämpfe ein, und überall gingen Soldaten ohne ersichtlichen Grund in Flammen auf und verbrannten in einem Feuer, das kein Wasser der Welt zu löschen vermochte. Und dann kam die Gedankenbomben. Einfache Geräte, die man um das Gehirngewebe toter Esper herum konstruiert hatte. Sobald sie aktiviert wurden, verbreiteten sie Wahnsinn und Panik unter sämtlichen Nicht-Espern in der näheren Umgebung, Betroffene Truppen kratzten sich die eigenen Augen aus oder wandten sich gegen ihre Kameraden und zerrissen sich gegenseitig. Die Rebellen stürmten vor, überrannten immer und immer wieder Imperiale Auffangstel-lungen und sahen schon wie die sicheren Sieger aus – bis die Kriegsmaschinen Valentins auf der Bildfläche erschienen und sich mit einemmal alles änderte. Gewaltige Metallkonstrukte stampften und polterten durch die breiteren Straßen, und ihre eingebauten Disruptorkanonen hielten blutige Ernte in den dicht gedrängten Reihen der Rebellen. In den ersten paar Minuten starben Hunderte von ihnen. Menschen hetzten in Deckung, nur um herauszufinden, daß sie nirgendwo vor den Kriegsmaschinen sicher waren. Die Maschinen brachen krachend durch Mauern und ganze Häuserblocks, um ihre Beute zu erwischen, und Projektilwaffen waren völlig wirkungslos gegen die gepanzerten Kolosse. Handdis-ruptoren waren ebenfalls zu schwach, um genügend Schaden anzurichten. Aus allen Richtungen stürmten Esper herbei und lenkten ihre Kräfte auf die Maschinen. Poltergeister überschütteten sie mit den Trümmern eingestürzter Häuser und fügten den Metallungetümen kaum mehr als Kratzer zu. Pyros badeten die Maschinen in Feuer, und immer noch rückten die Maschinen weiter vor. Straße um Straße und Block um Block eroberten sie das Gelände zurück, das die Imperialen Streitkräfte zuvor aufgegeben hatten. Hinter ihnen rückten die regulären Truppen nach, vorsichtig darauf bedacht, nie vor die Maschinen zu geraten . Die Ungetüme schossen auf alles, was sich bewegte. Valentin hätte mit Leichtigkeit zwischen Freund und Feind unterscheiden können, aber es war ihm egal. Er amüsierte sich viel zu gut. Sein Verstand schwebte über der Stadt , da-vongetragen von den Maschinen, während sein Körper sicher im Turm des Wolf-Clans lag. Valentin blickte durch tausend Sensoren zugleich auf die Toten und die Zerstörung, die er verursachte, und es gefiel ihm über alle Maßen. Die Esper zogen sich vor den anrückenden Maschinen zusammen und beteten um ein Wunder. Und sie bekamen eins. Die Mater Mundi, Unsere Mutter Aller Seelen, manifestierte sich wieder einmal, und diesmal in der gesamten Esperstreit-macht. Sie brannte hell im Geist eines jeden Mannes und jeder Frau, und für einen Augenblick erstrahlten die Esper hell wie Götter. Sie erleuchteten die Straßen ringsum, und dann vereinigten ihre Bewußtseine in einem einzigen, unbeugsamen Willen. Ein unaufhaltsamer PSI-Sturm raste durch die Straßen und zerriß die Kriegsmaschinen und zerstreute ihre Überreste in alle Winde. Splitter regneten auf die Imperialen Truppen herab, die sich erneut zur Flucht wandten, bis auch sie von dem PSISturm erfaßt und getötet wurden. Jeder Esper der Hauptstadt heulte seinen Triumph laut heraus, und der Boden erzitterte unter dem Geräusch. In seinem befestigten Zufluchtsort im Turm des Wolf-Clans richtete sich Valentin zitternd auf. Er war unsanft aus den Kriegsmaschinen herausgeschleudert worden. Eines nach dem anderen schalteten sich die System rings um den Wolf ab, als sie irreparable Schäden erlitten. Valentin selbst war betäubt und desorientiert; aber er hatte Glück, daß er überhaupt noch am Leben war, und er wußte das nur zu allzu gut. Der Angriff der Esper hätte jedes geringere Bewußtsein zerstört, aber nicht Valentins chemisch erweiterten und verstärkten Verstand. Valentin spürte noch immer, wie die vereinigten Esper nach ihm tasteten, doch sie waren nicht imstande, sein schlüpfriges, bösartiges Wesen zu erfassen. Er würde den Turm der Wolfs verlassen und an einem anderen Ort Zuflucht suchen müssen. Aber so sehr er auch nachdachte, er hatte nicht die leiseste Idee, wo er jetzt noch willkommen gewesen wäre. Nicht einmal die Löwenstein würde ihn jetzt noch aufnehmen, denn er hatte versagt. Valentin Wolf saß ganz allein im Herzen des Turms seiner Familie, und er fragte sich, was er als nächstes tun sollte. Die Wartungstunnel des unterirdischen Eisenbahnsystems waren schon vor Jahrhunderten versiegelt und aufgegeben worden, und die Zeit hatte sie nicht besser werden lassen. In den Tunneln herrschte jene besondere Art von Dunkelheit, die es nur tief unter der Erde gibt, eine absolute Schwärze, die von keinem noch so schwachen Lichtstrahl durchdrungen wurde. Es war eisig kalt, und die Luft roch abgestanden und muffig. Selbst das kleinste Geräusch schien Ewigkeiten widerzuhallen, als wären die Tunnel nach so vielen Jahren der Stille dankbar für jeden Laut. Und durch die dunklen, klaustrophobischen Gänge kamen Owen, Hazel und Giles. Sie stolperten über den unebenen Boden und zogen die Köpfe ein, um sich nicht an der niedrigen Decke zu stoßen. Die Kälte machte ihnen kaum etwas aus, dank dem Labyrinth des Wahnsinns, doch selbst ihre unglaubliche Sehkraft war in einer derart vollkommenen Dunkelheit nutzlos. Owen und Giles trugen Lampen bei sich, und das bleiche weiße Licht warf unheimliche Schatten auf den gekrümmten Wänden und Decken der Gänge. Hazel hielt die Karte, die Owen nach den Informationen aus Lektronendateien gezeichnet hatte, die beinahe so alt waren wie die Tunnel selbst. Die Gänge bildeten ein endloses Labyrinth, und nur sorgfältige Orientierung würde die Rebellen zeitig genug zu ihrem Ziel führen. Das blasse Licht auf den von Löchern übersäten, kabelbe-deckten Wänden wirkte zunehmend beunruhigend, beinahe lebendig. Hazel murmelte etwas von wegen den Eingeweiden der Erde, doch niemand lachte. Es war auch nicht als Scherz gedacht gewesen. Keinem war nach Reden zumute, und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Nach all der Zeit und all den Kämpfen hatten sie endlich die letzte, entscheidende Auseinandersetzung vor Augen, die das Ende von Löwensteins Herrschaft und der herkömmlichen Ordnung der Dinge bedeuten würde. Owen versuchte sich vorzustellen, wie ein Imperium aussehen mochte, für dessen Schaffung er verantwortlich war, und es überraschte ihn nicht, daß ihm das nicht gelang. Er war Historiker, und er hatte eine beliebige Anzahl alter Kulturen studiert, einschließlich einiger, die heutzutage offiziell niemals existiert hatten. Er hatte sich mit allen möglichen Formen von Religionen und politischen Theorien beschäftigt, aber persönlich hatte er nie etwas anderes gekannt als das Imperium der Familien und den Eisernen Thron. Ohnesorg und Hazel hatten sich abwechselnd ihre voneinander abweichenden Vorstellungen eines auf Demokratie basierenden neuen Imperiums erklärt; aber sosehr Owen ihre Theorien auch mochte, sie klangen in seinen Ohren nach reinem Chaos. Außerdem wollte er verdammt sein, wenn er sehen konnte, wo in ihren zukünftigen Reichen für ihn und seinesgleichen Platz war. Andererseits hatte er auch niemals in Löwensteins Imperium gepaßt. Er grinste bei dem Gedanken, und ihm dämmerte, daß seine Chancen, überhaupt irgendeine Zukunft zu erleben, sowieso nur gering waren, und das ließ seine Sorgen unbedeutend erscheinen. Falls er diese Mission überlebte, konnte er sich immer noch Gedanken machen. Er war noch immer nicht ganz sicher, was er unternehmen würde, wenn es ihnen schließlich gelungen war, einen Weg in den Imperialen Hof zu finden und sie vor ihrer Imperatorin auf dem Eisernen Thron standen. Sein ganzes Leben lang war er dazu erzogen worden, den Eisernen Thron zu achten und zu ehren, ganz gleich, wer darauf saß. Er hatte geschworen, dem Thron sein ganzes Leben lang zu dienen und ihn notfalls auch mit dem Leben zu verteidigen. Der Eiserne Thron war der Ur-sprung aller Pflicht und aller Ehre und noch vieler andere Dinge, die sich nicht so leicht in Worte fassen ließen. Den Thron zu stürzen war, als würde man Gott selbst stürzen. Owen Todtsteltzer war ein Aristokrat, und daran hatte auch seine Ächtung nichts geändert. Vermutlich würde er sein ganzes Leben Aristokrat bleiben, jedenfalls in vielerlei Hinsicht. Doch Owen hatte zuviel Dunkelheit gesehen. Er hatte die Schattenseiten des Imperiums kennengelernt. Er hatte gesehen, auf wieviel Leid und Elend die Gesellschaft der Reichen und Privilegierten basierte, und er konnte den Blick nicht einfach wieder abwenden und so tun, als wäre nichts geschehen. Pflichtgefühl und Ehre und reine Menschlichkeit verlangten von ihm, daß er dem Imperium Einhalt gebot. Und so war er zu einem der Anführer der Rebellion geworden, ein Held und Vorbild für andere, und der Sinn seines Leben bestand nun darin, all jene zu rächen, die das Imperium aus Habsucht oder Willkür zerbrochen oder ausgestoßen hatte. Er kämpfte jetzt für die Armen und die Geknechteten, für die Esper und die Klone und andere Unpersonen, für jeden, dessen Leben durch eine Imperatorin zerstört worden war, deren Pflicht es eigentlich gewesen wäre, ihre Untertanen zu schützen. Und wenn er sich manchmal dabei wie ein Betrüger vor-kam oder wie jemand, der nicht würdig war, Teil des Kampfes zu sein, so tröstete er sich mit dem Gedanken, daß außer ihm niemand sonst vollbringen konnte, was er tat. Das Labyrinth des Wahnsinns hatte ihm Kräfte geschenkt, die weit über die eines gewöhnlichen Menschen hinausgingen, und so behielt er sein Menschsein nun dadurch, daß er diese Kräfte in den Dienst der gesamten Menschheit stellte. Und all das nur, weil die Löwenstein ihn verstoßen und sein behagliches, komfortables Leben zerstört hatte, zusammen mit allem, was Owen je lieb und teuer gewesen war. Immer wieder versuchte er sich einzureden, daß nicht Rache ihn vorantrieb, und daß sein Schicksal ihm Einsicht in die Gefühle unzähliger Menschen vermittelt hatte, deren Leben von der Imperatorin und der herrschenden Klasse zerstört worden waren. Aber Owen war zu ehrlich zum Lügen, sogar gegen sich selbst. Er wollte, daß sie genauso litt, wie er gelitten hatte, indem er ihr das wegnahm, was sie am meisten schätzte. Aber am Ende zählte nichts von alledem. Kein einziger dieser Gründe hatte ihn hierhergeführt, und keiner dieser Gründe war es, der ihn in der Dunkelheit durch unterirdische Gänge stolpern ließ, um ein Imperium zu stürzen. Owen kämpfte für ein Kind, das hilflos weinend im blutbesudelten Schnee einer dunklen Gasse von Nebelhafen lag, nachdem er es ohne nachzudenken niedergestochen hatte. Sie war eine Blutsüchtige gewesen und hatte zu einer Straßenbande gehört, und sie hatte versucht, ihn zu töten; aber auch das spielte keine Rolle. Was zählte war, daß kein Mensch im gesamten Imperium zu einem Leben wie dem ihren verdammt sein oder wie sie sterben sollte. Nur eine weitere verlorene Seele, für die Löwenstein die Verantwortung trug. Ihre Schreie verfolgten ihn, und ihr Blut würde bis ans Ende seiner Tage an seinen Händen kleben. Er würde ein Imperium für sie stürzen, würde eine ganze Zivilisation umkrempeln und alles vernichten, woran er jemals geglaubt hatte, und er wußte, daß selbst das nicht ausreichen würde, seine Schuldgefühle zu mindern. Der Tunnel führte sie schließlich zu einer versiegelten Luke. Owen und Giles stemmten sich mit den Schultern dagegen und nahmen alle Kräfte zusammen, die das Labyrinth des Wahnsinns ihnen verliehen hatte, und die massive Stahltür öffnete sich unter lautem Quietschen. Der Gang dahinter lag in strahlender Helligkeit, und sie mußten einen Augenblick lang die Augen schließen, bis sie sich an das Licht gewöhnt hatten. Owen schaltete seine Lampe aus und schob den Kopf durch die Öffnung. Er spähte mißtrauisch in die Runde, dann gab er den anderen ein Zeichen, daß alles in Ordnung sei. Nacheinander sprangen sie durch die Luke auf den darunterliegenden Bahnsteig. Der Bahnhof war eine relativ große, weitläufige, vollständig mit Kacheln ausgekleidete Höhle. An der Decke hingen starke Scheinwerfer und beleuchteten einen einzelnen Zug, der an der Bahnsteigkante wartete. Alles war makellos sauber. Der Zug war groß genug und bestand aus poliertem Stahl, ohne Fenster, aber mit einer einladend offenstehenden Schiebetür. Der Bahnsteig war vollkommen menschenleer. Nirgends waren Wachen zu sehen. Sicherheitskameras an der Decke waren alles. Hazel blickte zu der hohen Decke hinauf, dann auf die reich verzier-ten Wände und schließlich auf das luxuriöse Interieur des Zuges, und sie mußte sich anstrengen, um nicht zu zeigen, wie sehr sie beeindruckt war. »Sehr hübsch«, sagte sie schließlich. »Allerdings auf eine etwas übertriebene Art und Weise.« »So sind die Aristokraten nun einmal«, erwiderte Owen. »Sie geben sich nicht mit weniger als Perfektion zufrieden, selbst wenn man keine Augen für die Umgebung hat. Wer in diesem Zug sitzt, ist normalerweise mit seinen Gedanken ganz bei den häßlichen Überraschungen, mit welchen die Löwenstein bei Hof aufzuwarten pflegt. Manchmal ist der Hof noch gefährlicher als die Löwenstein selbst, und das will schon einiges heißen. Gott allein weiß, wie es inzwischen dort aussieht. Vor allem, wenn ich bedenke, in welcher Stimmung sie sich befinden muß. Doch es macht keinen Sinn, hier herumzuhängen. Komm, Mylady Hazel, deine Kutsche wartet.« »Ich bin nicht deine Lady, Todtsteltzer!« fauchte Hazel und trat mißtrauisch durch die offene Tür in den wartenden Waggon. »Selbstverständlich nicht«, erwiderte Owen galant. Nachdem sie alle eingestiegen waren, setzte Giles sich auf den erstbesten Sitz und legte die Füße hoch. Hazel marschierte geradewegs auf die eingebaute Bar zu, und Owen untersuchte das Kodepaneel neben der Tür. Die Zahlen verrieten, wo genau man sich gerade befand, mit wie vielen anderen man unterwegs war und welchen gesellschaftlichen Status man innehatte. Ohne korrekte Kodes würde der Zug sich erst gar nicht in Bewegung setzen. Ein ganz falscher Kode würde die Sicherheitssysteme aktivieren, und Gas würde in die Waggons strömen, und danach würde man nirgends mehr hinfahren, außer zum Friedhof. Ozymandius hatte behauptet, nicht nur Kodes zu besitzen, die sie sicher zur nächsten Station bringen würden, sondern die auch noch die Sicherheitssysteme abschalten konnten, so daß die Gasdüsen auch von außen nicht mehr aktiviert werden konnten. Owen war gar nicht mehr so überzeugt davon, wie er es noch kurze Zeit zuvor gewesen war. »Vertrau mir«, flüsterte Ozymandius leise in Owens Ohr. »Die Nachforschungen deines Vaters waren sehr gründlich. Die Kodes sind korrekt. Tipp einfach die Nummern ein, so wie ich sie dir gebe.« Owen knurrte etwas Unverständliches vor sich hin und tat, was Ozymandius von ihm verlangte. Er tippte die letzte Nummer ein und machte sich innerlich auf das Zischen der Gasdüsen gefaßt. Er war bereit, Hazel beim leisesten Geräusch zu packen und mit ihr den Waggon zu verlassen, und wenn er da-für ein Loch durch die solide Stahlwand hätte schlagen müssen. Aber nichts geschah, oder wenigstens nichts Unangenehmes. Die Tür glitt zu; die Motoren in ihren abgeschlossenen Gehäusen sprangen an, und der Zug setzte sich sanft in Bewegung. Owen blickte sich um. Er hatte das Gefühl, daß er vielleicht sonst noch etwas hin sollte, doch dann zuckte er die Schultern und setzte sich neben Giles. Der ursprüngliche Todtsteltzer hatte sich in seinem luxuriös gepolsterten Sitz zurückgelehnt, die Augen geschlossen und die Beine vor sich gekreuzt: Der Inbegriff der Entspannung. Owen saß auf der Kante seines Sitzes und biß sich auf die Unterlippe hören. Zugreisen machte ihn krank. Hazel hatte die Bar geöffnet und arbeitete sich durch die Ka-raffen. Sie nahm einen ordentlichen Schluck von allem, bis sie auf etwas stieß, das ihr wirklich schmeckte. Sie packte die Karaffe, kehrte zu Owen und Giles zurück und setzte sich den beiden gegenüber. Owen bedachte sie mit einem harten Blick. Hazel gab vor, es nicht bemerkt zu haben, und bot ihm einen Schluck an. Owen lehnte höflich ab. Giles öffnete ein Auge, erblickte Hazel und die Karaffe, rümpfte die Nase und schloß das Auge wieder. Hazel bedachte ihn mit einer ordinären Geste, und Owen war froh, daß Giles es nicht sah. Er spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. Giles hatte Owen bei mehr als einer Gelegenheit zu verstehen gegeben, daß er nichts von Hazel hielt. In seinen Augen war sie als Partnerin für den letzten aus der Linie der Todtsteltzer völlig ungeeignet. Einmal hatte er es sogar in Hazels Gegenwart gesagt, und Owen hatte sie festhalten müssen, um sie daran zu hindern, sich auf seinen Vorfahren zu stürzen. Giles hatte nur die Nase gerümpft und erklärt, daß ihre Redaktion nur ein weiterer Beweis für die Richtigkeit seiner Meinung wäre. Hazel hatte Owen abgeschüttelt, etwas sehr Unhöfliches über Inzucht innerhalb der Aristokratie gesagt und war davonstolziert. Owen war hin und her gerissen gewesen, ob er sich mit seinem Vorfahren streiten, oder ob er hinter Hazel her eilen sollte, um sie zu beruhigen; doch am Ende hatte er beschlossen, daß Diskretion der bessere Teil der Ehre war, und hatte beide sich selbst überlassen. Bei manchen Streitereien weiß man von Anfang an, daß man keine Aussichten hat, sie zu gewinnen. »Weißt du, das Ganze war irgendwie viel zu leicht«, sagte Hazel, nachdem sie die Karaffe abgesetzt und sich den Mund mit dem Handrücken abgewischt hatte. »Ich meine, wenn man bedenkt, daß dies hier der einzige Zugang zum Hof der Löwenstein ist. Ich hätte erwartet, daß es in der Station nur so von Sicherheitsmaßnahmen wimmelt. Statt dessen keinerlei bewaffnete Wachen; du gibst ein paar Zahlen ein, und schon geht’s los. Das sieht mir gar nicht nach der paranoiden Eisernen Hexe aus, die wir alle kennen und verabscheuen.« »Die Löwenstein hat schon immer die Meinung vertreten, daß Einfachheit das beste ist«, sagte Owen. »Man braucht nicht viel, um diese Züge sicher zu machen. Wenn sie erst einmal unterwegs sind, gibt es keinen Fluchtweg mehr. Die Waggons sind verschlossen , und die Gasdüsen können vom Palast aus beim ersten beunruhigenden Anzeichen aktiviert werden. Ich hoffe nur , daß die Kodes, die Ozymandius und mein Vater uns zur Verfügung gestellt haben, entweder die Sensoren der Waggons blockieren, oder verhindern, daß wir vom Palast aus mit Gas überschüttet werden können. Man hat mir erzählt, es wäre ein langsamer und ziemlich schrecklicher Tod.« Hazel starrte auf die nächstgelegene Gasdüse. »Augenblick mal!« sagte sie. »Willst du mir vielleicht erzählen, daß du nicht genau weißt, ob diese Kodes funktionieren?« »Ich fürchte ja. Ozymandius weiß keine Einzelheiten. Wie es scheint, hat mein Vater vor längerer Zeit die Kodes in die Speicher der KI geladen; aber er ist nie dazu gekommen, ihre Funktion zu erklären. Das ist typisch für meinen Vater. Er erklärte nie irgend etwas, außer, wenn es absolut notwendig war. Ich fürchte, uns bleibt nichts anderes übrig, als ihm zu vertrauen.« »Du verlangst allen Ernstes von mir, daß ich einer KI vertraue, die eigentlich längst tot sein müßte und die nur du allein hören kannst? Und die noch dazu von einem Mann programmiert wurde, der sein Leben lang Intrigen geschmiedet und sich an Verrat ergötzt hat? Also schön. Haltet den Zug an. Ich will aussteigen. Ich werde den restlichen Weg zu Fuß gehen.« »Die Züge sind so programmiert, daß sie nirgendwo anhalten, außer an ihrem Zielort«, erwiderte Owen gelassen. »Ich könnte natürlich die Tür aufbrechen und dich hinauswerfen; aber dann hättest du einen Marsch von wenigstens zehn Meilen vor dir. Allein. In der Dunkelheit. Außerdem müßtest du dich mit unbekannten Sicherheitseinrichtungen herumschlagen, die ganz definitiv nicht durch meine Kodes deaktiviert worden sind.« Hazel blickte ihn mit gerunzelter Stirn an und suchte dann Trost in ihrer Karaffe. »Ich hasse es, daß du immer recht haben mußt. Du bist dann so selbstzufrieden und unausstehlich.« Owen unterdrückte sein Grinsen und richtete den Blick auf Giles. Der erste Todtsteltzer hatte die Augen geschlossen. »Alles in Ordnung, Giles?« Giles schlug die Augen auf und nickte Owen zu. Hazel ignorierte er. »Könnte nicht besser sein, mein Junge. Ich habe sehr lange auf diesen Augenblick gewartet. Ich habe Ewigkeiten davon geträumt, eines Tages nach Hause zurückzukehren und die alten Ungerechtigkeiten zu vergelten, die man mir angetan hat. Sie warfen mich hinaus, Owen. Sie erklärten mich zum Verbrecher, nach allem, was ich für sie getan hatte. Ich schenkte ihnen mein Leben und meine Ehre, kämpfte ihre Kriege und tötete ihre Feinde, und ich befleckte unseren Namen mit dem Dunkelzonen-Projektor, und nicht einmal das reichte ihnen. Aber jetzt, 943 Jahre später, bin ich zurück, und ich präsentiere ihnen die Rechnung für alles, was sie mir angetan haben.« Er unterbrach sich so abrupt, daß Owen und Hazel glaubten, er wolle nichts mehr zu diesem Thema sagen, und tatsächlich schweifte sein Blick in weite Fernen, in eine lange zurückliegende Zeit des Verrats und Betrugs. Owen rutschte unbehaglich in seinem Sitz hin und her. Der ursprüngliche Todtsteltzer war schon so lange ein Held und eine Legende, daß es Owen immer wieder schwerfiel, ihn sich als Menschen aus Heisch und Blut vorzustellen, der verletzlich war und einen alten Groll in sich trug. Owen konnte nicht anders; aber er war der Auffassung, daß ein Mann wie der große und berühmte Erste Todtsteltzer eigentlich über derartigen Dingen hätte stehen müssen. Die vor ihnen liegenden Aufgaben ließen außerdem keinen Platz mehr für so einfache Dinge wie Rache, das wußte selbst Owen. Aber um fair zu bleiben: Giles hatte nie ein Hehl daraus gemacht, daß er sich aus ganz privaten Gründen der Rebellion angeschlossen hatte und nicht wegen der Untergrundbewegung oder irgendeinem ihrer hehren Ziele. Die Rebellion war für Giles von Anfang an nur Mittel zum Zweck gewesen . Diese Tatsache für sich allein genommen reichte bereits, damit Owen sich Gedanken machte, doch da war auch noch eine zweite merkwürdige Beobachtung: Für einen Mann, der den größten Teil des letzten Jahrtausends in Stasis verbracht hatte, war Giles häufig genug bemerkenswert gut informiert, was die heutige Zeit betraf. Owen seufzte innerlich. Wenn man schon Giles Todtsteltzer, dem legendären Helden und Krieger, nicht vertrauen konnte – wem konnte man denn überhaupt vertrauen? Immer vorausgesetzt natürlich, der Mann vor ihm war wirklich Giles Todtsteltzer. Die Fahrt verlief ohne besondere Ereignisse. Hazel warf immer wieder mißtrauische Blicke auf die Gasdüsen an der Decke und senkte den Brandypegel in ihrer Karaffe sichtbar. Schließlich wurde Owen deswegen so nervös, daß er ihr die Karaffe wegnahm und sie zurück in die Bar stellte. Es war ein Zeichen dafür, wie weit ihre Freundschaft inzwischen fortgeschritten war, daß sie sich ihm nicht widersetzte; trotzdem sprach sie die restliche Zeit über kein Wort mehr mit ihm. Schließlich wurde der Zug immer langsamer hielt schließlich an. Die Tür glitt auf, und das Brummen der Motoren erstarb. Mit einemmal herrschte völlige Stille. Owen erhob sich aus seinem Sitz. Er spürte, wie sein Herz heftig in der Brust klopfte. Sie waren am Hof angekommen. Keine weiteren Pläne, keine Streitereien mehr und keine leisen Panikanfälle in den frühen Morgenstunden, wenn alle anderen fest schliefen. Und kein Weg zurück. Hier am Hof würde sich innerhalb der nächsten Stunden sein Schicksal entscheiden und mit ihm das des gesamten Imperiums. Auf die eine oder andere Weise. Er zog das Schwert und den Disruptor, atmete tief durch und trat auf den Bahnsteig hinaus. Er kam nur ein paar Schritte weit und blieb dann wie angewurzelt stehen. Er hörte, wie Giles und Hazel hinter ihm aus dem Zug ausstiegen; aber er hatte nur Augen für den einzelnen Mann, der die drei Rebellen am anderen Ende des Bahnsteigs erwartete. Und im gleichen Augenblick, in dem Owen ihn sah, wußte er, daß er eigentlich von Anfang damit hätte rechnen müssen, ihn hier zu treffen. Daß es nur recht und billig war, wenn dieser Mann vor allen anderen dort war und versuchen würde, sie aufzuhalten. Er stand in einiger Entfernung auf dem hell erleuchteten Bahnsteig, hielt das Schwert in der Hand und wartete geduldig darauf, daß die drei Rebellen zu ihm kamen. Die energetische Hälfte seines Körpers knisterte und knackte laut in der Stille. Der Halbe Mann. Hazel trat zu Owen und fluchte leise. »Ich wußte gleich, daß alles viel zu glatt gelaufen ist«, sagte sie. »Warum muß es ausgerechnet er sein? Der einzige Mensch im ganzen verdammten Imperium, den man nicht töten kann.« »Weil meine Loyalität außer Frage steht«, antwortete der Halbe Mann. »Weil die Sensoren in den Waggons uns verraten haben, wer auf dem Weg hierher war, und weil die Löwenstein wußte, daß ein außergewöhnlich tapferer Mann nötig sein wür-de, um Euch aufzuhalten. Und weil ich hier sein wollte. Die Löwenstein war ziemlich wütend, als die Gasdüsen nicht funktionierten, aber ich nicht. Es wäre ein so… erbärmlicher Weg gewesen, Euch zu besiegen. So ist es viel besser. Findet Ihr es nicht passend, daß der treueste Untertan im gesamten Imperium den berüchtigtsten Hochverrätern gegenübertritt? Ich schät-ze, es ist zu spät, um Euch Eure Verrücktheit ausreden zu wollen?« »Viel zu spät«, antwortete Giles. »Und es ist auch nicht Verrücktheit«, sagte Owen, »sondern Notwendigkeit. Das Imperium ist krank, korrupt und böse geworden. Es muß niedergerissen werden, damit etwas Besseres seinen Platz einnehmen kann.« »Das habe ich alles schon so oft gehört«, erwiderte der Halbe Mann. Sein halbes Gesicht blieb ausdruckslos; doch seine Stimme klang entschlossen. »Aber es bedeutet gar nichts im Vergleich mit dem Bösen, das draußen vor dem Imperium lauert. Die Fremdwesen, die mein Schiff zerstörten und meine Besatzung ermordet und mir das hier angetan haben, lauern noch immer dort draußen und warten darauf, daß wir schwach und uneins werden, damit sie kommen und uns vernichten können. Und die belanglosen Mißstände, über die Ihr Euch die Köpfe zerbrecht, sind nichts im Vergleich zu dem, was diese Fremdwesen der Menschheit antun werden. Ich habe an Bord ihres Schiffes Schrecken gesehen und erlebt, die weit über Eure schlimmsten Alpträume hinausgehen. Im Vergleich zu ihnen sind wir nichts. Allein der vereinten Kraft des Imperiums kann es gelingen, sie aufzuhalten. Und mit Eurer Rebellion setzt Ihr das Überleben unserer gesamten Spezies aufs Spiel.« »Spar dir diesen Mist!« knurrte Hazel. »Das mußte ich mir mein ganzes Leben lang anhören. Wo stecken denn deine Fremdwesen? Keine Spur von ihnen zu sehen, all die Jahre nicht. Falls sie kommen wollten, hätten sie das schon vor langer Zeit getan. Heutzutage benutzen Typen wie ihr das doch nur noch als Ausrede, um an der Macht zu bleiben. Damit Leute wie ihr mit Leuten wie mir machen könnt, wozu ihr Lust habt. Laß die Fremdwesen nur kommen. Sie können nicht schlimmer sein als das Leben, zu dem Typen wie du mich und meinesgleichen verdammen wollen. Ihr seid die wirklichen Fremdwesen. Ihr habt nichts, aber auch gar nichts mit den Menschen gemeinsam, deren Leben ihr in den Händen haltet.« »Hazel hat ganz recht«, bestätigte Owen. »Ihr schwafelt schon so lange von einer Bedrohung durch bösartige Fremdwesen, daß ihr damit inzwischen alles rechtfertigen könnt, was ihr wollt. Und wenn Ihr wirklich wollt, daß das Imperium überlebt, Halber Mann, dann tretet zur Seite. Laßt uns die Löwenstein stürzen und die Dinge wieder ins rechte Lot bringen.« »Ihr wüßtet doch gar nicht, was Ihr mit einem Imperium anfangen solltet«, entgegnete der Halbe Mann. »Eure Leute würden plündern und rauben und in Jahrhunderten gewachsene Traditionen zerstören, nur um ihre eigenen primitiven Gelüste und Bedürfnisse zu befriedigen. Ich kann nachvollziehen, was eine Frau wie diese d’Ark hier antreibt, aber was zur Hölle machen zwei Todtsteltzer hier? Ihr habt einen Eid auf Euren Namen, auf Euer Blut und auf Eure Ehre geschworen, daß Ihr der Imperatorin treu ergeben seid und ihr dienen werdet, solange Ihr lebt.« »Nein, haben wir nicht«, widersprach Giles. »Unser Eid galt dem Eisernen Thron und nicht der Wahnsinnigen, die jetzt darauf sitzt.« »Die Unterscheidung ist ohne jede praktische Bedeutung«, sagte der Halbe Mann. Er trat ihnen ohne Eile entgegen, und das Geräusch seines einen menschlichen Fußes auf dem Bahnsteig klang seltsam laut in der unheimlichen Stille. Owen hatte das Gefühl, als lausche das gesamte Imperium mit angehalte-nem Atem und wartete auf das, was als nächstes geschehen mußte. »Es gibt nichts mehr, das wir miteinander zu besprechen hätten, Vogelfreie«, sagte der Halbe Mann. »Wir sprechen nicht einmal mehr die gleiche Sprache.« »Ich glaube nicht, daß wir jemals die gleiche Sprache gesprochen haben«, erwiderte Owen ein wenig traurig. »Werft Euer Schwert weg. Ihr habt nicht die geringste Chance gegen uns drei.« »Ihr könnt mich nicht töten«, erwiderte der Halbe Mann. »Niemand kann das.« »Ihr kennt uns nicht«, sagte Giles. »Wir sind nicht wie die anderen.« »Das haben wir schon gehört«, entgegnete der Halbe Mann. Er blieb ein paar Meter vor den Rebellen stehen, und sein halber Mund verzog sich zu etwas, das möglicherweise ein Grinsen darstellen sollte. »Wißt Ihr, was das hier ist?« fragte er. In seiner menschlichen Hand hielt er ein kleines Metallkästchen mit einem einzelnen roten Knopf darauf. Owen, Hazel und Giles hatten kaum genug Zeit, den Apparat als Gedankenbombe zu identifizieren; dann drückte der Halbe Mann auch schon auf den Knopf. Die Technik in der Schachtel stimulierte das tote Gehirngewebe eines Espers, und ein psionisches Signal entstand, das über die drei Rebellen kam und wie ein Wirbelsturm in ihre Köpfe eindrang. Owen, Hazel und Giles schwankten heftig. Sie rissen die Hände hoch, preßten sie an die Schläfen und kämpften gegen das entsetzliche Heulen an, das ihnen den Verstand zu rauben drohte. Owen taumelte einen Schritt zurück. Die Augen schienen ihm aus dem Kopf fallen zu wollen. Seine Gedanken bewegten sich langsam und ungeordnet und gehorchten ihm nicht mehr. Helle Lichter flackerten rings um ihn auf, und in seinen Ohren schrien die Stimmen von Wahnsinnigen. Irgend etwas marschierte in seinem Kopf auf und ab, und es war nicht er selbst. Schmerz und Schwäche nagten an seinem Körper, und obwohl all das mit ihm geschah, vernahm er noch immer die Stimme des Halben Mannes. »Interessant«, sagte der Halbe Mann. »Wir waren nicht sicher, welche Auswirkungen die Gedankenbombe auf Euch haben würde. Wir wußten ziemlich genau, daß Ihr keine richtigen Esper seid, aber was auch immer Ihr seid, die Chancen standen nicht schlecht, daß die Bombe Euch ziemlich zu schaffen machen würde. Selbstverständlich bin ich immun dagegen. Hört auf, Euch zu wehren, es ist sinnlos. Diese Bombe hier wurde speziell für Euch extrem in ihrer Wirkung und Reichweite verstärkt. Wärt Ihr normale Sterbliche, würden Eure Gehirne inzwischen aus den Ohren tropfen. Aber keine Angst. Haltet einfach einen Augenblick lang still, und ich werde Euch von Euren Leiden erlösen .« Owen hatte den Disruptor fallengelassen. Seine Hände fühlten sich an, als gehörten sie jemand anderem. Er wußte nur, daß er das Schwert noch hielt, weil er es in der Faust mit den weißen Knöcheln sehen konnte, als er an sich hinunter blickte. Giles war neben ihm in die Knie gegangen. Er hatte die Augen weit aufgerissen und starrte ins Leere, und er zuckte und zitterte am ganzen Leib, während seine Nerven ein wahres Feuerwerk in seinem Körper abbrannten. Hazel lag auf dem Rücken. Sie hatte den Mund in einer wilden Geste hilflosen Schmerzes und rasender Wut verzerrt, und ihre leeren Hände öffneten und schlossen sich krampfhaft. Alle drei kämpften sie gegen die Auswirkungen der Gedankenbombe und rannten damit ins Leere, und so beschloß Owen, den Kampf aufzugeben. Er zog sich tief in sein innerstes Selbst zurück und schaltete all seine vom Labyrinth des Wahnsinns erhaltenen Fähigkeiten ab. Sie konnten ihm in dieser Situation nicht helfen. Sie waren schließlich die Ursache dafür, daß die Gedankenbombe ihn überhaupt quälte. Es war schwer, sich selbst bewußt zu blenden und die Ohren zu verschließen, während der Halbe Mann mit Mord im Sinn gegen ihn vorrückte; aber irgendwie wußte Owen, daß seine einzige Chance auf Rettung tief in ihm selbst lag und nicht außerhalb. Die Gedankenbombe war für den Einsatz gegen Menschen geschaffen, und obwohl Owen kein Esper war, war er auch kein Mensch im eigentlichen Sinne mehr. Und wenn seine Gedanken noch menschlich waren, dann nur, weil er es so wollte. Es gab auch andere Wege zu denken, und noch während ihm diese Idee kam, schlug sein Verstand bereits eine andere Richtung ein, und er dachte in neuen Dimensionen und Bahnen, weit außerhalb aller menschlichen Grenzen. Und so verfolgte er diese neue Richtung, diesen Weg, der mehr war als nur ein Weg, und schlagartig waren seine Gedanken wieder klar . Er öffnete die Augen und erblickte den Halben Mann über sich . Er hatte das Schwert zum Schlag erhoben, und die Gedankenbombe baumelte an seinem Gürtel. Und plötzlich war es für Owen die leichteste Sache der Welt, mit dem Schwert auszuholen und die Schnur zu zerschneiden, die die Bombe am Gürtel seines Gegners hielt. Das kleine Metallkästchen polterte auf den Bahnsteig, und Owen zerschmetterte es mit einem einzigen Hieb seiner goldenen Hadenmannfaust. Von einem Augenblick zum anderen erlosch das psionische Signal der Bombe, und Owen war wieder er selbst. Der Halbe Mann brachte sich mit einem raschen Sprung in Sicherheit, und in seinem halben Gesicht standen deutlich sichtbar Überraschung und Schock. Hazel und Giles kamen wieder zu sich und rappelten sich auf. Sie schüttelten benommen die Köpfe. Der Teil von Owens Verstand, der kurz zum Leben erwacht war, schaltete sich bereits wieder ab, nun, da er nicht länger gebraucht wurde. Auf einer sehr fundamentalen Ebene wußte Owen, daß er nicht mehr in diesen Bahnen weiterdenken durfte, wenn er Mensch bleiben wollte, und so wandte er sich be-wußt von dieser neuen Art zu denken ab, die bereits aus seiner Erinnerung verblaßte . Er war wieder Owen Todtsteltzer und nur Owen, und das war vollauf genug . Er grinste den mißtrauisch dastehenden Halben Mann an, und der Humor in diesem Grinsen war unendlich dunkel. Der Halbe Mann hob sein Schwert ein wenig. »Ich bin wirklich beeindruckt, Todtsteltzer«, sagte er tonlos. »Aber überrascht? Nein. Man hat mir zwar gesagt, daß diese neue und verbesserte Gedankenbombe Eure Gehirne rösten würde, aber ich habe nicht einen Augenblick daran geglaubt. Nicht nach all den erstaunlichen Dingen, die Ihr vollbracht habt. Wißt Ihr, daß Ihr im Begriff sieht, zu einer Legende zu werden? Ganz genau wie ich. Es wird Euch nicht gefallen. Die Men sehen werden Euch Geschichten andichten und Lieder über Euch schreiben, und sie werden Euer Bild auf den Holoschirmen verehren; aber sie werden niemals erfahren , wie Ihr wirklich wart. Sie werden einen Riesen aus Euch machen, und sie werden außer sich geraten, wenn Ihr sie enttäuscht, weil Ihr nichts weiter als ein ganz gewöhnlicher Mensch seid. Trotzdem, macht Euch darüber keine Gedanken. Ich sorge dafür, daß Eure Geschichte hier endet, und Ihr müßt Euch niemals die Lügen anhören, die man sich über Euch erzählen wird.« »Ihr seid schon vor langer Zeit gestorben«, sagte Owen und trat gelassen vor. »Der Augenblick ist gekommen, daß Ihr Euch endlich hinlegt und es eingesteht.« »Ich kann nicht sterben«, erwiderte der Halbe Mann. »Meine Energiehälfte läßt es nicht zu. Kommt her, Todtsteltzer, und ich verspreche Euch, ich mache es schnell und sauber.« »Haltet die Klappe und kämpft«, sagte Owen. Sie prallten aufeinander. Der Halbe Mann bewegte sich mit der Erfahrung und Geschwindigkeit mehrerer Lebensspannen. Er stand niemals still und umkreiste seinen Gegner endlos, während er Owens Talent aufs äußerste herausforderte. Owen bewegte sich mit ihm und beschränkte sich einzig und allein auf die Defensive. Er suchte die Schwachstellen und wunden Punkte des Halben Mannes; doch es dauerte nicht lange, bis Owen erkennen mußte, daß sein unheimlicher Gegner keine besaß. Die Energiehälfte versorgte ihn mit einem unendlichen Vorrat an Kraft und Ausdauer, so daß er niemals ermüdete, und er wußte mehr über die Kunst des Schwertkampfs, als Owen jemals lernen würde. Owen beschwor den Zorn herauf und wurde augenblicklich stärker und schneller, und dann startete er seinen eigenen Angriff. Der Halbe Mann hielt mit ihm mit und wehrte gelassen alles ab, was Owen gegen ihn schleudern konnte. Die Kraft brannte in Owens Armen, und er verschärfte das Tempo erneut, als er seinen Zorn bis zu den Grenzen beanspruchte. Sein Schwert bewegte sich jetzt so schnell, daß es nur noch als Flirren zu erkennen war, und zum ersten Mal wich der Halbe Mann einen Schritt zurück. Owen bedrängte seinen Gegner und bearbeitete das Schwert des Halben Mannes wie ein wütender Holzfäller einen wider-spenstigen Baum. In jenen Augenblicken repräsentierte der Halbe Mann alles, was Owen am Imperium so haßte, und er lachte laut auf und stürzte sich auf seinen Feind. Der Halbe Mann hatte aufgehört zu grinsen; doch er hielt Owens Angriffen stand und wich nicht mehr weiter zurück. Und schließlich dämmerte Owen, daß sein Zorn nicht ewig anhalten würde, während der Halbe Mann auf einen unendlichen Vorrat an Energie zurückgreifen konnte. Was bedeutete, daß Owen einen Weg finden mußte, um den Kampf bald zu beenden, wollte er das Ende überhaupt erleben. Und so legte er seine gesamte Kraft und Schnelligkeit in einen einzigen Angriff hinein, einen hämmernden Schlag, der, von all seinen vom Labyrinth ge-schenkten Talenten unterstützt, die Verteidigung des Halben Mannes glatt durchbrach und auf seinen menschlichen Schädel herunterkrachte. Für einen endlosen Augenblick schien Owens Schwert in der Luft zu verharren, als wäre es von einer unsichtbaren energeti-schen Barriere aufgehalten worden, und dann konzentrierten sich noch einmal alle Kräfte und Begabungen des Labyrinths in Owens Schlag, und mit einer übermenschlichen Wucht, die sich durch nichts und niemanden aufhalten ließ, fuhr die Klinge in den Schädel des Halben Mannes. Die schwere, breite Klinge sank tiefer und tiefer. Sie ging direkt neben der Energiehälfte des Halben Mannes durch sein Gesicht und tiefer, direkt an der Grenzlinie zur Energiehälfte entlang durch den gesamten Leib, bis sie purpurn und blutig in einem Schwall von Eingeweiden und Innereien unten am Rumpf wieder austrat. Owen stolperte nach hinten, als sein Schwert wieder freikam. Er beendete den Zorn, und alle Kraft schien ihn zu verlassen. Hazel und Giles fingen ihn auf, sonst wäre er gestürzt. Zu dritt standen sie da und beobachteten, wie der Halbe Mann zuckend und um sich schlagend am Boden lag und verblutete. Die Energiehälfte stand wie angewachsen da und rührte sich nicht. »Wie zur Hölle hast du das gemacht?« fragte Hazel. »Ich will verdammt sein, wenn ich das wüßte«, erwiderte Owen. Sie traten vor und schlugen einen weiten Bogen um die Energiehälfte; dann standen sie über der zuckenden menschlichen Hälfte. Sie starb Stück für Stück, aber sie starb. Eingeweide und Organe waren aus der klaffenden Wunde an der Seite gefallen, und ein Blutschwall ergoß sich über den Bahnsteig, rann über die Kante und tropfte auf die darunter liegenden Schienen. Owen sah das Sterben des Halben Mannes mit gemischten Gefühlen. Er war sein Feind gewesen und das genaue Gegenteil von allem, an das Owen inzwischen glaubte, und es fiel Owen schwer, den Mann in ihm zu sehen, der von unaufhaltsamen äußeren Kräften in seine Rolle gedrängt und zu einer Legende gemacht worden war, die er niemals hatte sein wollen. Owen wußte genau, wie der Halbe Mann sich gefühlt haben mußte. Sein Leben war genauso verlaufen. Er kniete neben dem halben Körper nieder und nahm die zitternde Hand in die seine. Das Auge in dem halben Kopf war tief in die Höh-le eingesunken, doch jetzt öffnete es sich ein wenig und sah Owen an. Der Halbe Mann bemühte sich verzweifelt, etwas zu sagen, doch aus seinem halben Mund drang kein Ton. Owen beugte sich über das halbe Gesicht, aber da war der Halbe Mann bereits tot. Sanft löste er seine Hand aus dem Griff des Toten und stand wieder auf. »Was glaubst du, was er dir noch sagen wollte?« murmelte Hazel. » Geh zur Hölle oder etwas in der Art wahrscheinlich«, erwiderte Owen. »Er war schon immer ziemlich stur für einen Mann mit einem halben Gehirn .« Giles schlug Owen auf die Schulter, daß der junge Todtsteltzer unwillkürlich zusammenzuckte. »Gut gemacht, Verwandter. Für einen Historiker hast du dich verdammt gut geschlagen.« »Ein wenig Hilfe wäre nicht ungelegen gekommen«, entgegnete Owen vorwurfsvoll. »Warum habt ihr beiden nicht eingegriffen?« »Oh, das wäre unsportlich gewesen«, sagte Giles. »Und das konnte ich nicht zulassen.« »Vergiß den Sport«, brummte Owen. »Das hier ist Krieg.« »Und Krieg ist der großartigste Sport von allen«, konterte Giles . »Du bist der Historiker in der Familie. Du müßtest es eigentlich wissen.« »Sport ist es nur für die Sieger«, sagte Owen. »Nicht für die Verlierer, die Opfer, die Waisen und Witwen und die armen Bastarde, die gegen ihren Willen hineingezogen worden sind.« »Äh, Leute«, mischte sich Hazel unvermittelt ein, »ich glaube, wir haben da ein kleines Problem…« Sie drehten sich um und folgten ihrer ausgestreckten Hand. Die abgetrennte Energiehälfte stand noch immer da, wo Owen den Halben Mann geteilt hatte, aber ihre Umrisse waren in Bewegung geraten. Die glänzende Energiegestalt pulsierte und verschwamm und stieß an die Grenzen ihrer Form. Sie wurde zu etwas anderem, Differenzierterem, nun, da sie nicht mehr länger an ihre menschliche Form gebunden war oder von ihr beherrscht wurde. Die sich langsam ändernde Gestalt wurde von Minute zu Minute beunruhigender und fremdartiger, bis Owen gegen den Drang ankämpfen mußte, den Blick abzuwenden. Die Gestalt wurde zu einem Fremdwesen und noch mehr. Sie besaß Breite und Höhe und Tiefe und andere Dimensionen, die Owen mehr spürte, als daß er sie gesehen hätte. Die Erfahrung bereitete ihm Kopfschmerzen. Hazel feuerte mit ihrem Disruptor auf das Gebilde, und der Strahl prallte ab, ohne Schaden anzurichten. Das Energiewesen strahlte blendend hell, wie ein Loch in der Wirklichkeit, durch das irgendein unheilvoller Gott sein durchdringendes Licht sandte. Und dann war sie von einem Augenblick auf den anderen verschwunden, und die Erinnerung verblaßte auf Owens Netzhaut wie ein Alptraum, aus dem man endlich erwachte. Owen stieß dankbar die Luft aus. Er bemerkte, daß Hazel seinen Arm so fest umklammerte, daß es schmerzte. Hastig ließ sie ihn wieder los, und Augenblicke später hatte sie wieder ihre unnahbare Haltung zurückgewonnen. »Das war mal etwas anderes«, sagte sie ein wenig kurzatmig . »Hat irgendeiner von euch eine Idee, was zur Hölle wir gerade gesehen haben?« »Ein Problem aus der Zukunft«, sagte Owen. »Weil ich nämlich das dumpfe Gefühl habe, daß es eines Tages wiederkommen wird, zusammen mit den Fremdwesen, die es geschaffen haben. Möglicherweise haben wir nur eine Gefahr gegen eine andere ausgetauscht.« »Sollen sie nur kommen«, knurrte Giles. »Sollen sie nur alle kommen. Sie werden kein Gegner sein für das Imperium, das wir bis dahin geschaffen haben. Und jetzt laßt uns gehen. Wir wollen die Imperatorin schließlich nicht warten lassen.« Er stapfte los, und Owen und Hazel schlossen sich ihm an. Hazel wechselte einen Blick mit Owen. »Ich hasse es, wenn er nur so vor Selbstvertrauen zusprühen scheint«, sagte sie. »Er beschwört den Ärger geradezu herauf.« »Ich könnte es nicht besser formulieren«, stimmte Owen zu. »Aber wenigstens müssen wir uns nicht dauernd fragen, was er gerade macht, solange er vor uns geht.« »Und wenn das Schießen erst anfängt, können wir hinter ihm in Deckung gehen«, meinte Hazel. »Breit genug ist er ja.« »Ich kann jedes Wort hören«, sagte Giles vor ihnen. »Und bildet euch ja nicht ein, daß ich euch witzig finde.« »Selbst schuld«, erwiderte Hazel. »Das hast du davon, wenn du lauschst. Geh ruhig ein wenig schneller, oder ich trete dir in die Hacken.« »Ich frage mich, ob noch Zeit genug ist, um zurückzugehen und die Führer der Rebellion um andere Begleiter zu bitten«, sagte Owen mit Bedauern in der Stimme. Sie stürzten aus der purpurnen Sonne eines frühen Morgenhimmels herab: eine ganze Armada von schnellfliegenden Antigravschlitten. Es waren Tausende, und sie verdunkelten den Himmel. Einmannflieger mit frisierten Motoren für mehr Geschwindigkeit, bis zu den Zähnen bewaffnet mit angeschweißten Disruptoren und schweren Projektilwaffen mit langen Pa-tronenketten. Sie kamen sehr tief herein, ein gutes Stück unterhalb der normalen Abtastgrenze der Sensoren. Sie flogen über die Hauptstadt und in Richtung der Familientürme, und die Clans ahnten nicht, was auf sie zukam. Sie peitschten zwischen den hohen Gebäuden der Hauptstadt hindurch, stiegen und fielen mit den Auf- oder Abwinden und waren so schnell vorbei, daß die automatischen Waffensysteme auch nicht den Hauch einer Chance hatten, ihr Ziel zu erfassen. Tausende von Schlitten schossen über die Stadt hinweg, bemannt mit Espern und Klonen, mit Rebellen und allem und jedem, der Sehnsucht nach Gerechtigkeit im Herzen trug und den Willen, bis in die Hölle und zurück zu fliegen, um die Familien nach all der Zeit von ihren Sockeln zu stürzen. Sie flogen über die kämpfenden Massen in den Straßen, ohne sich in die Gefechte einzumischen. Ihre Mission war eine andere. Hin und wieder wurde von unten eine Waffe auf den Schwarm abgefeuert, doch die Schlitten waren klein und schnell und schwer zu treffen. Mächtige Imperiale Antigravbarken bemühten sich, den Angreifern den Weg abzuschneiden. Sie schwebten über dem Boden wie gewaltige Festungen; doch es gab nur wenige von ihnen, und die Schlitten rasten über und unter und rechts und links von ihnen vorbei und waren in Sekundenschnelle wieder verschwunden. Die lektronengesteuerten Feuerleitsysteme hatten kein einziges Ziel erfaßt. Zu unberechenbar war die Flugbahn der winzigen Schlitten. Niemand hatte je zuvor den Gedanken gehabt, Einmannschlitten auf diese Art einzusetzen – bis Jakob Ohnesorg gekommen war. Sie verdunkelten den Himmel und donnerten mit der Sonne im Rücken in Richtung der Türme: Eine Armee der Vergeltung auf Furienflügeln. Jakob Ohnesorg, Ruby Reise und Alexander Sturm führten den Angriff. Sie flogen Seite an Seite und hatten die Energieschirme der Schlitten zugunsten höherer Geschwindigkeit abgeschaltet . Der Fahrtwind zerrte an ihren Gesichtern und trieb ihnen die Tränen in die Augen, und die Kühle des frühen Morgens ließ sie trotz der Heizelemente in ihren Anzügen frösteln. Sie ignorierten die Kälte, so gut es ging, und konzentrierten sich ganz und gar auf das, was vor ihnen lag. Für Sturm und seine alten Knochen war es am schlimmsten. Er biß die Zähne zusammen, damit sie nicht klapperten, und hatte Mühe, nicht den Anschluß an Jakob und Ruby zu verlieren. Er wollte auf gar keinen Fall zurückbleiben. Ohnesorg sah auf die Hauptstadt hinunter und fand es schwer zu glauben, daß sein Kreuzzug ihn nach all den Jahren und den unzähligen Schlachten doch noch heim nach Golgatha geführt hatte. Heim und zu den Familien, die im Namen ihrer Privilegien und des Profits alles und jeden verkauften und manipulierten. Sie hatten ihn für vogelfrei erklärt und verbannt, und sie hatten ihr Bestes getan, um Jakob zu brechen und zu töten. Jetzt war er zurückgekehrt, um ihnen die Rechnung zu präsentieren. Und die Summe war in all den Jahren verdammt groß geworden. Jakob lachte laut; doch der Wind riß das Geräusch so schnell mit sich fort, daß Jakob es selbst hören konnte. Heute war der Tag, an dem das Imperium fallen würde, und Jakob würde helfen, es zu stürzen. Und wenn er es endlich auf den Knien hatte, würde er ihm in die Augen spucken und in die Zähne treten . Gnadenlos gab er Gas in dem Versuch, noch mehr Geschwindigkeit aus den Maschinen zu holen, doch der Schlitten hatte längst seine Sicherheitslimits überschritten . In der Ferne tauchten die ersten Türme auf. Jakob konnte es nicht erwarten, endlich dort zu sein. Inzwischen würden die Clans wissen, daß er auf dem Weg war. Sie würden ihre Verteidigungsanlagen aktiviert und die Zielsysteme justiert haben, um das Tempo und die Manövrierfähigkeit der Schlitten zu kompensieren. Sie würden ihn erwarten. Und Jakob gab einen verdammten Dreck darauf. Es war der Tag der Abrechnung. Fast wäre er wieder religiös geworden. Er grinste rauh, und der Wind zog seine Lippen zu einem wölfischen Zähneblecken auseinander. Es war ein guter Tag zum Sterben, aber nicht für Jakob. Er warf einen Seitenblick zu Ruby Reise. In ihrer schwarzen Lederkleidung mit dem weißen Fellumhang sah sie aus wie eine der Walküren aus der Legende. Ihr Gesicht blickte grimmig und entschlossen, und sie stand felsenfest auf ihrem bok-kenden Gefährt . Eine Walküre, die gekommen war, um die toten Helden nach Walhalla zu führen, ob sie das nun wollten oder nicht. Rubys Schlitten war bis zum letzten möglichen Gramm mit Waffen vollgeladen, von Wurfmessern über Granaten bis hin zu Disruptoren. Ruby gehörte zu der Sorte Mensch, die gerne gut vorbereitet war, wenn es zum Kampf kam. Sie sah sich um, bemerkte Jakobs Blick und grinste ihm zu. Sie war auf dem Weg zur größten Beute ihres Lebens oder in den Tod, was wahrscheinlicher war –, und doch hatte sie niemals glücklicher ausgesehen. Jakob erwiderte ihr Grinsen und drehte sich anschließend nach Sturm um, der auf der anderen Seite neben ihm flog. Der umsichtige alte Recke hatte sich an seinem Schlitten festgeschnallt, aber selbst jetzt schien er noch bei jeder unerwarteten Bewegung seines Fliegers zu zittern und zu schwanken. Seine lange weiße Mähne flatterte hinter ihm im Wind, und sein Blick war starr geradeaus gerichtet. Alexander war zu alt für diese Art von Mission, und jeder wußte es, einschließlich ihm selbst. Trotzdem hatte er darauf bestanden, mitgenommen zu werden, und Ohnesorg hatte es nicht über sich gebracht, nein zu sagen. Er verstand Sturms Bedürfnis, beim letzten Akt dabei zu sein, nachdem er den größten Teil seines Lebens dem Kampf gegen das Imperium gewidmet hatte. Also hatte Jakob den alten Burschen direkt neben sich geholt, wo er ein Auge auf ihn haben konnte. Im übrigen konnte er nur hoffen, daß Sturm durchhielt, und daß die Reflexe des alten Kämpfers ihn lange genug am Leben hielten, bis sie die Türme erreicht hatten. Eine ganze Reihe von Rebellen würde es nicht schaffen. Sie rechneten mit schweren Verlusten, wenn die Armada erst auf die Hauptverteidigung der Türme stoßen würde. Jeder wußte es, und trotzdem hatten sich alle freiwillig gemeldet. Sie wußten, daß nur die Einmannflieger schnell und wendig und klein genug waren, um an den Verteidigungsstellungen vorbei und in die Türme zu gelangen. Dorthin, wo die Familien sich so verdammt sicher fühlten . Bodentruppen hätten wahrscheinlich tagelang gegen die schwer bewaffneten und gut ausgerüsteten Verteidiger der Türme anrennen müssen . Sie hätten sich Stockwerk um Stockwerk den Weg nach oben bahnen müssen, um schließlich die Familien zu erreichen, die sich in den obersten Etagen verbarrikadiert hatten. Auf beiden Seiten hatte es gewaltige Verluste gegeben, und das alles ohne jede Garantie, daß die Familien am Ende nicht einfach ihre Türme aufgegeben und an einen sicheren Ort geflohen wären, bevor die Rebellen sie hätten gefangennehmen können. Antigravbarken auf der anderen Seite waren stark genug bewaffnet, um sich einen Weg freizuschießen; aber sie waren zu langsam und nicht wendig genug. Die Feuerkraft der Türme hätte ausgereicht, die Barken aus dem Himmel zu blasen, bevor sie auch nur nahe genug herangekommen wären, um wirklichen Schaden anzurichten. Esper konnten ebenfalls nichts ausrichten. Die Familien be-saßen unzählige ESP-Blocker. Und das waren auch die Gründe, warum sich die Familien beim ersten Anzeichen ernsthafter Auseinandersetzungen in ihre Türme geflüchtet hatten – die einzigen Orte, an denen sie sich relativ sicher fühlten. Und jetzt war Jakob gekommen, um sie eines Besseren zu belehren. Viele Jahre hatte er in den Schützengräben und Fuchsbauten unzähliger Schlachten darüber nachgedacht, wie er die Türme angreifen würde, hatte davon geträumt, was er tun würde, wenn es ihm endlich gelungen war, die Rebellion auf die Heimatwelt zu tragen. Er hatte über jedes einzelne Problem nachgedacht und jedes Detail sorgfältig ausgearbeitet, und jetzt war er hier und konnte seinen Traum Wirklichkeit werden lassen . Oder sterben . Tod oder Sieg. Und auch Jakob hätte nicht glücklicher sein können. Von den privaten Landefeldern der Türme starteten Antigravbarken und schwangen sich in den Himmel, um die Armada zu stellen . Die Barken waren mächtige, schwerfällige Schiffe mit massiver Panzerung und überlegener Feuerkraft; doch die Schlitten waren in Sekundenschnelle über ihnen und um-zingelten den Gegner. Sie schossen vor und zurück und kurvten um die langsamen Barken herum, und sie waren zu klein und viel zu schnell für die Zielrechner der großen Schiffe. Die Lektronen waren auf stationäre Ziele oder wenigstens Schiffe ihrer eigenen Größe programmiert. Von Sekunde zu Sekunde schossen mehr Schlitten an ihnen vorbei, und schließlich eröffneten die Barken das Feuer auch ohne Feuerleitlösung, und mächtige Disruptorkanonen feuerten Breitseiten in die dichtesten Ansammlungen von Schlitten. Die Armada zog sich augenblicklich auseinander; aber es waren so viele Schlitten, daß die Barken nicht ununterbrochen vorbeischießen konnten, und ohne schützende Energieschirme fielen getroffene Flieger sofort wie brennende Blätter vom Himmel. Innerhalb weniger Sekunden explodierten Dutzende der kleinen Schlitten, und Todesschreie hallten durch den Wind. Dann stürzten sich die Überlebenden der ersten Welle zwischen die Barken, so daß diese nicht mehr feuern konnten, ohne sich gegenseitig zu treffen. Sie wichen den kleineren Waffen aus und eröffneten das Feuer aus den eigenen Disruptoren. Zuerst waren es nur wenige Schlitten, und sie reichten nicht aus, um die Schilde der Barken zu beschädigen, doch schon nach kurzer Zeit kamen Hunderte hinzu, und ständig wurden es mehr. Sie kreisten um die Barken wie wütende Hor-nissen um einen Bären, und sie feuerten unablässig, bis sich ein Schild nach dem anderen überlud und ausbrannte, weil er die zahlreichen Treffer an so vielen Stellen gleichzeitig nicht mehr kompensieren konnte. Und dann fielen die Schlitten über die Barken selbst her. Ihre Waffen rissen durch ihre schiere Anzahl gezackte Löcher in die schweren Panzerungen, und weil das Feuer nicht aufhörte, wurden die Barken schließlich von inneren Explosionen erschüttert. Rauch quoll fett und schwarz durch die Einschußlöcher, und Flammen gesellten sich hinzu. Eins nach dem anderen kippten die Schiffe zur Seite und trieben hilflos im Wind davon, während sie langsam, aber unaufhaltsam Richtung Boden fielen. Die Armada aus Einmannschlitten hatte nur unbedeutende Verluste erlitten, als sie schließlich Barken hinter sich zurückließ und Kurs auf den ersten der pastellfarbenen Türme nahm, der groß und stolz in den frühen Morgenhimmel aufragte. Tausende von Schlitten verdunkelten den Himmel. Unausweichlich näherten sie sich den letzten Zufluchtsorten der Clans. Die Besatzungen der Türme warteten ab, bis die Angreifer in sicherer Schußweite waren, dann eröffneten sie das Feuer aus ihren eigenen Disruptorkanonen. Sie rissen tiefe Lücken in die Reihen der Armada. Schlitten taumelten in die Tiefe, verdrehte, zerrissene Metallwracks, die lange Fahnen aus Feuer und Rauch hinter sich her zogen. Die Mehrzahl flog einfach weiter. Später würde noch genug Zeit sein zum Trauern. Das Sperrfeuer der Türme riß immer und immer wieder breite Lük-ken in die anbrandenden Massen, und der Himmel war voll mit Blut, Schreien, Explosionen und Splittern, und noch immer stürmte die Armada voran. Jetzt war es zu spät zur Umkehr. Die Türme würden den Fliehenden in die Rücken schießen . Und so nah am Ziel machten auch Ausweichtaktiken keinen Sinn mehr. Also gaben die Flieger Vollgas und schossen auf die Türme zu wie Lenkraketen, angetrieben von Wut und Entschlossenheit und lebenslangem Leid. Ohnesorg führte noch immer, und Ruby Reise und Alexander Sturm waren noch immer an seinen Flanken. Ohnesorg schrie und brüllte jetzt alte Kampfschreie, und Hunderte von Kehlen hinter ihm nahmen seine Rufe auf. Vielen der Rebellen war allein Jakobs Name Schlachtruf genug. Heulend fielen die Rebellen über die Türme her, und der Morgen war erfüllt von ihren Rufen nach Rache und Vergeltung. Die Kanonen der Türme feuerten ununterbrochen. Sie schossen Schlitten um Schlitten ab, und auf allen Seiten stürzten schwarz verbrannte Trümmer in die Tiefe. Hunderte guter Männer und Frauen fanden den Tod, wurden zusammen mit ihren Fliegern zerfetzt und zerrissen, von Feuer verschlungen oder einfach von der Wucht naher Explosionen von ihren Schlitten geschleudert. Jakob, Ruby und Alexander führten den Angriff noch immer. Rings um die drei herum explodierten Schlitten und starben Rebellen. Die Thermik in der Nähe der Türme erfaßte die ersten Schlitten, und sie kurvten in wilden, gefährlichen Manövern herein. Hinter ihnen warfen Tausende weiterer Schlitten dunkle, unheilvolle Schatten auf die Türme. Hunderte Angreifer waren bereits gefallen, jeden Augenblick starben weitere; doch es waren noch immer viele Tausende, und sie ließen sich nicht abschrecken. Inzwischen waren die führenden Schlitten ganz nah. So nah, daß die Disruptorkanonen der Türme nicht mehr auf sie zielen konnten. Die Angreifer durchbrachen die Verteidigungsringe und nahmen Kurs auf die riesigen Stahlglasfenster der oberen Stockwerke. Ohnesorg glaubte, hinter den Scheiben erschrockene Gesichter mit vor Furcht weit aufgerissenen Augen zu sehen, und sein Herz wurde warm bei diesem Anblick. Er grinste noch immer, als ein Disruptorstrahl aus dem Turm der Chojiros seinen Schlitten traf. Jakob klammerte sich grimmig an den Konsolen fest, als der Schlitten unter ihm zu bocken begann. Dann explodierte das gesamte Armaturenbrett. Ohnesorg packte geblendet vom Blitz und den Flammen an den plötzlich toten Gashebel, und der Schlitten sackte unter ihm weg. Der Flieger stürzte wie ein Stein zu Boden und zog eine lange Rauchfahne hinter sich her. Ohnesorg sah, wie die Armada sich über ihm entfernte und ihn zurückließ. Er fluchte lästerlich und kämpfte mit den Überresten der Kontrollen. Jakob hatte keine Angst vorm Sterben. Er war viel zu wütend. Er war so weit gekommen und hatte soviel durchgemacht, und ausgerechnet jetzt sollte es zu Ende sein. Die Maschine des Fliegers hustete, und der Schlitten machte einen Satz. Fast hätte Jakob den Halt verloren und wäre herun-tergefallen. Er fauchte etwas Unverständliches und konzentrierte sich weiter auf die Kontrollen in dem Bemühen, die brennenden Überreste des Schlittens zu einem Wunder zu überreden. Und tatsächlich schien einer der Götter, die er angerufen hatte, seine Gebete zu erhören. Die Maschine des Schlittens erwachte stotternd zu neuem Leben. Sie klang rauh und unruhig, und der Schlitten schwankte und taumelte wild mal in die eine, mal in die andere Richtung; doch langsam, ganz allmählich wurde der unkontrollierte Absturz gebremst und endete schließlich ganz. Jakob Ohnesorg heulte und schrie und schüttelte triumphierend die Faust, und der Schlitten gewann wieder an Höhe. Er stieg an der Seite des Turms Chojiro empor, hinauf zu der wartenden Familie im obersten Stockwerk. Die Maschine drohte jeden Augenblick wieder zu versagen; doch Ohnesorg ließ es nicht so weit kommen. Er bediente die Kontrollen mit höchster Konzentration. Die Armada über ihm brandete noch immer wie unzählige dunkle, drohende und unaufhaltsame Schatten gegen die Türme an. Nach wie vor feuerten die Verteidiger, und in der Masse der Angreifer hatten sich große Lücken aufgetan, und trotzdem rückten die Schlitten weiter vor. Einige von ihnen hatten ihr Ziel schon erreicht. Sie schossen große Löcher in die Stahlglasfenster und krachten in die obersten Stockwerke der Türme. Truppen mit Schwertern und Disruptoren erwarteten sie dort; aber die erste Welle von Rebellen kämpfte tapfer und mit dem Mut wilder Verzweiflung. Sie wollten nicht sterben, bevor sie nicht für die Nachrückenden einen Brückenkopf gesichert hatten. Viele von ihnen starben trotzdem schon nach wenigen Augenblicken, überwäl-tigt von der schieren Übermacht der Verteidiger, doch ununterbrochen tauchten weitere Rebellen auf und erzwangen sich Meter für Meter ihren Weg in die Türme. Es war ein Kampf, den die Familien so niemals zu führen erwartet hatten. Nach dem Schlittenangriff der Wolfs auf den Turm der Feldglöcks hatten die meisten Familien ein paar zu-sätzliche Disruptorkanonen auf den Dächern montiert und Geld in eine Flottille von Antigravbarken investiert; doch noch nicht einmal in ihren kühnsten Träumen hatten sie sich vorgestellt, eines Tages derartige Massen von Angreifern abwehren zu müssen. Mehr und mehr Schlitten durchbrachen die Verteidigungsringe der Türme und die Fenster der oberen Stockwerke. Ohnesorg fluchte wehmütig, während sein Schlitten langsam höher stieg. Er hatte als einer der ersten in den Turm Chojiro eindrin-gen und den nach ihm Kommenden Rückendeckung geben wollen. Jakob Ohnesorg war ein Mann, der gewohnt war, seinen Truppen voranzugehen. Er wußte nicht, was aus Alexander Sturm oder Ruby Reise geworden war; doch er hatte jetzt auch nicht die Zeit, um über das Schicksal der beiden nachzudenken. Der Schlitten kroch die letzten paar Stockwerke empor und kam vor dem obersten Geschoß zum Stillstand. Ohnesorgs Magen krampfte sich zusammen, als er sich unvermittelt einem ganzen Dutzend auf ihn gerichteter Disruptoren gegenüber sah. Irgend jemand war durch eines der Stahlglasfenster gebrochen, doch er hatte offensichtlich nicht überlebt. Adrenalin schoß durch Jakobs Adern, und mit einemmal schien sich alles in Zeitlupe zu bewegen. Er hatte plötzlich alle Zeit der Welt, um die Situation zu analysieren und über das nachzudenken, was als nächstes zu tun war. Er vertraute dem halb zerstörten Schlitten nicht genug, um sich unter das Schußfeld der Disruptoren fallen zu lassen, und der Flieger war auch nicht mehr schnell genug, um hochzusteigen. Und wenn er seine letzten Augenblicke mit dem Versuch zubrachte, die Schutzschirme des Schlittens hochzufahren, nur um herauszufinden, daß sie nicht funktionierten, dann würden die Disruptoren nicht genug von ihm für eine Beerdigung übriglassen. Und so tat Ohnesorg das einzige, was zu tun blieb, während die Zeit wieder schneller abzulaufen begann. Er riß den Gasgriff des Schlittens bis zum Anschlag auf und krachte mit seinem Gefährt mitten zwischen die wartenden Wachen. Sie feuerten wild um sich, als er plötzlich zwischen ihnen war, und es war unausweichlich, daß einige Schüsse trafen. Der Schlitten explodierte, und Ohnesorg wurde in einer Flammen-wolke über das Armaturenbrett hinweg nach vorn geschleudert. Er segelte geblendet und mit brennenden Kleidern durch die Luft und versuchte verzweifelt, die Beine unter den Leib zu ziehen. Die Überreste des Schlittens explodierten erneut, und die Wachen verteilten sich hastig. Ohnesorg prallte heftig auf den teppichbedeckten Boden auf. Der Aufprall trieb ihm die Luft aus den Lungen. Er rollte sich zu einer Kugel zusammen und hoffte, daß der Rauch der Explosion ihm Deckung gab. Verzweifelt bemühte er sich, das Schwert und den Disruptor zu ziehen. Er hörte die Rufe der Wachen und das Knistern des Feuers über den Lärm des allgemeinen Durcheinanders hinweg, und dann krachten die Überreste des brennenden Antigravschlittens auf ihn herab und begruben ihn unter sich, und Jakob hörte nur noch das bösartige Brüllen der Flammen und spürte eine alles verzehrende Hitze. Die überlebenden Wachen riefen nach Verstärkung und be-kämpften die überall im obersten Stockwerk ausbrechenden Feuer. Die Familienmitglieder der Chojiro hatten sich bereits vor einiger Zeit in das darunter liegende Stockwerk zurückgezogen. Weitere Wachen trafen ein. Ein Teil half beim Löschen der Feuer, während die restlichen Wachen an den zerbrochenen Fenstern in Stellung gingen und die anstürmenden Schlitten unter Dauerbeschuß nahmen. Der Turm Chojiro hatte mehr Disruptorkanonen auf dem Dach als die meisten anderen, und für den Augenblick konzentrierten sich die angreifenden Schlitten auf die weniger gut verteidigten Türme. Eine Handvoll Wachen näherte sich vorsichtig dem brennenden Wrack von Jakobs Schlitten. Niemand konnte einen solchen Sturz und das Feuer überleben; doch die Wachen gingen kein unnötiges Risiko ein. Man hatte ihnen erstaunliche Dinge über einige der Rebellen erzählt. Einer der mutigeren von ihnen beugte sich über den Schlitten und stieß ihn neugierig mit der Schwertspitze an. Die Hitze des Feuers hinderte ihn daran, noch näher heranzutreten; aber er glaubte, unter dem Wrack eine verkohltes Bein zu sehen. Er stieß auch das Bein mit dem Schwert an und machte einen erschrockenen Satz nach hinten, als das Bein zuckte. Der Söldner beeilte sich, in die Reihen seiner Kameraden zurückzukehren, und plötzlich geriet das Wrack in Bewegung und kippte zur Seite. Irgend etwas darunter stand wieder von den Toten auf und befreite sich entschlossen von den Trümmern. Der brennende Schlitten überschlug sich, und eine schwarz verkohlte menschliche Gestalt tauchte darunter auf. Die Kleider waren versengt, und die ungeschützte Haut an den Händen und im Gesicht war rot und roh von den Verbrennungen. Doch die Gestalt stand hoch erhoben vor den Wachen, und die verbrannten Hände hielten Schwert und Disruptor sicher in ihrem Griff. Die Augen der Gestalt waren nur weiße Schlitze in einem schwarzen Gesicht. Plötzlich blitzten weiße Zähne in einem erschreckenden Grinsen. »Keine Angst, so leicht sterbe ich nicht«, sagte Jakob Ohnesorg. Die Wachen standen sekundenlang wie angewurzelt da, be-täubt vom Anblick eines Wesens, das längst hätte tot sein müssen und das sich statt dessen erhoben hatte und sie aufs neue herausforderte. Doch sie waren gut ausgebildete Turmwachen, und sie waren konditioniert, ihren Familien bis in den Tod zu dienen. Der Augenblick verging. Mit einem kalten Schulterzuk-ken schüttelten sie die Furcht ab und griffen mit erhobenen Schwertern an. Sie waren bereit, den verbrannten Geist in hundert Fetzen zu hauen. Davon würde er sich bestimmt nicht mehr erholen. Ohnesorg hob seinen Disruptor und zielte sorgfältig. Er schaltete drei Wachen mit einem einzigen Schuß aus. Sie starben schweigend; doch der Rest rückte unbeeindruckt vor. Ohnesorg schob seinen Disruptor zurück in den verkohlten Holster, packte das Schwert mit fester Hand und überlegte, wie viele der Angreifer er wohl mit in den Tod nehmen könnte, bevor sie ihn endgültig erwischten. Selbst Jakob Ohnesorg hatte seine Grenzen, und er spürte, daß er ihnen verdammt nah gekommen war. Der Absturz und das Feuer hatten ihn viel gekostet, und ihm blieb nicht genug Zeit, um sich zu regenerieren. Er hätte mit den Schultern gezuckt, wenn es nicht so geschmerzt hätte. Jakob hatte immer gewußt, daß er eines Tages alleine sterben würde. Überrannt von der letzten, endgültigen Übermacht seiner Feinde. Und das war der Augenblick, in dem Ruby Reises Stimme plötzlich in seinen Ohren dröhnte. »In Deckung, Jakob!« Er warf sich zu Boden, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, und mit einemmal war der Raum mit dem donnernden Krachen von Maschinengewehrfeuer erfüllt . Ruby hatte das Feuer aus der schweren Projektilwaffe eröffnet, die auf ihrem Schlitten montiert war. Der Flieger schwebte draußen vor dem zerschmetterten Fenster. Die Wachen zuckten und brachen zusammen, während sie von Kugeln durchsiebt wurden. Sie starben hilflos angesichts einer Waffe, auf die sie niemals vorbereitet worden waren. Nur wenige fanden Zeit, das Feuer zu erwidern. Sie richteten keinerlei Schaden an, und schon bald waren alle tot und lagen seltsam verrenkt in großen Lachen ihres eigenen Blutes auf dem teuren Teppich. Die Waffe verstummte, und die plötzliche Stille im Raum ließ Jakobs Ohren klingeln. Dichte Rauchschwaden trieben träge durch die Luft. Ruby riß die schwere Waffe aus ihrer Verankerung und sprang leichtfüßig durch das zerschmetterte Fenster . Sie eilte zu Jakob, der müde die Hand zum Gruß hob . Ruby starrte auf die verkohlte, halb rohe Hand und dann auf sein nicht minder entsetzlich zugerichtetes Gesicht. »Jakob… du siehst schrecklich aus.« »Danke für das Kompliment. Wahrscheinlich sieht es schlimmer aus, als es sich anfühlt – obwohl es sich wirklich verdammt schlimm anfühlt –; aber ich werde wieder gesund. Ich spüre, wie es heilt. Ich bin noch immer mit im Spiel.« Er warf einen Blick auf die schwere Projektilwaffe, die Ruby in den Armen hielt wie ein Kind. »Ich schätze, es war genau richtig, dieses Ding mitzubringen. Sieht aus, als würde es eine Menge Spaß machen.« Ruby kicherte. »Darauf kannst du deinen Hintern verwetten. Hier, halt mal.« Sie warf ihm das Maschinengewehr in die Ar-me und ging zielstrebig auf die Toten zu. Neben den ersten kniete sie nieder und durchwühlte mit professionellem Geschick seine Taschen. Ohnesorg runzelte die Stirn. »Ruby, was machst du da?« »Ich suche nach Wertsachen, warum? Kredits, Edelsteine, was eben so anfällt.« »Wir haben keine Zeit für so etwas!« »Dazu ist immer Zeit. Als ich mich dieser Rebellion angeschlossen habe, wurde mir soviel Beute versprochen, wie ich tragen kann, und das hier ist die erste Anzahlung. Obwohl ich zugeben muß, daß die Ausbeute ziemlich mager ist. Eine billige Bande. Morgen um diese Zeit habe ich den gesamten Turm durchsucht. Wenn es klein und wertvoll ist und wenn ich es irgendwie bei mir tragen kann, dann werde ich es mir holen.« Ohnesorg schüttelte traurig den Kopf und ging zur Treppe . Er dachte keine Sekunde daran, den Aufzug zu benutzen: sicher war er mit Fallen gespickt. Er hätte es genauso gemacht. Die Familie hatte sich wahrscheinlich ein Stockwerk tiefer verbarrikadiert. Zweifellos wurde sie von einer kleinen Armee von Beschützern verteidigt, Nicht, daß es irgend etwas genützt hät-te. Ohnesorg grinste wölfisch und spürte, wie die Haut auf seinem Gesicht riß. Er griff automatisch nach oben und betastete seinen Mund. Schwarze Stücke verbrannten Gewebes lösten sich ab. Jakob spähte in einen kleinen Spiegel an der Wand neben der Treppe. An den Stellen, wo sich die verbrannte Haut geschält hatte, wurde frisches neues Gewebe sichtbar. Er heilte. Er fühlte sich noch immer schrecklich; aber jetzt war nicht die Zeit, um sich darüber Gedanken zu machen. Er stieß die Tür zum Treppenhaus auf und spähte die hell erleuchtete Metalltreppe hinunter. Sie lag verlassen und still da. Nichts rührte sich. Ohnesorg grinste erneut. Ganz ohne Zweifel hielt der Clan Chojiro alle möglichen unangenehmen Überraschungen für ihn bereit . Trotzdem, sie würden ihn nicht aufhalten. Nichts und niemand würde ihn jetzt noch aufhalten, nicht alle bewaffneten Streitkräfte von Golgatha zusammen und auch nicht alle Beute der Welt. Er hatte sich den Turm Chojiro mit voller Absicht als Ziel gesucht. Jakob hatte seine Erfahrungen mit den verräterischen Machenschaften der Chojiros, und nun, da er endlich hier war, würde er sie allesamt schreiend zur Hölle schicken, egal was es auch kosten würde. Er rief scharf nach Ruby. Die Kopfgeldjägerin zog noch rasch ein paar Ringe von ein paar toten Händen, dann eilte sie herbei. Ihre Taschen waren ausge-heult von allen möglichen Wertsachen. Sie nahm die Projektilwaffe wieder an sich und hielt sie zärtlich in den Armen. Wenn das hier vorbei war, würde sie ein paar scharfe Worte mit Jakob wechseln . Erstens, weil er es gewagt hatte, in diesem Ton mit ihr zu reden, und zweitens, weil er sie beim Durchsuchen der Leichen unterbrochen hatte. Für den Augenblick gab sie sich allerdings damit zufrieden, ihm zu folgen, wohin auch immer. Sie übernahm auf Ohnesorgs Wink hin die Führung und setzte sich die Treppe hinunter in Bewegung . Ohnesorg folgte ihr dicht auf den Fersen. Sie waren nicht weit gekommen, als ein entschlossener Trupp persönlicher Leibgarden die Treppe hinaufkam, um ihnen entgegenzutreten. Ruby brachte das Maschinengewehr in Anschlag und eröffnete augenblicklich das Feuer. Ohrenbetäubender Lärm erfüllte das enge Treppenhaus; doch die Wachen hatten längst ihre persönlichen Schutzschilde eingeschaltet. Die hinteren Reihen hielten die Schilde über ihre Köpfe. Kugeln prallten harmlos von den Energiefeldern ab und flogen als Querschläger durch die Gegend. Ruby mußte das Feuer einstellen, um nicht zu riskieren, selbst getroffen zu werden. Sie ließ das Maschinengewehr fallen und riß das Schwert heraus in der Erwartung, die Wachen würden jetzt die Schilde abschalten und mit gezückten Schwertern angreifen. Doch nichts derglei-chen geschah. Die Wachen rückten unvermindert langsam und mit eingeschalteten Schilden vor. Sie blockierten die Treppe in ihrer ganzen Breite, und weil es keinen anderen Weg gab, zwangen sie Ruby und Jakob auf diese Weise zum Rückzug. Es war eine ebenso einfache wie wirkungsvolle Taktik. Ihr einziger Sinn bestand darin zu verhindern, daß die Rebellen zu der Familie vordrangen. Bei jedem anderen hätte diese Taktik wahrscheinlich funktioniert; aber Ruby und Jakob waren durch das Labyrinth des Wahnsinns gegangen. Sie faßten sich mental bei den Händen, vereinigten ihre Bewußtseine und sandten eine pyrokinetische Feuerwand die Treppe hinab. Das gesamte Treppenhaus wurde von so extremer Hitze erfüllt, daß die Metallsrufen und die Wände Blasen warfen. Die blendend weißen Flammen leckten um die Schutzschilde der Wachen herum und wirbelten sie beiseite. Innerhalb von Sekundenbruchteilen brannten sämtliche Wachen. Nur wenige fanden Zeit zu schreien, und noch weniger wandten sich zur Flucht; doch das Feuer war überall, und als es schließlich wieder verschwand, waren alle tot. Die Treppe war überfüllt mit verkohlten Leichen und dem schweren, erstickenden Gestank von verbranntem Fleisch. Ruby und Jakob unterbrachen ihre mentale Verbindung und blickten leidenschaftslos auf ihr Werk. Sie verschwendeten keinen Gedanken mehr an Gnade oder Mitleid. Ruby zuckte vor der Hitze zurück und starrte mißmutig auf die verbrannten Körper, die den Weg nach unten versperrten. »Ich schätze, wie müssen sie beiseite schaffen, bevor wir weitergehen können«, brummte sie. »Vielleicht hätten wir lieber zulassen sollen, daß sie fliehen.« »Auf keinen Fall«, widersprach Ohnesorg. »Ein Feind, den man fliehen läßt, ist ein Feind, der irgendwann zurückkehren wird. Laß uns anfangen. Diese vielen Hindernisse machen mich richtig ungeduldig.« Ruby zog ein Paar Handschuhe über und machte sich daran, die verkohlten Leichen beiseite zu räumen. Sie rümpfte die Nase ob des Gestanks, doch Ohnesorg schien ihn nicht einmal zu bemerken. Er hatte schon Schlimmeres gerochen. Dicke schwarze Flecken lösten sich von seinem Gesicht und seinen Händen, während er arbeitete, und darunter kam junge, rosige Haut zum Vorschein. Als er angefangen hatte zu arbeiten, hatte er noch ausgesehen wie die Leichen, die sie beiseite räumten; aber als sie schließlich damit fertig waren, sah er schon fast wieder aus wie der alte. Seine Kleidung war natürlich immer noch ruiniert, aber das war eben nicht zu ändern. Sie schafften gerade den letzten Leichnam beiseite, als ein einzelnes Paar Schritte eilig von oben die Treppe herunter kam. Ruby brachte rasch ihr Maschinengewehr in Anschlag, und Ohnesorg zog seinen Disruptor. Sie postierten sich Rücken an Rücken und hielten beide Seiten der Treppe im Auge – nur für den Fall, daß die Schritte eine Finte waren, um ihre Aufmerksamkeit vom eigentlichen Angriff abzulenken. Die Schritte schienen Ewigkeiten zu benötigen, um näherzukommen, und dann bog Alexander Sturm um die Ecke des Treppenabsatzes. Er blieb überrascht stehen, blinzelte und grinste dann auf das Maschinengewehr, mit dem Ruby auf ihn zielte. »Wärt Ihr ein Mann, Ruby Reise, könnte ich jetzt eine sehr verletzende Bemerkung über Euer Bedürfnis fallen lassen, eine so große Waffe zu tragen«, sagte er schließlich gelassen. »Aber da Ihr kein Mann seid, spare ich mir die Mühe.« Ruby wechselte einen Blick mit Ohnesorg. »Hat er gesagt, was ich glaube, daß er gesagt hat?« »Laß uns später darüber reden«, wich Ohnesorg diplomatisch aus. Er senkte seinen Disruptor und grinste Sturm an. »Wurde auch allmählich Zeit, daß du auftauchst. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, was dich so lange aufhält.« »Der Verkehr war mörderisch«, entgegnete Sturm. Er sog die Luft ein und verzog das Gesicht. »Wie ich sehe, habt ihr wieder einmal die Hölle heraufbeschworen.« »Wir tun nur, was getan werden muß«, erwiderte Ohnesorg. »Komm hinter uns her, Alexander. Wir sind den Chojiros dicht auf den Fersen. Ich kann es spüren.« »Ja«, sagte Ruby. »Es ist soweit. Das Schicksal erwartet die Chojiros. Die Zeit der Rache ist gekommen« »Du hast schon wieder Gruselromane gelesen«, sagte Ohnesorg und rümpfte die Nase. Sturm grinste. »Ach, sie kann tatsächlich lesen? Das wußte ich noch gar nicht.« »Rede nur weiter so, Sturm«, knurrte Ruby. »Auf dem Grill ist noch Platz.« »Mein Gott, das ist ja wie im Kindergarten!« sagte Ohnesorg. »Haltet endlich den Mund, alle beide, und folgt mir. Wir wollen die Chojiros nicht unnötig warten lassen.« Er setzte sich in Bewegung. Ruby folgte dicht hinter ihm. Sturm hüllte sich eng in seinen Umhang, um sich vor der Hitze zu schützen, die nur langsam abnahm; dann ging er den beiden hinterher . Sie bewegten sich vorsichtig voran, doch sie trafen auf keinen weiteren Widerstand mehr. Keine Soldaten, keine Fallen. Nichts als die Metalltreppe, die vor ihnen nach unten führte. Ohnesorg wurde von Sekunde zu Sekunde mißtrauischer. Er umklammerte das Schwert und den Disruptor so heftig, daß seine Finger schmerzten. Das war nicht der Clan Chojiro, den er in Erinnerung hatte. Die Chojiros, die er kannte, hatten für jede mögliche Bewegung eine Falle, für jeden Schritt eine Fußangel und Schicht um Schicht aus Verrat und Betrug um sich herum errichtet. Und wenn alles so unerwartet leicht ging, konnte das eigentlich nur bedeuten, daß die Chojiros ihn bereits erwarteten. Daß sie wollten, daß er bis zu ihnen vordrang. Und das wiederum konnte nur bedeuten, daß ihn eine wirklich bösartige und vernichtende Überraschung erwartete. Ohnesorg grinste sein wölfisches Grinsen. Es spielte keine Rolle, was sie für ihn bereithielten. Nichts würde ihn jetzt noch aufhalten . Sie erreichten den Fuß der Treppe und näherten sich vorsichtig der nackten Metalltür, die zur nächsten Etage führte. Alles war still und leise. Ruby spähte über das Geländer in die Tiefe, für den Fall, daß dort Wachen auf der Lauer lagen, doch das Treppenhaus lag leer und verlassen, soweit das Auge reichte. Ohnesorg untersuchte die Tür und die umliegende Wand sorgfältig, aber er konnte keine Falle entdecken. Er war ziemlich sicher, daß ihm alles Verdächtige aufgefallen wäre; trotzdem fühlte er sich erleichtert, als er schließlich den Türgriff langsam drehte und die Tür einen Spalt weit aufschob und nichts geschah. Er winkte Ruby zu sich, und sie glitt lautlos und mit schußbereitem Maschinengewehr neben ihn. Ohnesorg zählte in Gedanken bis drei, und beide warfen sich gemeinsam gegen die Tür und stürmten in die darunterliegende Etage. Sturm folgte ihnen auf dem Absatz. Ein rascher Blick in die Runde zeigte Ohnesorg, daß keine Wachen auf sie warteten. Nirgendwo waren Fallen zu erkennen. Nichts, außer einem Mann und einer Frau, die beieinander standen und mit demonstrativ leeren Händen darauf warteten, die drei Besucher zu begrüßen. SB Chojiro und Gregor Shreck. SB war eine kleine Puppe von einer Frau. Sie besaß langes schwarzes Haar und scharf geschnittene orientalische Gesichtszüge. Sie trug einen Kimono aus hellem Purpur, der an den richtigen Stellen eng gebunden war. Ohnesorg konnte sich oh-ne Schwierigkeiten vorstellen, warum Julian Skye sich einst in sie verliebt hatte. Der Shreck auf der anderen Seite war ein gedrungener Fettklops von Mann mit aufgedunsenem Gesicht und kleinen tückischen Augen. Ein gefährlicher, hinterhältiger, trickreicher und nachtragender Mann – jedenfalls nach allem zu urteilen, was Jakob so von ihm gehört hatte. Ohnesorg trat langsam vor und blieb außer Reichweite der Chojiro oder des Shrecks stehen. Ruby und Sturm traten rechts neben ihn. Sie hatten die Waffen im Anschlag . SB Chojiro verneigte sich tief vor den drei Rebellen. Der Shreck zwang sich zu einem steifen Nicken. »Wer zur Hölle sind diese Leute?« fragte Ruby, ohne sich die Mühe zu machen, ihre Stimme zu dämpfen. »Ich wünschte wirklich, du hättest regelmäßig an den Besprechungen teilgenommen«, sagte Ohnesorg, ohne die beiden vor sich aus den Augen zu lassen. »Die Frau ist die Sprecherin der Chojiros, wenn es um Verhandlungen und ähnliche Dinge geht. Außerdem gehört SB Chojiro zum Schwarzen Block, obwohl wir das eigentlich nicht wissen dürften.« »Vielleicht will sie mit uns über die Kapitulation ihres Clans verhandeln«, sagte Sturm. Ruby runzelte die Stirn. »Würdest du sie akzeptieren, Jakob?« »Nicht in tausend Jahren«, erwiderte Ohnesorg mit einer Stimme, die so kalt und emotionslos war wie der Tod. »Die Chojiros haben nichts, das ich so dringend wünsche wie ihren Untergang . Aber den alten Shreck solltest du wirklich erkennen, Ruby Gregor Shreck, der oberste Schleimball eines völlig heruntergekommenen Clans . Wenn es ihm paßt, spielt er den Rebellen, aber er ist immer und in erster Linie eins der Familienoberhäupter .« »Ist das der Onkel von Tobias?« »Ganz genau der.« »O ja. Dann habe ich allerdings schon von ihm gehört. Wir werfen Münzen, wer als erster auf ihn einhacken darf, ja?« »Aber nicht mit deiner Münze«, widersprach Ohnesorg . »Ich weiß, daß es eine Spezialanfertigung ist.« »Falls wir am Ende wirklich verhandeln sollten, dann überlaßt das Reden bitte mir«, sagte Alexander Sturm. »Ihr beide redet euch sogar noch aus einem Lotteriegewinn heraus. Ich habe Erfahrung in diesen Dingen.« »Es wird keine Verhandlungen geben«, sagte Ohnesorg entschlossen. »Ich habe so lange gewartet, um den Clan Chojiro zu Fall zu bringen. Der Shreck ist nur ein zusätzlicher Bonus.« »Laßt sie wenigstens reden«, sagte Sturm. »Was kann es schaden?« »Vielleicht verraten sie uns ja, wo sich die restlichen Chojiros verstecken«, meinte Ruby. »Oder noch besser, wo sie ihre Wertsachen versteckt haben.« Ohnesorg nickte knapp. SB Chojiro lächelte ihre drei Besucher charmant an. Sie beeindruckte keinen damit; doch sie hielt ihr Lächeln aufrecht. »Willkommen, verehrte Gäste«, sagte sie. »Bitte entschuldigt unsere frühere bewaffnete Verteidigung. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Familien noch kein Einverständnis über die bestmögliche Vorgehensweise erzielt, und sie verspürten das Be-dürfnis, sich zu schützen, solange die Gespräche andauerten . Ich bin glücklich, Euch darüber informieren zu können, daß die Gespräche zu einem Ende gekommen sind. Ich bin ermächtigt, im Namen aller Clans zu sprechen. Der Shreck befindet sich bei mir, um meine Worte zu bestätigen. Um es kurz zu machen: Wir wünschen uns zu ergeben.« Ohnesorgs Unterkiefer fiel nur ein kleines Stück herunter. Alles hatte er an diesem Tag erwartet, aber nicht das. »Was denn?« fragte er ungläubig. »Alle Familien wollen sich ergeben?« »Ich spreche für jeden Clan im gesamten Imperium«, sagte SB Chojiro. »Wir vermögen keinen Sinn in einem fortgesetzten bewaffneten Konflikt zu erkennen.« »Laß dich nicht von ihr einlullen«, warnte Ruby. »Vergiß nicht, aus welchem Grund wir hergekommen sind. Sie will dich nur ablenken.« »Unsere Kapitulation ist selbstverständlich von einigen zu er-füllenden Bedingungen abhängig«, fuhr SB Chojiro ungerührt fort. »Das klingt schon eher nach den Clans«, brummte Alexander Sturm. »Die Familien sind damit einverstanden, ihre Titel und die damit verbundenen Privilegien aufzugeben«, sagte SB Chojiro gelassen. »Als Gegenleistung verlangen sie ihr Überleben. Im Grunde genommen läuft es darauf hinaus, daß die gesamte Aristokratie verschwinden wird. Die Konzerne verbleiben im Besitz der Familien. Die Clans werden weiterhin ihren Geschäften nachgehen, aber sie werden sich nicht mehr an der Regierung des Imperiums beteiligen. Eine wirklich ziemlich einfache Vereinbarung, nicht wahr? Ihr ruft Eure Kriegshunde zurück und garantiert unsere Sicherheit, und wir ziehen uns aus der Politik zurück. Wir sind nicht so blind, daß wir nicht erkennen, wann die alte Ordnung am Ende ist und eine neue beginnt. Ist es nicht genau das, was Ihr Euch immer gewünscht habt, Jakob? Das Ende der etablierten, vererbten Macht innerhalb des Imperiums?« »Wie können wir wissen, daß Ihr für sämtliche Familien sprecht?« fragte Ohnesorg . »Ihr seid Euch doch noch nie über irgend etwas einig gewesen.« »Ich gehöre zum Schwarzen Block«, erwiderte SB Chojiro. Sie lächelte noch immer. »Keine der Familien ist mächtiger als der Schwarze Block.« »Meine Güte«, sagte Ruby. »Ich dachte immer, der Schwarze Block sei nichts weiter als ein Mythos. Junge Mitglieder der Familien, die auf Loyalität bis in den Tod und darüber hinaus konditioniert werden, nicht wahr? Sie haben alles und jedes infiltriert und warten im Verborgenen . Die letzte Waffe der Familien gegen die Löwenstein. Und du gehörst zu diesem Schwarzen Block?« »Ganz genau«, erwiderte die Chojiro. »Doch im Laufe der Jahre wurde der Schwarze Block zu mehr als dem, wozu er ursprünglich gedacht war. Unsere Loyalität gilt nun dem Schutz und dem Überleben aller Familien und nicht nur der Clans, die den Schwarzen Block ins Leben gerufen haben. Es kam für einige Oberhäupter der Clans ein wenig überraschend, zugegeben, aber sie begriffen rasch die neuen Möglichkeiten, die sich daraus ergaben. Ganz besonders, als wir diesen Plan vorschlugen, um das Überleben der Familien zu sichern. Allerdings mußten einige der Clanoberhäupter ein wenig intensiver überzeugt werden. Sie fühlten sich in ihren uralten Türmen unendlich sicher; aber Euer unerwarteter Angriff und Eure brillante Strategie änderten alles, Jakob. Als Eure Truppen unsere Verteidigungen durchbrachen und in die obersten Stockwerke der kostbaren Türme eindrangen, war es tatsächlich erstaunlich, wie rasch auch die letzten Zauderer ihre Meinung änderten und uns baten, mit Euch in Verhandlungen zu treten. Stimmt es nicht, Gregor?« »Fahrt fort«, grollte der Shreck . »Nur weil eine Sache notwendig ist, bedeutet das noch lange nicht, daß ich mich vor Rebellenabschaum beuge. Ihr habt nicht gewonnen, Ohnesorg, und wir haben nicht verloren. Eine Pattsituation. Ihr könntet zu Eurem ursprünglichen Plan zurückkehren und weiter versuchen, uns zu stürzen, aber ich schwöre Euch, wir kämpfen bis zum letzten Überlebenden in jedem einzeln Clan, und wir werden dafür Sorge tragen, daß die meisten Eurer Leute ebenfalls dabei draufgehen. Sicher, Ihr könnt gewinnen, aber es würde Tausenden Eurer Leute das Leben kosten. Was sagt Ihr jetzt, Ohnesorg? Ist Euer Bedürfnis nach Rache den Tod so vieler Eurer Anhänger wert? Vor allem dann, wenn Ihr sie und den Tag mit einem einzigen Wort retten könnt?« »Ich weiß es nicht«, sagte Ohnesorg. »Vielleicht . Solange Typen wie Ihr am Leben sind und ihrer gerechten Strafe entgehen, solange war die gesamte Rebellion umsonst. Und all die vielen, die auf dem Weg hierher gestorben sind, wären dann für nichts gestorben. Das System muß fallen, und Ihr seid ein Teil des Systems.« »Falls wir untergehen, fällt nicht nur das System«, sagte Gregor. Um seine Lippen spielte ein böses Grinsen. »Bisher kennt Ihr nur die halbe Wahrheit. Jetzt kommt der Rest: Solltet Ihr das Angebot ablehnen, setzen wir unsere gesamte finanzielle Macht ein, um die wirtschaftliche Basis des Imperiums zu zerstören. Wir sind dazu in der Lage. Wir setzen unsere Lektronen ein, um das Bankensystem so gründlich zusammenbrechen zu lassen, daß es Jahrhunderte braucht, um sich wieder zu erholen. Und seit dem Angriff Eures Freundes Owen Todtsteltzer auf die Steuerbehörde sind die Geldmärkte bereits ange-schlagen. Es kostet nicht mehr viel, ihnen den Rest zu geben. Alles Geld würde wertlos. Jeder Kredit würde sich in Luft auflösen. Handel wäre unmöglich. Die Planeten wären voneinander abgeschnitten. Millionen würden verhungern, und weitere Millionen würden wegen der verbliebenen Krümel gegeneinander kämpfen. Was wäre dann aus Eurer glorreichen Rebellion geworden, Ohnesorg? Zerstört uns, und wir zerstören die Menschen, für deren Rettung Ihr so lange gekämpft habt.« »Könnten sie das wirklich?« wandte sich Ruby an Ohnesorg. »Könnten die Familien wirklich so etwas zustande bringen?« »O ja«, sagte Jakob. »Und es entspricht genau ihrer Art und Weise zu denken .« »Die Ordnung der Dinge ändert sich«, sagte SB Chojiro, »aber wir bestehen fort. Und wir haben einer neuen Regierung sehr viel anzubieten.« »Noch ist die Rebellion nicht vorbei«, erwiderte Sturm nachdenklich. »Die Imperatorin ist noch längst nicht geschlagen.« »Die Imperatorin ist wahnsinnig«, sagte der Shreck. »Wir erkennen die Zeichen der Zeit, ganz besonders, wenn sie mit Blut geschrieben werden. Treffen wir nun ein Abkommen oder nicht? Solange wir hier stehen und reden, sterben auf beiden Seiten unnötig Menschen. Nicht, daß ich einen Dreck darauf geben würde, aber Euch ist das doch ganz bestimmt nicht egal. Entscheidet Euch, Ohnesorg. Wir wissen, daß der Untergrund sich an Eure Entscheidung gebunden fühlen wird.« »Hör nicht auf ihn, Jakob«, drängte Ruby Reise. »Wir sind nicht bis hierher gekommen, um so dicht vor dem Ziel aufzugeben. Wir können die Familien stürzen, genau wie du es immer gewollt hast.« »Du hast selbst gehört, welchen Preis wir dafür zu zahlen hätten«, entgegnete Ohnesorg. »Ich habe immer für das Wohl der Menschen gekämpft, nie für meine eigenen Wünsche. Welchen Sinn hat es, ein Imperium zu stürzen, wenn wir nur noch Asche haben, um darin zu leben? Die Bedürfnisse der Menschen kommen an erster Stelle. Wenn ich ihre Zukunft um meiner eigenen Rache willen aufs Spiel setze, dann wird alles, wofür ich jemals gekämpft habe, zu einer Lüge. Wer weiß – wenn wir die Familien aus der Politik ausschließen, können wir sie vielleicht sogar… zivilisieren.« »Und was ist mit den Chojiros?« begehrte Ruby erhitzt auf. »All die Schwüre, die du abgelegt hast, sie zu töten und auf ihre Gräber zu pinkeln? Bedeuten sie denn gar nichts mehr?« »Ich habe mehr Grund, die Chojiros zu hassen, als du dir jemals vorstellen kannst«, erwiderte Ohnesorg kalt. »Ich wünsche mir so sehnlich ihren Tod, daß ich mein Leben für eine Chance opfern würde, sie allesamt mit Stumpf und Stiel auszulöschen. Aber ich werde und kann keine unschuldigen Leben für meine alten Wunden opfern. Außerdem… vielleicht ergibt sich ja noch die Gelegenheit zu einer kleinen privaten Vendetta, sobald die Rebellion erst vorüber ist.« »Sicher«, sagte SB Chojiro. Sie lächelte noch immer. »Der Clan Chojiro war immer ein Befürworter der ehrenvollen Tradition der Vendetta.« »Also stimmt Ihr unserem Angebot zu?« erkundigte sich der Shreck. »Ja, verdammter Kerl!« fauchte Ohnesorg . »Ja, wir stimmen zu. Ruft Eure Leute zurück, und ich lasse den Angriff abblasen. Bleibt in den Türmen, bis die Rebellion vorbei ist, und wir verhandeln später über die Einzelheiten. Und bevor Ihr fragt: Nein, ich werde Euch nicht die Hand schütteln. Ich brauche meinen letzten Rest von Selbstachtung.« »Ich glaube das einfach nicht!« fluchte Ruby und trat einen Schritt zurück, so daß sie alle mit ihrer Waffe in Schach halten konnte. »Ich habe gar nichts zugestimmt! Du verrätst die Rebellion, Jakob! Du verrätst jedes verdammte Versprechen, das du jemals abgegeben hast. All die Dinge, die du zu mir gesagt hast, all die Dinge, die ich dir glauben sollte, und jetzt, wo der Tag der Abrechnung endlich da ist, triffst du Abmachungen mit dem Feind!« »Das nennt sich Politik, Liebling«, sagte Ohnesorg. »Manchmal ist der Preis zu hoch, den man für seine Ideale zahlen muß . Und wenn ich mit dieser Abmachung leben kann, dann kannst du das auch .« »Du bist als Aristo zur Welt gekommen!« schimpfte Ruby »Und in deinem Herzen bist du immer noch ein verdammter Aristo, trotz allem! Von mir aus triff deine Vereinbarung mit den Familien, Jakob. Aber ich werde dir nie wieder auch nur ein einziges Wort glauben.« Und am Ende war es genauso einfach, wie es sich angelassen hatte. Die Nachricht wurde verbreitet, die Armada der Schlitten brach den Angriff auf die Türme ab, und auf beiden Seiten schwiegen die Waffen. Viele Rebellen schrien noch immer laut nach Rache, sowohl für ihre gefallenen Kameraden, als auch für die Unzähligen, die im Laufe der Jahrhunderte unter den Füßen der Familien zertrampelt worden waren; doch am Ende ließen sie sich von Zuckerbrot und Peitsche überzeugen. Außerdem war es, wie Ohnesorg schon festgestellt hatte: Niemand hatte die spätere Möglichkeit einer privaten Vendetta ausge-schlossen… Etwas Gutes hatte die getroffene Vereinbarung dann doch noch: Valentin Wolf vertraute nicht darauf, daß er in Sicherheit war, nach allem, was er getan hatte, und so floh er aus dem Turm Wolf und suchte am Hof der Löwenstein Zuflucht. Indem er den Turm verließ, brach er die Abmachungen und machte sich selbst zu einem legitimen Ziel für jeden, der Lust hatte, ihn zu jagen. Allmählich strömten auch die Zivilisten in ihre Stadt zurück. Sie spürten, daß das Schlimmste ausgestan-den war. Sie jubelten den Rebellen zu und forderten den Sturz der Eisernen Hexe. Sie rissen ihre Statuen um und spuckten darauf; sie steckten öffentliche Gebäude in Brand und stürmten durch die Straßen. Die Aussicht auf Freiheit machte sie trunken vor Freude. Der Untergrund mußte die Menschenmassen von den Kampfschauplätzen weg dirigieren, um die wachsende Begeisterung und die zunehmenden Plünderungen unter Kontrolle zu halten, und das tat seiner allgemeinen Popularität einen gewissen Abbruch. Aber damit konnte und mußte man leben. Jetzt gab es wichtigere Dinge, über die es nachzudenken galt. Die Führer der Bewegung wußten, daß der Krieg nicht vorüber war, solange die Löwenstein noch warm und sicher in ihrem Stahlbunker tief unter der Oberfläche saß, weit weg von den Kämpfen. SB Chojiro und Gregor Shreck hatten den Turm Chojiro verlassen, um ihren Leuten die gute Nachricht zu verkünden. Ru-by Reise, Alexander Sturm und Jakob Ohnesorg waren allein zurückgeblieben. Jakob Ohnesorg hatte sich bereits mit dem Untergrund in Verbindung gesetzt und sie über seine Vereinbarung mit den Familien informiert, und jetzt dachte er angestrengt über all die möglichen Fußangeln nach, um sicherzugehen, daß er am Ende nicht doch noch einen schrecklichen Fehler begangen hatte. Ruby stapfte voll stiller Wut auf und ab. Sie trat gegen das Mobiliar und stopfte sich alles Helle und Glitzernde in die Taschen, das einigermaßen wertvoll aussah. Sturm beobachtete die beiden eine Weile und schwieg. Schließlich drehte Jakob Ohnesorg sich zu ihm um und entdeckte einen merkwürdigen Ausdruck auf Alexanders Gesicht. »Was ist los, alter Freund?« fragte er. »Die Rebellion ist vorbei, trotz aller Unkenrufe.« »Nein«, widersprach Sturm. »Die Rebellion ist nicht vorbei, solange die Imperatorin noch auf dem Eisernen Thron sitzt. Sie hat jede nur erdenkliche Unterstützung. Waffen, Menschen, Geheimnisse, von denen der Untergrund noch nicht einmal etwas ahnt. Sie kann noch immer alles zu ihren Gunsten entscheiden, und die Menschen in den Straßen würden ihren Sieg genauso laut bejubeln, wie sie jetzt nach ihrem Kopf schreien. Die Löwenstein wußte von Anfang an, daß ein Tag wie dieser irgendwann kommen konnte. Glaubst du allen Ernstes, die Familien wären die einzigen, die den vollständigen Untergang herbeiführen können?« »Wenn die Eiserne Hexe noch irgendwelche letzten häßlichen Überraschungen für uns hätte, wären sie längst zum Einsatz gekommen«, sagte Ruby Reise. »Ist es das, was dich so aus der Fassung bringt?« fragte Ohnesorg. »Vergiß es, Alexander. Ruby hat recht. Nun mach schon ein fröhlicheres Gesicht. Ich habe dich noch nicht ein einziges Mal lächeln sehen, seit wir hier sind.« »Sie kamen zu dir, um den Waffenstillstand auszuhandeln«, sagte Sturm. »Nicht zu mir. Und das, obwohl ich offiziell den Untergrund vertrete. Sie vertrauten deinem Wort, nicht meinem. Mag sein, daß das nur eine Kleinigkeit ist, aber sie bringt das Faß endgültig zum Überlaufen.« Er bedachte Ohnesorg mit einem fast hilflosen Blick. »Und trotzdem wird es schwerer, als ich ursprünglich gedacht habe.« »Wovon redest du?« fragte Ohnesorg. »Sieh mal, wenn du irgendwas zu sagen hast, dann spuck es aus! Ich habe keine Zeit, mir auch noch über deine verletzten Gefühle Gedanken zu machen!« »Zeit«, sagte Sturm. »Das alles hat etwas mit Zeit zu tun. Die Zeit stiehlt uns unser Leben, Tag um Tag, und wir erkennen erst, wieviel wir verloren haben, wenn es zu spät ist. Wir beide, du und ich, wir kämpften viele Jahre lang Seite an Seite, und wofür? Für nichts. Wir gaben unsere Jugend auf, alle Chancen auf eine Frau und Kinder und ein Zuhause und ein ganz normales glückliches Leben, und alles für einen Traum, der niemals Wirklichkeit wurde. Als wir anfingen, da hast du mir Macht und Erfolg und den Sieg über unsere Feinde und Gerechtigkeit für alle versprochen, und ich habe niemals auch nur einen Teil von alledem gesehen. Nur harte Kämpfe und ein noch härteres Leben, kaltes Essen und schlechter Schnaps und eine verlorene Schlacht nach der anderen. Wir sind von Welt zu Welt geflohen, und wir hatten nichts vorzuweisen außer immer mehr toten Freunden und neuen Narben auf der Haut. Und das war mein ganzes Leben mit Jakob Ohnesorg.« »Aber das ist jetzt vorbei!« sagte Jakob. »Wir sind weitergezogen. Die Dinge haben sich verändert. Wir haben uns verändert…« »Genau«, sagte Sturm. »Wir sind alt geworden, und du bist wieder jung. Das hat mir den Rest gegeben, Jakob. Ich hätte es ertragen, wenn die Zeit uns beiden gleichermaßen mitgespielt hätte; aber du hast ein neues Leben geschenkt bekommen und ich nicht. Du hattest recht, Jakob. Es ist immer Zeit für eine kleine persönliche Vendetta. Ich danke dir, daß du mir geholfen hast, diese Sache zu durchdenken. Du hast es mir damit sehr viel leichter gemacht, Jakob. Und jetzt, Jakob: Kode Null Null Rot Zwo.« Jakob Ohnesorg zuckte zusammen. Sein Rücken bog sich durch, als wäre er von hinten getroffen worden. Er sank in die Knie und versuchte, etwas zu sagen; doch sein Mund zuckte nur unkontrolliert. Ruby hastete zu ihm und kniete vor ihm nieder . Sie hielt seine zitternden Hände in den ihren. »Jakob, was ist los? Jakob!« »Er kann dich nicht hören«, sagte Sturm mit leisem Bedauern in der Stimme. »Als die Hirntechs ihn in ihren widerlichen Fingern hatten, vor noch gar nicht allzu langer Zeit, da ergriffen sie die Vorsichtsmaßnahme, bestimmte Kontrollworte in sein Unterbewußtsein einzupflanzen. Nur für den Fall, verstehst du, daß ihm jemals die Flucht gelingen sollte. Und als ich mich damit einverstanden erklärte, als Spion für das Imperium zu arbeiten, mitten im Herzen der Untergrundbewegung, da gaben sie mir diese Kontrollworte. Sie waren überzeugt, daß Jakob und ich uns eines Tages wieder begegnen würden. Und wie sie recht behalten haben! Seit diesem Tag war es immer nur eine Frage des richtigen Zeitpunkts. Ich schob es immer und immer wieder hinaus, weil ich darauf hoffte, daß der alte Kameradschaftsgeist wieder zurückkehren würde, der uns früher einmal verbunden hat. Ich hoffte auf eine Gelegenheit, wieder ein Held zu sein. Aber Jakob hat mir nicht einmal die Chance dazu gegeben. Und so wurde ich zum Agenten der Imperatorin. Und jetzt bringe ich ihr den legendären Rebellen.« »Aber du warst ein Held!« sagte Ruby. »Das hat jeder gesagt!« »Und heute bin ich ein Verräter. Und wenn die Imperatorin gewinnt, werde ich wieder der Held sein und er der Verräter . Alles nur eine Frage des Blickwinkels, Ruby Und wer bist du schon, um ein Urteil über mich zu fällen? Du hast selbst immer gesagt, daß du nur wegen der Beute dabei bist . Schön, ich auch .« »Du verdammter Bastard!« kreischte Ruby. Sie ließ Ohnesorg los, rappelte sich auf und griff nach ihrem Schwert. »Ich konnte dich noch nie ausstehen«, sagte Sturm. »Jakob, bring diese Hexe zum Schweigen.« Ohnesorg sprang auf. Ruby drehte sich zu ihm um, das Schwert gezückt und Verzweiflung im Gesicht. Ohnesorg schlug ihr Schwert beiseite und versetzte ihr einen Kinnhaken, der ihren Kopf nach hinten warf. Sie knickte ein und sank zu Boden, wo sie reglos liegenblieb. Sturm ging zu ihr und trat ihr in die Rippen. Rubys Kopf rollte haltlos hin und her. Sturm nickte zufrieden. »Sehr schön, Jakob. Und jetzt nimm sie hoch und folge mir. Die Löwenstein wartet schon darauf, daß wir uns zu ihr gesellen.« Und so verließen sie den Turm Chojiro und bahnten sich einen Weg durch die allgemeine Verwirrung in den Straßen, dann hinab unter die Oberfläche und durch geheime, verborgene Gänge zum Imperialen Palast. Sie näherten sich der Dunkelheit, hinter der die Hölle wartete. An einer anderen Stelle in den chaotischen Straßen der Hauptstadt führte Jung Jakob Ohnesorg eine kleine Armee von Rebellen und Anhängern der Untergrundbewegung gegen das Kommandozentrum der Imperialen Bodentruppen. Finlay Feldglöck, Evangeline Shreck und Julian Skye folgten ihm. Im Kommandozentrum hatten sich die wichtigsten strategischen und taktischen Köpfe des Militärs auf Golgatha verschanzt, und trotz aller Bemühungen der Rebellen, sie von ihren Streitkräften abzuschneiden, hatten sie die Lage noch immer im Griff. Und so blieb den Rebellen nichts anderes übrig, als das Kommandozentrum auf die harte Tour auszuschalten: durch den Einsatz roher Gewalt. Unglücklicherweise war das eine unlösbare Aufgabe, denn das Kommandozentrum befand sich in einem massiven Stahlbetonbunker und war durch praktisch jedes der Menschheit bekannte Waffensystem geschützt – was auch der Grund dafür war, daß die Führer der Untergrundbewegung Jung Jakob Ohnesorg und die anderen für diesen Auftrag ausgesucht hatten. Das hatte man nun von seinem Ruf, Unmögliches möglich zu machen. Und so schlurfte Finlay durch die Straßen der Hauptstadt, schoß auf alles, das eine Uniform trug und überlegte die ganze Zeit über angestrengt, was zur Hölle er unternehmen würde, wenn sie endlich beim Bunker angekommen waren. Zweifellos war ihm bis dahin eine Idee gekommen, wie man die Insassen richtig ärgern konnte. Wahrscheinlich durch den massiven Einsatz explosiver Substanzen. Schließlich hatte Finlay eine Mission zu erfüllen. Aber irgendwie beschlich ihn das ungute Ge-fühl, daß der Bunker nicht so einfach zu knacken sein würde. Und diesmal hatte er keinen jener unglaublichen Kämpfer bei sich, die im Labyrinth des Wahnsinns gewesen waren, sondern nur einen möglicherweise wiedererstarkten Esper namens Julian Skye. Andererseits wurden sie von dem legendären Jung Jakob Ohnesorg angeführt, dem Helden und Erlöser der Menschheit, dem man nachsagte, daß er niemals einen Fehler machte. Nach den Berichten zu urteilen hatte er die Invasion der Nebelwelt praktisch ganz allein abgewehrt. Vielleicht wür-de ihm ja etwas einfallen. Finlay wußte nicht so recht, was er von Jung Jakob Ohnesorg halten sollte. Der Mann war tapfer und mutig und ein großartiger Kämpfer, das stand fest. Er war heroisch bis zum Geht-nichtmehr, und er fand offensichtlich stets genau die richtigen Worte, um seine Anhänger zu motivieren, aber… Aber. Vielleicht war der Mann einfach nur zu vollkommen. Selbst die größten aller Helden hatten ihre Schwachpunkte. Und Jung Jakob Ohnesorg rülpste nicht einmal nach einem guten Essen. Finlay grinste unwillkürlich. Er war noch nie auf einen anderen Menschen eifersüchtig gewesen. Als Maskierter Gladiator war er in der Arena unbesiegbar gewesen. Alle hatten ihn bewundert. Und jetzt stand er hier und folgte wie alle anderen auch dem jungen Jakob Ohnesorg, ein anonymer, vergessener Kämpfer unter vielen im Schatten des berühmten Rebellen. Finlay zuckte die Schultern. Er konnte damit leben. Für den Augenblick jedenfalls. Schließlich wartete Arbeit auf ihn. Auch Evangeline war tief in Gedanken versunken. Sie war zurück auf Golgatha, zurück in der Hauptstadt und gar nicht weit entfernt von ihrem Vater – von ihrem verachteten, gehaßten Vater, der seine Tochter als Frau und nicht als Kind liebte. Evangeline war zu Shannons Welt geflohen; doch jetzt war sie zurückgekehrt. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis der Shreck Wind davon bekam, und dann würden die Drohungen wieder von vorn anfangen, daß er ihre Freundin Penny foltern oder töten würde. Evangeline verzog das Gesicht. Sie nahm die Menge ringsum kaum noch wahr. Vielleicht sollte sie die Führer des Untergrundes bitten, dem Shreck Sicherheit zu garantieren, wenn er als Gegenleistung Penny unverletzt freiließ. Die Führer schuldeten ihr einen Gefallen, nach allem, was Evangeline für sie getan hatte. Falls Penny noch am Leben war… sie schloß nicht aus, daß der jähzornige Shreck sie in ihrer Abwe-senheit umgebracht hatte. Zuzutrauen war es ihm. Doch dann… sie würde ihn finden und töten, und zur Hölle mit den Konsequenzen. Finlay würde sie verstehen. Er wußte alles über Rache. Auch Julian Skyes Gedanken drehten sich um Rache. Rache gegen den Schwarzen Block im allgemeinen und SB Chojiro im besonderen. Er hatte sie von ganzem Herzen geliebt, und sie hatte ihn an die Folterknechte und Hirntechs verraten. Manchmal schien es Julian, als lebe er nur noch für seine Rache an SB Chojiro. Und nun endlich waren sie wieder in der gleichen Stadt. Sobald die Rebellion vorüber war, würde Julian sie suchen, ganz gleich, wo sie sich versteckte, und dann würde sie genauso leiden, wie er gelitten hatte. (Vielleicht würde er auch auf die Knie fallen und ihr das Blaue vom Himmel versprechen, wenn sie ihn nur wieder liebte. Manchmal träumte er noch immer davon. In seinen schlimmsten Alpträumen.) Julian verstärkte den Griff um sein Schwert, und das Grinsen, das seinen Mund umspielte, hatte nichts Freundliches an sich. An erster Stelle kam jedenfalls die Rebellion, die Sache, der er sein Leben geweiht hatte. Später war immer noch Zeit für seine ganz persönliche Rache. Alle drei hatten sich freiwillig zu der Armada der Antigravschlitten gemeldet, aus den unterschiedlichsten Gründen, und die Führer der Untergrundbewegung hatten alle drei abgelehnt mit der Begründung, daß wichtigere Aufgaben auf sie warteten . Und so kam es, daß sie jetzt durch die überfüllten Straßen stapften und Jung Jakob Ohnesorg folgten – und sich im übrigen die größte Mühe gaben, ihren inneren Aufruhr auf Armeslänge von sich zu halten, bis sie wieder Zeit dafür hatten. Sie kämpften sich durch das Chaos und nahmen es mit Sturmtruppen, Sicherheitsleuten und allem und jedem auf, was das Imperium ihnen entgegenschleuderte. An jeder Straßenbie-gung warteten neue Truppen. Mit zunehmender Verzweiflung bemühten sich die Imperialen, die auf das Kommandozentrum vorrückenden Rebellen aufzuhalten. Energiewaffen blitzten; Granaten rissen breite Löcher in die dicht gedrängten Reihen der Kämpfer auf beiden Seiten, und Schwerter und Äxte wurden in blutigen Bögen geschwungen. Tote und Verwundete fielen und wurden ohne Unterschied von den Überlebenden zertrampelt. Niemand hatte die Zeit, sich um Verletzte zu kümmern. Es gab nichts außer dem endlosen, beinahe hysterischen Vormarsch der Rebellen und dem langsamen, von Panik begleiteten Rückzug der Imperialen. Langsam, aber sicher rückte das Kommandozentrum immer näher. Und an der Spitze seiner Leute stand stolz Jung Jakob Ohnesorg. Er schwang das breite Schwert mit beiden Händen, und niemand vermochte ihm zu widerstehen. Kein Schwert konnte ihn berühren; kein Schwert konnte die Imperialen vor seinem Zorn retten, und die Männer hinter ihm riefen seinen Namen als Schlachtruf. Finlay und Evangeline hielten sich dicht hinter Ohnesorg, und sie waren zu sehr beschäftigt, um eifersüchtig zu sein. Finlay kämpfte mit all seinem Talent, ein verblüffendes Schauspiel der Schwertkunst, das bei seinen alten Anhängern in der Arena hellen Jubel ausgelöst hätte. Und seine Gegner wandten sich tatsächlich lieber zur Flucht, als sich zu stellen. Finlay grinste sein Wolfsgrinsen und tötete sie trotzdem. Er tat genau das, wozu er geboren war, und er genoß jede Minute davon. Evangeline hielt ihm den Rücken frei. Sie kämpfte mit beharrlicher Ausdauer und Effizienz. Finlay hatte sie gelehrt, das Schwert zu führen; doch sie verspürte nicht seine dunkle Freude beim Töten. Sie kämpfte, um ein Ziel zu erreichen, weiter nichts. Und manchmal regte sich in ihr der Verdacht, daß Finlays Ziel sein Ende war. Die Esperkräfte Julian Skyes knisterten in der Luft ringsum und schirmten die drei vor Disruptorschüssen und den hin und wieder geschleuderten Granaten ab. Bisweilen benutzte er seine Kräfte auch, um einen PSI-Sturm heraufzubeschwören, der die bewaffneten Gegner hilflos davonschleuderte; doch den größten Teil der Zeit standen die Truppen auf beiden Seiten zu dicht gedrängt, als daß Julian viel erreicht hätte. Er war mit Schwert und Disruptor bewaffnet und benutzte beide mit steifer Effizienz. Die Kämpfe dauerten an und erstreckten sich scheinbar endlos, bis beide Seiten vor Erschöpfung am liebsten auf der Stelle zu Boden gesunken wären. Und noch immer spornte der junge Jakob Ohnesorg seine Leute an, rief sie zu Sieg oder Tod auf und zur Zerstörung des Imperiums. Die Rebellen drängten Zoll um Zoll vor und bezahlten jeden Bodengewinn mit Blut und Tod, bis endlich der Bunker des Kommandozentrums am Ende der Straße in Sicht kam. Der Anblick erfüllte die Rebellen mit neuer Kraft, und sie schrien ihren Triumph heraus, während sie, geführt von Jung Jakob Ohnesorg, voranstürmten und die demoralisierten Verteidiger immer weiter zurückdrängten. Allein die enge Straße und die Tatsache, daß die Imperialen Truppen nicht wußten, wohin sie sich wenden sollten, verhinderten eine heillose Flucht. Und so kämpften sie verbissen auf verlorenem Posten wie in die Enge getriebene Ratten, und die schiere Verzweiflung der Verteidiger brachte den Vormarsch der Rebellen wieder einmal fast zum Stillstand. Der Kampf dauerte an und wogte hierhin und dorthin, und Tobias Shreck und sein Kameramann Flynn waren dabei und filmten alles. Die Übertragung ging live ins gesamte Imperium hinaus. Sie schwebten gefährlich dicht über den kämpf enden Massen auf einem requirierten Antigravschlitten, eben hoch genug, um außer Reichweite der Schwerter zu bleiben, aber so nah, daß sie sämtliche blutigen Details einfangen konnten. Flynn schickte seine Kamera über die Köpfe der drängenden Menge und suchte unentwegt nach den besten Bildern, während Tobias über dem Rand des Schlittens hing und einen atemlosen Kommentar von sich gab. Seine Stimme war heiser vom vielen Rauch und schierer Überanstrengung. Die beiden Nachrichtenleute hatten inzwischen jedes Aufputschmittel aus Tobias’ um-fangreicher Sammlung geschluckt, um nach so langer ununterbrochener Berichterstattung noch konzentriert genug zu sein, und sie hatten schon vor langer Zeit jegliche Distanz und Unpar-teilichkeit aufgegeben in ihrem fast hysterischen Streben nach den besten Bildern dieses wahrhaft historischen Ereignisses. Beide wußten, daß sie in ihrem ganzen Leben nie wieder von derart bedeutsamen Ereignissen berichten würden. Sie erspähten die vertrauten Gesichter von Finlay, Evangeline und Julian, riefen den drei Rebellen fröhlich zu und winkten ihnen, in die Kamera zu lächeln. Finlay antwortete mit einem kurzen, aber sehr bildhaften Fluch, der anzeigte, daß sie im Augenblick sehr beschäftigt seien, und Tobias nahm sich im Geiste vor, diese Szene aus zukünftigen Sendungen herauszuschneiden. Flynns Kamera jagte unermüdlich hin und her und fing soviel vom Aderlaß der Kämpfer auf, wie nur irgend möglich. Er wußte, was die Zuschauer mochten, und er mußte sich schon etwas einfallen lassen, um sie bei der Stange zu halten, selbst wenn es hier um historische Ereignisse von allergrößter Bedeutung ging. Jung Jakob Ohnesorg hackte und stach sich seinen Weg durch eine Armee von Verteidigern. Er stand knöcheltief in Blut. Sein muskulöser Arm hob und senkte sich unermüdlich wie eine Maschine, und kein einziger Feind kam auch nur in seine Nähe. Das breite Grinsen auf seinem Gesicht verschwand nicht einen Augenblick, und er zuckte noch nicht einmal mit den Wimpern, ganz gleich, was auch in seiner Umgebung geschah. Die meiste Zeit über zielte er auf die Körper der Feinde. Kurze, brutale Streiche, die seine Klinge über Rippen und in Bäuche führten und in einem Schwall von Eingeweiden und Blut wieder hervortreten ließen. Es waren traumatische Wunden, die den Angriff der Feinde auf der Stelle beendeten, ohne sie jedoch sofort zu töten. Sie schwankten und stolperten und kamen ihren Kameraden in die Quere, und ihre Schmerzens-schreie und ihr Entsetzen hatte großartige psychologische Auswirkungen auf die feindlichen Truppen, während die Seite der Rebellen zu immer neuen Leistungen angespornt wurde. Wahrscheinlich fand niemand außer Finlay, Evangeline und Julian die Zeit, darüber nachzudenken, daß derart gemeine Methoden wirklich nicht das waren, was man von einem berühmten, geachteten Helden wie Jakob Ohnesorg erwartete. Jung Jakob Ohnesorg kämpfte und kämpfte und brüllte seine An-hänger zum Sieg. Seine Feinde fielen reihenweise, und wer ihm nicht rechtzeitig aus dem Weg ging, den zertrampelte er unter den Füßen. Und die ganze Zeit über lächelte er. Seine Kleider waren mit Blut vollgesogen, doch nichts davon gehörte ihm. Nahe dem Ende der Straße, als das Kommandozentrum nur noch wenige Meter vor ihnen lag, hielt er für einen kurzen Augenblick inne, um Flynns schwebender Kamera zuzulächeln und zu winken. »Wißt Ihr, eigentlich müßte es doch einen einfacheren Weg geben, um ein Imperium zu stürzen…« Und dann wandte er sich wieder seiner Arbeit zu, und das Töten ging weiter. Oben auf dem Schlitten schlugen sich Tobias und Flynn auf die Schultern. Ein Held und Schwertkünstler, und noch dazu charmant. Jung Jakob Ohnesorg war ein Geschenk Gottes. Die Zuschauer daheim würden sich an ihm nicht satt genug sehen können. Die Sender würden diese eine Szene in ihren Nachrichtenüberblicken noch jahrelang aus-strahlen, ganz gleich, wer die Rebellion am Ende gewann. Tobias gestand sich ein, daß er den jungen Jakob Ohnesorg dem alten bei weitem vorzog, den er auf Technos III kennengelernt hatte. Der junge Jakob Ohnesorg verstand die Notwendigkeit von guter Publicity. Tobias war froh, daß überhaupt jemand hier Verständnis für seine und Flynns Arbeit aufbrachte. Die meisten Rebellen waren viel zu beschäftigt, um mit Tobias zu reden, und die wenigen, die ihm ein Interview gewährten, waren in der Regel zu derb in ihren Antworten. Und man durfte schließlich nicht allzusehr übertreiben. Tobias steuerte den Schlitten so nah an Jung Jakob Ohnesorg heran, wie er nur konnte. Falls im Zweifel, folge einfach dem Geschehen. Und so kam es, daß Tobias und Flynn in der idea-len Position waren, um die Granate zu sehen, die aus den Reihen der Verteidiger geschleudert wurde, und die fast in Zeitlupe auf den jungen Jakob Ohnesorg zusegelte. Die Granate flog genau vor der Linse der Kamera vorbei, hing auf dem höchsten Punkt ihrer Flugbahn Sekundenbruchteile reglos in der Luft und fiel dann Jakob Ohnesorg direkt vor die Füße. Viele Rebellen hatten sie kommen gesehen und schrien laute Warnungen; doch in der dicht gedrängten Menge von Kämpfern hatte Jakob keine Möglichkeit auszuweichen. Die Granate ging direkt vor ihm hoch, und er wurde von der vollen Wucht der Explosion getroffen . Die Druckwelle schleuderte ihn zur Seite und durch Freund und Feind gleichermaßen hindurch, und er krachte in die hohe Steinmauer, die diesen Teil der Straße begrenzte. Die Mauer schwankte und kippte nach vorn, und ihre Trümmer begruben alles unter sich, was ihrem Fall im Weg stand. Dutzende anderer Kämpfer, Rebellen und Imperiale ohne Ausnahme , waren von den Splittern der Granate getroffen worden und lagen schreiend am Boden. Evangeline, Finlay und Julian hatten hinter dem hastig errichteten psionischen Schild des Espers Deckung gefunden. Als er jetzt wieder verschwand, rief Finlay den Rebellen zu, die Lücke zu stopfen und die Imperialen abzuwehren, damit er die Trümmer der umgestürzten Mauer wegräumen konnte . Männer und Frauen stürzten sich nach vorn, und alles rief Finlay zu, um Gottes willen den jungen Jakob Ohnesorg zu retten. Finlay war ziemlich sicher, daß Ohnesorg tot sein mußte. Aber vielleicht gab es ja doch noch den Hauch einer Chance… Er beugte sich über die Trümmer und begann, Ziegelsteine wegzuräumen. Bald waren Evangeline und Julian an seiner Seite und halfen ihm. Weitere Rebellen drängten heran und wollten ebenfalls helfen, aber sie standen nur im Weg. Julian errichtete einen psionischen Schirm, um die überzähligen Helfer abzuhalten, bis sie verstanden hatten, worum es ging. Finlay und Evangeline gruben weiter. Es dauerte nicht lange, bis sie die ersten Gliedmaßen fanden. Die Wucht der Explosion hatte ihre Opfer buchstäblich zerrissen. Finlay und Evangeline gruben weiter und durch die blutigen Überreste hindurch. Flynns Kamera schwebte über ihren Köpfen und filmte alles. Einige der abgerissenen Gliedmaßen zuckten noch. Finlay und Evangeline gruben sich durch die sterblichen Überreste ihrer Kameraden, und ihre Arme waren bis zu den Ellbogen voller Blut. Schließlich kamen sie zu dem, was von Jung Jakob Ohnesorg übriggeblieben war. Sekundenlang standen sie da wie erstarrt, betäubt von dem sich bietenden Anblick, der sich ihnen bot. Dann drehte Finlay sich um und starrte Tobias und Flynn an. »Schaltet die Liveübertragung ab! Auf der Stelle abschalten, sage ich!« Tobias lehnte sich über den Rand des Schlittens und wollte mit Finlay diskutieren. Er blickte an Finlay vorbei und sah, was Finlay gesehen hatte – und er zuckte zusammen und gab Flynn einen scharfen Wink, der keinen Widerspruch duldete. Der Kameramann nickte und beendete die Liveübertragung; doch er hielt die Kamera weiter auf die Szene gerichtet und filmte. Finlay und Evangeline beugten sich über das Loch, und Tobias lenkte den Antigravschlitten über die beiden und den freigeleg-ten Körper von Jung Jakob Ohnesorg. Die Wucht der Explosion hatte einen großen Teil der Haut des legendären Rebellen weggerissen, und darunter war blau glänzender Stahl zum Vorschein gekommen. Jung Jakobs Gesicht war verschwunden, bis auf den metallenen Schädel darunter. Die Augenhöhlen waren leer, doch die weißen Zähne waren unversehrt und verliehen dem Metallschädel ein beunruhigend menschliches Lächeln. Jung Jakob Ohnesorg war eine Furie. Ein Spion von Shub, eine Maschine in Menschengestalt, die sich unter einer menschlichen Haut versteckt hatte. Und die Furie lebte noch. Die unteren Extremitäten waren von der umgestürzten Mauer zerquetscht worden, und ein Arm fehlte; doch Torso und Kopf waren größtenteils noch intakt. Die Furie hob den Metallschädel ein wenig und nickte Finlay und Evangeline zu. Als sie schließlich sprach, klang ihre leicht hallende Stimme gelassen und beinahe freundlich. »Schön, ich bin eine Maschine. Aber das heißt noch lange nicht, daß wir deswegen keine Freunde mehr sein könnten . Ihr braucht mich . Oder wenigstens das, was ich zu sein vorgebe. Ich bin reparabel. Bedeckt mein Gesicht, und niemand wird den Unterschied bemerken. Sicher, ein Teil der Wahrheit sik-kert bestimmt heraus; aber wir werden allen erzählen, daß ich ein Kyborg bin. Ein aufgerüsteter Mensch. Sie werden es glauben, nach allem, was Jakob Ohnesorg durchgemacht hat. Ihr braucht mich, Feldglöck. Die Rebellen werden einem Helden wie mir folgen, wohin sie niemand anderem folgen würden. Also besorgt rasch einen Umhang, in den Ihr mich wickeln könnt, dann schafft mich auf den Antigravschlitten des Shreck, und ich führe Eure Leute von dort oben aus direkt in den Bunker.« »Glaubst du allen Ernstes, daß auch nur ein einziger Mensch einer Kreatur von Shub folgen würde?« fragte Finlay mit kalter, beherrschter Stimme. »Meinst du wirklich, das würden wir tun? Du bist ein Vertreter der Feinde der Menschheit. Ihr habt geschworen, uns bis hin zum letzten Mann, zur letzten Frau und zum letzten Kind auszulöschen. Kein Wunder, daß dir das Gemetzel hier soviel Freude bereitet hat. Und was würdest du tun, wenn die Rebellion erst vorbei ist? Teilhaben an unseren Plänen und Hoffnungen und mitten drin sein, wenn wir am verwundbarsten sind? Glaubst du allen Ernstes, wir würden einen Wolf aus Stahl wie dich unter uns aufnehmen und schweigen?« »Ihr habt keine große Wahl in dieser Sache«, erwiderte die Maschine gelassen. »Meine Systeme sind bereits dabei, sich selbsttätig zu reparieren, und Ihr habt keine Waffen bei Euch, die stark genug wären, um mich zu zerstören. Die Granate hat mich überrascht. Für ihre Größe war sie unerwartet stark. Aber schon bald werde ich wieder mit akzeptabler Effizienz funktionieren, und wenn Ihr mir nicht helft, mich weiterhin als Jakob Ohnesorg auszugeben, werde ich zu meiner zweiten Programmierung überwechseln und jeden Menschen töten, der mir in die Hände fällt. Außerdem, was wollt Ihr unternehmen, um das Kommandozentrum einzunehmen? Ob es Euch gefällt oder nicht, wir sitzen in einem Boot, Finlay.« »Ganz bestimmt nicht«, knurrte der Feldglöck. »Julian, macht diesen Zinnsoldaten platt!« »Mit dem größten Vergnügen«, sagte Julian Skye. Er beschwor seinen PSI-Sturm herauf, komprimierte und fokussierte sämtliche Energie in einen Hammer aus roher Gewalt und ließ ihn auf die verkrüppelte Furie herniedersausen. Die Maschine in Menschengestalt wurde so flach, als hätte eine Dampfwalze sie überrollt, und das Metall riß und zersplitterte an Dutzenden von Stellen zugleich. Julian grinste kalt, als die Metallgestalt unter dem Druck seines Willens zerbröckelte . Der Esper konzentrierte sich erneut, und das flachgedrückte Metall der Furie rollte sich zu einer Kugel auf, die unablässig weiter zusammen-schrumpfte und kompakter wurde, bis nur noch eine massiven Metallkugel übriggeblieben war, in der nicht mehr die kleinste Spur von Leben steckte. Julian grinste erneut. »Reparier das, du Bastard.« Finlay und Evangeline vergruben die Metallkugel unter einem Stapel von Leichenteilen. Julian sah zu Flynns Kamera empor, die noch immer über der Szene schwebte und filmte, und er legte die Stirn in nachdenkliche Falten. »O nein! Bitte nicht die Kamera!« kreischte Tobias auf. »Wir haben nur diese eine!« »Wir dürfen diese Bilder unter keinen Umständen nach draußen lassen«, sagte Julian. »Niemand darf jemals etwas davon erfahren!« »Wir wissen, wie man den Mund hält«, erwiderte Tobias. »Außerdem wäre es nicht das erste Stück Film, das ich wieder vergraben hätte. Fragt den Feldglöck. Er wird für mich bürgen.« »Ich weiß nicht, ob ich so weit gehen würde«, sagte Finlay. »Aber ich glaube, er ist nicht dumm. Er weiß ganz genau, daß eine endlose Schlange von Leuten darauf warten wird, ihn auf alle möglichen interessanten und langsamen Arten zu töten, wenn auch nur ein Bild dieser Szene irgendwo auftaucht. Oder nicht, Shreck?« »Ich hätte es selbst nicht besser formulieren können«, antwortete Tobias. »Schließlich weiß ich, wozu Ihr fähig seid. Und ich will Euch ganz bestimmt nicht auf meinen Fersen haben. Aber es ist nicht weiter tragisch. Ich habe bereits genügend großartige Aufnahmen im Kasten, um unsterblich zu werden.« »Und was ist mit mir?« maulte Flynn. »Werde ich nicht auch unsterblich?« »Ich sagte unsterblich, nicht verwerflich. Du richtest die Kamera auf das, was ich dir zeige, und überläßt mir das Denken.« Flynn funkelte Tobias wütend an. »Ich bin ein Künstler. Das steht in meinem Vertrag.« »Ich weiß ganz genau, was du bist«, entgegnete Tobias. »Und jetzt halt die Klappe und film weiter.« »Tyrann!« schimpfte Flynn. »Warte nur, bis du wieder mal im Bild bist. Ich werde dafür sorgen, daß du aussiehst wie eine Wurst.« »Wenn man die beiden so hört, könnte man schwören, sie wären miteinander verheiratet«, bemerkte Julian. »Finlay, wir müssen dafür sorgen, daß unsere Leute sich wieder in Bewegung setzen, bevor sie Zeit finden, über das nachzudenken, was hier geschehen ist. Wenn sie in Panik geraten, fällt unser Angriff in sich zusammen.« »Verstanden«, sagte Finlay. Er kletterte auf die Trümmer, damit alle Rebellen ihn sehen konnten. »Jakob Ohnesorg ist tot! Das Imperium hat ihn getötet! Soll sein Tod umsonst gewesen sein? Oder werdet Ihr weiterkämpfen, wie Jakob es gewollt hätte? Dann folgt mir. Nieder mit dem Imperium!« Es war wirklich nicht viel, aber es funktionierte. Die Rebellen brüllten den Imperialen ihre Herausforderung entgegen und drängten wieder vor. Sie schrien nach Rache. Finlay führte sie an, und Julian und Evangeline kämpften an seiner Seite. Er hatte nie daran gezweifelt, daß die Rebellen ihm folgen würden, auch wenn es im Namen Ohnesorgs war. Manchmal war ein toter Anführer eine größere Inspiration als ein lebender. Die Verteidiger hielten ihre Stellungen, solange sie glaubten, Ohnesorgs Tod würde die Angreifer demoralisieren; doch die neuerlichen, noch entschlosseneren Angriffe belehrten sie eines Besseren. Irgendwann wurde es auch den Tapfersten zuviel. Unterlegen und besiegt, bröckelte ihre Front, und sie wandten sich ab und rannten davon. Einige warfen sogar ihre Waffen weg, um zu zeigen, daß sie nicht länger Krieg führten, und genauso schnell war die ganze Schlacht vorbei. Die Imperialen flohen in alle Richtungen. Sie bemühten sich verzweifelt, das Schlachtfeld hinter sich zu lassen, und die Rebellen töteten alle, die nicht schnell genug liefen. Finlay stürmte vorwärts. Er hielt auf die massiven Stahltüren zu, die den einzigen Eingang in das Kommandozentrum bildeten. Die in die Wände des Bunkers eingebauten Disruptorkanonen eröffneten das Feuer, doch Julian lenkte die Strahlen mit seinem ESP ab, bis Scharfschützen der Rebellen die Waffen aus ihren Kasematten geschossen hatten. Und dann waren sie vor der Tür, und Evangeline gab die Kodes ein, die sie von den Führern der Untergrundbewegung erhalten hatte. Nichts geschah. Evangeline tippte die Zahlen erneut und mit größter Sorgfalt ein, doch die Türen blieben beharrlich geschlossen. Finlay hörte, wie die Rebellen hinter ihm allmählich unruhig wurden. »Typisch«, sagte er verstimmt. »Alles muß man selbst machen. Julian, öffnet diese Tür.« »Schon dabei«, sagte der Esper. Er konzentrierte sich und ignorierte den vertrauten Kopfschmerz, der hinter seiner Stirn aufwallte, und dann traf ein psychokinetischer Hammerschlag die Türen, der so stark war, daß sie aus den Angeln gerissen wurden und ins Innere des Bunkers flogen. Die Rebellen jubelten, und Finlay führte sie durch die Öffnung in die Kommandozentrale des Feindes. Er war noch nicht weit gekommen, als er wie angewurzelt stehenblieb. Evangeline und Julian, die ihm dicht auf den Fersen waren, hätten ihn fast umgerannt. Vor ihnen stand eine einzelne Gestalt in einem anonymen Umhang und bewachte den Durchgang zur Zentrale mit gezücktem Schwert. Ein glatter Helm aus schwarzem Stahl verhüllte das gesamte Gesicht. Es war ein vertrauter Anblick für jeden, der jemals die Kämpfe in der Arena beobachtet hatte. Es war der unbesiegte Champion der Arena persönlich. Der Maskierte Gladiator. »Nein…«, stammelte Finlay. »Nicht du. Nicht… du.« »Selbstverständlich ich«, sagte eine gelassene Stimme unter dem Helm. »Ich war dem Eisernen Thron stets treu ergeben, komme, was wolle. Was bedeutet, daß Ihr an mir vorbei müßt, wenn Ihr weiter wollt. Ein Mann an der richtigen Stelle kann eine ganze Armee aufhalten. Und der Maskierte Gladiator wurde noch nie besiegt.« »Tu das nicht«, sagte Finlay. »Ich will nicht gegen dich kämpfen müssen.« »Niemand kommt an mir vorbei«, sagte der Maskierte Gladiator ungerührt. »Ohne Ausnahme. Nicht einmal du, Finlay.« »Ist mir scheißegal, was du da erzählst«, sagte Julian plötzlich. Er trat vor, und sein Gesicht war von einer derart überwältigenden Wut verzerrt, daß Finlay es kaum wiedererkannte. »Ich habe lange auf diese Chance gewartet, du verdammter Bastard! Du hast meinen Bruder getötet , Auric Skye!« »Ich habe eine Menge Leute getötet«, sagte die Stimme hinter dem glatten Helm. »Ich erinnere mich nicht mehr an alle Namen.« »Ich erinnere mich dafür um so besser«, erwiderte Julian, und sein ESP schlug zu. Eine unwiderstehliche Macht packte den Maskierten Gladiator und riß ihn von den Beinen. Er hing in der Luft und zappelte hilflos, während Blut aus jedem Loch in seinem Panzer sprudelte und der Körper im Innern der Rüstung von einer eiskalten, rachsüchtigen Macht zerschmettert wurde. Der Maskierte Gladiator gab keinen Laut von sich, doch irgendwann hörte er auf zu zappeln, und Julian ließ ihn achtlos fallen. Er stürzte zu Boden und rührte sich nicht mehr. Julian beugte sich schwer atmend über ihn. Zwei dünne Blutfäden rannen aus seinen Nasenlöchern. Er spuckte auf den glatten Helm des Maskierten. »Das war für dich, Auric.« Und dann setzte er sich in Bewegung, und die Rebellen strömten hinter ihm her und jubelten dem Mann zu, der den unbesiegten Maskierten Gladiator geschlagen hatte. Tobias und Flynn folgten ihnen. Keiner von ihnen bemerkte, daß Finlay und Evangeline noch immer neben dem gefallenen Mann knieten. Finlay wartete, bis die letzten Rebellen vorbei waren; dann entfernte er behutsam den Helm des Sterbenden und starrte in das blutverschmierte Gesicht von Georg McCrackin, dem ursprünglichen Maskierten Gladiator – in das Gesicht jenes Mannes, der Finlay alles gelehrt hatte, was der Feldglöck über den Kampf wußte, und der ihm dann sogar gestattet hatte, in der Arena seinen Platz einzunehmen. Georg bemühte sich, Finlay und Evangeline anzulächeln, doch seine Zähne waren rot vom eigenen Blut. »Jetzt werden wir niemals… herausfinden, ob du mich… geschlagen hättest, Finlay. Ich hätte wissen müssen, daß ein Esper mir keine faire Chance gibt.« »Ich habe seinen Bruder getötet«, flüsterte Finlay. »Es tut mir so leid, Georg. Ich wollte niemals… Warum bist du in die Arena zurückgegangen? Ich dachte, du hättest dich zur Ruhe gesetzt?« »Irgend jemand mußte den Maskierten Gladiator spielen, nachdem du aufgehört hattest, und niemand war soweit, daß er deinen Platz hätte einnehmen können.« Georg schluckte mühsam, und seine Stimme wurde ein wenig deutlicher. »Außerdem wollte ich herausfinden, ob ich noch immer gut genug war. Ob ich wieder der Beste sein konnte. Ich schlug mich gut, bis dieser verdammte Unsinn anfing und die Imperatorin mich zu sich rief, um das Kommandozentrum zu verteidigen.« Er hustete rauh, und Blut ergoß sich aus seinem Mund und ström-te ihm übers Kinn. »Verdammt. Ich bin schwer verwundet, Finlay. Dieser Esperbastard hat mich richtig fertiggemacht.« Er versuchte erneut zu lächeln, und Blut leckte aus seinen Mund-winkeln. »Also du gehörst jetzt zu den Rebellen, Finlay. Ich war überrascht, als ich davon hörte. Ich habe mich nie für Politik interessiert. Das Imperium war immer gut zu mir. Ich kann nicht sagen, daß es mir leid tut, wenn jetzt alles vorbei ist. Ich glaube nicht, daß es für meinesgleichen einen Platz gibt in dem, was nach dem Imperium kommt. Da ist es schon besser, mit einem Rest von Würde abzutreten.« Er hielt inne, als überlege er, was er noch sagen sollte. Finlay wartete und erkannte erst einige Augenblicke später , daß Georg McCrackin gestorben war. Er schloß seinem Mentor und Freund die Augen und erhob sich. Evangeline stand mit ihm auf und legte ihm tröstend den Arm um die Schultern. Finlay bemerkte es nicht einmal. Sein Blick war noch immer auf den Toten gerichtet. »Julian darf es niemals erfahren«, sagte er schließlich. »Er soll in dem Glauben bleiben, daß er den Mörder seines Bruders bestraft hat. Es ist einfacher so.« »Für jetzt vielleicht«, sagte Evangeline. »Aber was geschieht, wenn er je die Wahrheit herausfindet? Wenn er erfährt, daß du Auric getötet hast, und daß er einen unschuldigen Mann umgebracht hat?« »Niemand ist mehr unschuldig«, erwiderte Finlay. »Und was ist schon ein Geheimnis mehr oder weniger für Leute wie uns?« Finlay stapfte in die Tiefen des Kommandobunkers davon und eilte den entfernten Geräuschen von Kämpfen und dem Schreien der Sterbenden hinterher, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen und sich zu vergewissern, daß Evangeline ihm folgte. Überall auf dem Planeten Golgatha, in den Städten, den Metro-polen und auf den Raumhäfen, rückten die Rebellen unaufhaltsam vor. Sie trieben die Imperialen Streitkräfte auf allen Fronten zurück. Ihre einzige Trumpfkarte, die riesigen Kriegsmaschinen, standen tot und leblos herum, leere Metallhülsen mit nichts darin, um sie zu führen. Die Imperialen Truppen blickten der Niederlage ins Gesicht, und sie reagierten auf die einzige Art und Weise, die sie kannten: Sie schafften die größten Waffen heran, die sie besaßen, und feuerten auf alles, was nicht zu ihnen gehörte. Sie schossen Rebellen und Zivilisten gleichermaßen ab und richteten ein Blutbad ohnegleichen an. Sie nahmen ganze Gruppen von Frauen und Kindern als Geiseln und benutzten sie als menschliche Schutzschilde, und sie drohten, ihre Geiseln im Dutzend umzubringen, sollten die Rebellen nicht zurückweichen. Sie sprengten wichtige Einrichtungen wie Kraftwerke oder Krankenhäuser lieber in die Luft, als sie den Rebellen zu überlassen. Sie zerstörten ganze Städte und brachten sämtliche Einwohner um, um ihr eigenes Leben zu retten. Die Rebellen hatten mit dieser Art von Barbarei und Gemetzel gerechnet und hatten das bei ihren Planungen stillschweigend in Kauf genommen; doch in der Praxis waren sie bis in das Tiefste ihrer Seelen von der Kaltblütigkeit der Gegner schockiert, sogar jetzt noch, nach allem, was sie von Virimonde gesehen hatten. Überall auf der Welt kam der Vormarsch der Rebellen ins Stocken oder brach gänzlich zusammen, als sie sich einem Bösen gegenübersahen, das einfach zuviel war für ihre simple Taktik. Die Rebellen waren gewillt, das eigene Leben für den Sieg zu opfern, doch angesichts der Verantwortung für die Massenmorde an Zivilisten zögerten sie und verzagten. Die Rebellion drohte zusammenzubrechen, und plötzlich schien der Vorteil der Rebellen geschwunden. Und das war der Zeitpunkt, an dem die Mater Mundi sich einmal mehr manifestierte, und diesmal auf dem gesamten Planeten gleichzeitig. Unsere Mutter Aller Seelen, der sagenum-woben Überesper, brach zur gleichen Zeit in die Bewußtseine sämtlicher Esper ein, und Hunderttausende von Espern wurden schlagartig auf eine höhere Existenzebene gehoben. Sie verbanden sich zu einem gewaltigen Kollektivbewußtsein und reagierten wie ein Mann. Überall auf Golgatha entflammten PSI-Stürme und rasten durch die Straßen der Städte und Dörfer. Sie wirbelten die Imperialen Truppen davon, ohne Rebellen oder Zivilisten auch nur anzurühren. Poltergeister und Pyros zerstörten Imperiale Gebäude und Zufluchtsorte, steckten Kasernen in Brand und rissen Barrikaden ein wie unaufhaltsame Avatare der Zerstörung. Telepathische Orkane erfaßten die Truppen, sprangen von Bewußtsein zu Bewußtsein und löschten Verstand und Erinnerungen gleichermaßen aus, und sie hinterließen nichts als grenzenlose Leere. An anderen Stellen liefen von Espern erzeugte Alpträume in wehrlosen Bewußtseinen Amok, und abgehärtete Soldaten rissen sich lieber die eigenen Augen heraus, als sich den schrecklichen Visionen zu stellen . Andere Soldaten wandten sich gegen ihre eigenen Kameraden und schossen sie nieder, bevor sie die Waffen gegen sich selbst richteten. Und so neigte sich die Waagschale abermals zugunsten der Rebellen, und jeglicher Widerstand seitens der Imperialen wurde davongespült. Die Mater Mundi betrachtete ihr Werk und sah, daß es gut war, und sie zog sich wieder aus den Be-wußtseinen der Esper zurück. Die Rebellenstreitkräfte erledigten, was die Mater Mundi übersehen hatte. Sie übernahmen die Kontrolle über Städte und Dörfer und wurden von der Bevölkerung als Erlöser gefeiert. Der Krieg an der Oberfläche Golgathas war endlich vorüber. Doch die Mater Mundi war noch nicht fertig mit ihrem Werk. Sie manifestierte sich in ihrer alten Freundin Johana Wahn, und Johana Wahn griff hinaus und packte zwei weitere nützliche Seelen. Zu dritt teleportierten sie an einen Ort, wo sie am meisten ausrichten konnten . Sie verschwanden lautlos und unauffällig, und nur das Knallen der Luft, die in das plötzliche Vakuum strömte, verriet, daß sie überhaupt dagewesen waren. Doch im allgemeinen Chaos bemerkte niemand ihr Verschwinden. Zufrieden, endlich alles Notwendige getan zu haben, zog sich die Mater Mundi wieder zurück und wartete darauf, daß sie erneut gebraucht wurde. Am Hof der Löwenstein hatte die Hölle Fuß gefaßt und blühte und gedieh wie eine dunkle, giftige Blume. Überall waren Flammen, und ihr goldenes und purpurnes Licht war manchmal die einzige Lichtquelle in der bedrückenden Finsternis. Die Luft war schwer vom Gestank nach Schwefel, vergossenem Blut und verbranntem menschlichen Fleisch. Man hatte gefangene Rebellen auf rohen Holzstangen gepfählt oder sie auf die Metalldornen von Streckbänken gespießt, die sie langsam au-seinanderrissen. Die Leichen toter Berater hingen an Ketten herab. Raben fraßen an ihren Augen und rissen Stücke aus ihren Gesichtern, und sie sprachen mit schrillen menschlichen Stimmen. Es war gefährlich geworden, die Imperatorin jetzt noch zu enttäuschen. Blutrote Engel mit brennenden Schwingen standen in gestaffelten Reihen hinter dem Thron. Sie trugen Monofaserschwerter, unehrenhafte Waffen, doch die Löwenstein scherte sich längst nicht mehr um derartige Belanglo-sigkeiten. Mißtrauisch durchschritten Kapitän Johan Schwejksam und Investigator Frost zusammen mit ihrem Sicherheitsoffizier K. Stelmach die blutroten Nebel der Hölle und achteten vorsichtig darauf, den gelben Schwefeldämpfen auszuweichen, die in unregelmäßigen Abständen aus den glühenden Aschekratern ent-wichen. Sie blieben dicht beieinander und bemühten sich, nicht allzu neugierig in die Runde zu blicken, während sie sich auf dem direktesten Weg dem Thron näherten, der unter den gegebenen Umstanden möglich war. Von Zeit zu Zeit knirschten kleinere Knochen unter ihren Sohlen. Sie sahen aus, als stammten sie von Vögeln oder anderen kleinen Tieren. Oder von Kindern. An einigen befanden sich noch Reste von Fleisch und Haut. Hin und wieder schrien Menschen auf, die an Ketten herabbaumelten oder gekreuzigt an Metallbäumen hingen, wenn die drei vorüberkamen. Sie bettelten um Hilfe oder einfach nur um einen Schluck Wasser. Schwejksam und Frost blickten stur geradeaus und antworteten nicht. Sie wußten, daß sie nichts tun konnten. Jedenfalls nichts, das man ihnen erlaubt hätte. Stelmach weinte leise vor sich hin und schniefte die Tränen hoch. Man hatte die drei nach Golgatha zurückbefohlen und von dort aus in die Tiefen des Imperialen Palasts. Sie waren auf direkten Befehl der Imperatorin persönlich gekommen. Die Eiserne Hexe hatte höchste Sicherheitskodes benutzt, die nur dann zum Einsatz kamen, wenn der Thron in allergrößter Gefahr schwebte. Und so waren die drei selbstverständlich gekommen. Sie hatten die Rebellen und die Kämpfe genauso ignoriert wie die Hilferufe belagerter Imperialer Streitkräfte, so dringend hatten Löwensteins Befehle geklungen. Sie wußten noch nicht, daß der Krieg an der Oberfläche längst verloren war; doch es hätte sie auch nicht weiter überrascht. Sie hatten die Liveübertragungen von Virimonde gesehen, und selbst Frost war schok-kiert gewesen. Schwejksam hatte geknurrt, daß nur eine Wahnsinnige derartige Befehle erteilt haben konnte, und weder Frost noch Stelmach hatten ihm widersprochen. Auf dem Weg nach Golgatha hatten sie über die Rebellion diskutiert; aber ihre Loyalität hatte keine Sekunde in Frage gestanden, ganz egal, was auch geschehen sein mochte . Die drei hatten dem Eisernen Thron und ihrer Imperatorin die Treue geschworen, und man verriet seine Ehre nicht, nur weil die Dinge vielleicht im Augenblick schlecht standen. Manchmal, wenn es wirklich ganz schlimm kam, war die Ehre das einzige, was einem noch blieb. Und so stapften die drei durch die Hölle, durch Hitze und Nebel und vorbei am Leiden der Verdammten. Diesmal waren keine Wachen gekommen, um sie zu begleiten. Schwejksam fragte sich, ob das ein Zeichen des Vertrauens bedeutete, oder ob die Löwenstein einfach nicht mehr genug Leibwachen be-saß. Es spielte keine Rolle. Sie waren hier; man hatte sie aus der Ungnade zurückgerufen, und die Ehre ihres Schiffes und seiner Besatzung war wiederhergestellt. Schwejksam hatte gehofft, die Gelegenheit nutzen und der Löwenstein ein wenig Vernunft einreden zu können; doch seit dem ersten Blick auf die gegenwärtige Staffage des Imperialen Hofs zweifelte er ernsthaft, ob das überhaupt noch möglich war. Der Hof war ein Spiegel des seelischen Zustands Ihrer Majestät, und wie es schien, waren beide zur Hölle gefahren. Schließlich erreichten die drei den Thron. Flammengeysire schossen zur Decke hinauf wie Feuerbrunnen; aber sie waren merkwürdig lautlos und tauchten die Löwenstein und ihren Thron in ein satanisches Licht. Die Jungfrauen drängten sich am Fuß des Eisernen Throns. Sie waren wachsam und gereizt, und ihre stählernen Klauen waren deutlich unter den Fingernägeln zu sehen. Sie starrten die Neuankömmlinge aus ihren hungrigen künstlichen Augen an und knurrten. Hinter dem Thron standen reglos und mit gezückten Schwertern die brennenden Engel von Löwensteins Leibwache. Die Imperatorin hätte sich sicher und behütet fühlen müssen, doch sie erweckte einen vollkommen anderen Eindruck. Sie saß nach vorn ge-beugt auf der Vorderkante ihres Throns und starrte grimmig auf den Holoschirm, der vor ihrer Nase schwebte und durch die wenigen noch vom Imperium kontrollierten Kommunikationskanäle ständig neue Lageberichte lieferte. Die Eiserne Hexe mußte hilflos mit ansehen, wie ihr Imperium ringsum zerfiel. Schwejksam, Frost und Stelmach blieben vor ihr stehen und verneigten sich tief, und sie erwiderte ihren Gruß mit einem herablassenden Wink. Als sie nach einer ganzen Weile geruhte, sich umzudrehen und die drei anzusehen, da waren ihre Augen weit und drohten aus den Höhlen zu quellen, und ihr Lächeln war merkwürdig starr, als hätte sie ganz vergessen, wie man so etwas zustande brachte. »Aha. Dann seid Ihr also doch noch gekommen. Unser Kapitän, Unser Investigator und Unser Sicherheitsoffizier . Ihr habt Uns die Treue geschworen, bis in den Tod und darüber hinaus. Verräter!« »Nein, Euer Majestät«, beeilte sich Schwejksam zu widersprechen. »Wir sind Euch treu ergeben. Wir waren stets loyal.« »Und warum habt Ihr dann Geheimnisse vor Uns? Warum habt Ihr versucht zu verbergen, was aus Euch geworden ist? Warum habt Ihr Uns nichts von den Kräften erzählt, die Euch auf der Wolflingswelt gegeben wurden?« Schwejksam und Frost wechselten einen Blick, dann sahen beide zu Stelmach, der unmerklich den Kopf schüttelte. Er hatte nichts verraten. Schwejksam sah wieder zur Imperatorin, und als er sprach, klang seine Stimme ruhig und gemessen. »Lange Zeit verstanden wir selbst nicht, was mit uns geschehen ist. Wie es scheint, hat selbst die kurze Zeit im Labyrinth des Wahnsinns ausgereicht, uns auf einer Ebene zu verändern, die wir noch immer nicht völlig begriffen haben. Wir taten unser Bestes, um Euch zu dienen, Majestät, während wir um die Kontrolle über unsere neuen… Fähigkeiten kämpften.« »Und was ist mit Ihm, Sicherheitsoffizier?« fragte die Löwenstein. »Wir gaben Ihm ganz spezifische Befehle, diese beiden dort zu beobachten und Uns umgehend Bericht zu erstatten.« »Ich habe versucht , meine Pflicht nach bestem Wissen und Gewissen zu erfüllen, Euer Majestät«, sagte Stelmach. Sein Gesicht war totenbleich, und seine Hände zitterten, doch sein Blick war fest und seine Stimme klang entschlossen. »Es war nicht so einfach, Euer Majestät. Die Situation war… mehrdeu-tig. Ich mußte abwägen.« »Worte!« schnaubte die Löwenstein und lehnte sich auf ihrem Thron zurück. Ihre kalten Augen musterten die drei der Reihe nach. »Nichts als leere Worte! Aber dafür ist es jetzt zu spät. Wir werden keine Ausreden mehr dulden. Die Barbaren stehen vor den Toren des Imperiums. Wir brauchen Waffen, um sie aufzuhalten, während Wir darüber nachdenken, wie Wir diese Rückschläge ungeschehen machen . Ihr werdet diese Waffen sein. Berichtet mir von Euren Kräften. Erzählt alles, oder Ihr werdet alle drei hier vor meinen Füßen sterben!« Schwejksam überlegte nur einen Augenblick, ob er sich wi-dersetzen sollte. Sie besaß keine ernsthafte Macht mehr über ihn und seine beiden Kameraden. Selbst die vereinigten Wachen des Hofes konnten Frost und ihn nicht dazu bewegen, etwas zu tun, was sie nicht wollten. Nicht nach dem, was aus ihnen geworden war. Doch der Augenblick verstrich. Sie war seine Imperatorin. Schwejksam und Frost hatten nichts von ihren Kräften verraten, weil sie begründete Furcht gehabt hatten, als Laborratten zu enden. Möglicherweise sogar als vivise-zierte Laborratten. Doch die Zeit derartiger Schwächen war vorbei. Schwejksam erkannte das Schicksal, wenn es an seine Tür klopfte. Also berichtete er der Imperatorin so genau, wie er konnte, von den fremdartigen Fähigkeiten und Kräften und Erfahrungen, sie sich in Frost und ihm seit ihrem Besuch auf der verlorenen Welt Haden manifestiert hatten. Jener Welt, die auch unter dem Namen Wolflingswelt bekannt war und wo das Labyrinth des Wahnsinns gestanden hatte. Es dauerte eine ganze Weile, auch deshalb, weil die Löwenstein ihn immer wieder unterbrach und nach Einzelheiten und Erklärungen fragte, die Schwejksam bei weitem nicht immer geben konnte. Während er berichtete, erschienen zwei weitere Gestalten im Hof und schoben sich durch die Schwefeldämpfe zum Thron. Als erster tauchte Valentin Wolf auf, der berüchtigte Stutzer in Schwarz mit dem langen weißen Gesicht. Er blieb in respektvollem Abstand vom Thron stehen und war es zufrieden, unauffällig zu lauschen und zu beobachten, während Schwejksam erzählte. Der purpurne Mund des Wolfs war zu seinem üblichen breiten Grinsen verzogen, und die maskarageschminkten Augen leuchteten fieberhell unter dem Einfluß von Dutzenden verschiedener Drogen, die gleichzeitig durch seinen Kreislauf rasten. Valentin war nicht gewöhnt zu verlieren, und seine kürzlichen Rückschläge hatten ihn aus der Fassung gebracht. Er hatte reagiert, indem er sein wirres Bewußtsein mit einem Stimulans nach dem anderen aufgeputscht hatte in der Hoffnung, daß sein Geist schon eine Lösung für die Probleme finden würde. Das Resultat war eine Art chemisches Patt gewesen: Seine Gedanken waren ungeordneter denn je aufein-andergeprallt und hatten sich gegenseitig neutralisiert. Und so war er schließlich zum Hof gekommen: nicht nur seiner eigenen Sicherheit wegen, sondern auch deshalb, weil dies der Ort war, wo alle wirklich bedeutsamen Entscheidungen im Imperium gefällt wurden. Was auch immer hier geschah – Valentin war zuversichtlich, daß er es auf die eine oder andere Weise zu seinem Vorteil verwenden konnte. So war es bisher immer gewesen. Ursprünglich hatte er gehofft, von seiner früheren Tändelei mit dem Untergrund zu profitieren. Diese Hoffnung hatte sich jedoch rasch zerschlagen, als Valentin herausfand, daß die An-führer der Esper Finlay Feldglöck Valentins Kopf versprochen hatten. Als Gegenleistung für die Dienste des Feldglöcks. Heutzutage konnte man eben niemandem mehr vertrauen. Aber das hieß noch nicht, daß alles verloren war. Finlay konnte im Verlauf der Rebellion durchaus den Tod finden – mit ein wenig Hilfe von außerhalb –, und Valentin war zuversichtlich, daß sich hinterher eine Möglichkeit für ihn eröffnen würde, wieder in die Gunst der Untergrundbewegung zurückzukehren. Und falls sich die Dinge unerwartet in die andere Richtung entwik-keln sollten und die Löwenstein wie durch ein Wunder doch noch siegte, oder, was wahrscheinlicher erschien, irgendeinen Kompromiß mit den Rebellen aushandelte – dann würde sie jemanden benötigen, der für sie mit dem Untergrund verhan-delte. Jemanden, der gute Verbindungen besaß. Und wer war besser dazu geeignet als der erfahrene Valentin Wolf? Er lachte still in sich hinein. Hier in Löwenstein Hölle fühlte er sich zu Hause. Geduldig stand er vor dem Thron und flach-ste mit Löwensteins Jungfrauen. Sein Körper vibrierte vor Energie, und seine Gedanken rannten eine Meile pro Sekunde in jede Richtung. Also blieb er einfach nur stehen und sagte gar nichts. Sollten andere reden. Er würde zuhören und einen Weg finden, alles zu seinen Gunsten zu wenden. So wie immer. Und dann… Gnade Gott Valentins Feinden. Die zweite Gestalt, die während Schwejksams Bericht bei Hofe erschien, war der Hohe Lord Dram. Der Prinzgemahl und Witwenmacher. Er sah ziemlich mitgenommen aus. Seine Kleider waren abgerissen, versengt und blutig, und wenigstens ein Teil davon war sein eigenes. Er war von der Oberfläche zurückgeschlagen worden, als die Rebellen einen Sieg nach dem anderen errungen hatten. Nachdem die Kriegsmaschinen plötzlich ausgefallen waren und die Mater Mundi sich manifestiert hatte, war Dram klargewesen, daß der Kampf an der Oberfläche verloren war. Er hatte sich von seinen Männern weggestohlen, sich verkleidet und war dann zurück zum Hof geflohen. Er verspürte nicht so sehr Schuldgefühle ob seines Versagens, sondern vielmehr Wut. Die Löwenstein erwartete andauernd Dinge von ihm, die vielleicht der echte Dram mit all seiner Erfahrung hätte vollbringen können, aber nicht der Klon. Er war noch jung und unfertig, und er hatte alle Mühe, am Leben zu bleiben, während ringsum ununterbrochen Männer starben. Es war nicht seine Schuld, wenn er nicht wußte, wie er mit einer überwältigenden Übermacht und unheimlichen Waffen fertig werden sollte und mit Espern, die Kräfte besaßen, die an Wunder grenzten. Selbst der ursprüngliche Dram hatte nie der allgegenwärtigen Mater Mundi gegenüberstehen müssen. Und so war Dram der Klon davongerannt und nach Hause zur Löwenstein zurückgekehrt wie ein Kind, das in der Schule verhauen worden war und das jetzt hoffte, daß es nicht schon wieder Schläge bekam, weil es verloren hatte. Ein Holoschirm summte, und die Löwenstein brachte Schwejksam mit einer herrischen Handbewegung zum Schweigen. Sie aktivierte den Schirm, und das Gesicht von General Shaw Beckett erschien. Er sah müde und niedergeschlagen aus. Im Hintergrund war die Brücke seines Schiffs zu sehen, und dort schien das Chaos ausgebrochen zu sein. Leute rannten hin und her und riefen und fluchten, und unaufhörlich schrillten Alarmsirenen. Beckett sah die Löwenstein mit festem Blick an, und als er sprach, tat er es mit lauter Stimme, um das Chaos zu übertönen. »Euer Majestät! Ich habe mein Bestes gegeben, um Euer Imperium und Euch mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen. Ich bedaure Euch mitteilen zu müssen, daß ich versagt habe. Der Krieg im All ist vorbei. Meine Flotte ist versprengt und vernichtet; meine Bodentruppen wurden auf allen Welten überrannt, mit denen ich noch in Verbindung stehe, und ich habe nichts mehr, womit ich noch kämpfen könnte. Ich sehe keine Möglichkeit und keine Strategie, die mir erlauben würde, diese Rückschläge wettzumachen. Aus diesem Grund – und um so viele meiner Leute zu retten wie möglich, sowohl im Raum als auch am Boden – habe ich Kontakt mit den Anführern der Rebellen aufgenommen und ihnen meine Kapitulation angeboten. Mein Ratschlag an Euer Majestät lautet, das gleiche zu tun, um die bestmöglichen Bedingungen auszuhandeln, solange dies noch möglich ist. Ich werde das Kommando über die Flotte an die Autoritäten übergeben, die nach Euer Majestät kommen. Es tut mir leid, Löwenstein, aber ich muß an meine Männer denken. Es hat genug Tod und Leid gegeben. Wer weiß, vielleicht ist es so am besten . Ich wünsche Euch viel Glück, Euer Majestät. Falls wir beide überleben, werden wir uns vielleicht eines Tages in besseren Zeiten wiedersehen.« Er schaltete ab, und der Holoschirm war bereits leer, während die Löwenstein noch Luft holte, um ihren General zu be-schimpfen. Lange Zeit starrte sie mit leeren Augen um sich und trommelte mit den Fäusten auf den Armlehnen ihres Throns. Die Jungfrauen zu ihren Füßen wurden unruhig, als sie die Stimmung ihrer Herrin aufnahmen. Schließlich blieb ihr Blick an Schwejksam und Frost hängen, und sie nickte langsam. »Wir sind von Dummköpfen und Verrätern umgeben! Aber Wir haben immer noch Euch. Ihr seid Unsere Geheimwaffe! Wir legen Euch den Befehl über all unsere Streitkräfte in die Hände, Kapitän und Investigator. Verteidigt das Imperium! Tötet den Abschaum, der in Unseren Straßen randaliert . Und wagt es ja nicht, Uns zu enttäuschen!« Erneut kochte die Wut in ihr über, und ihre Stimme erhob sich zu einem frustrierten Keifen. »Gibt es denn sonst niemanden mehr, der Uns vor dem Pöbel beschützt?« »Selbstverständlich. Ich bin auch noch da«, sagte Alexander Sturm. Alle Köpfe fuhren herum und starrten verblüfft auf den alten Rebellen, der ohne Eile durch die Schrecken der Hölle zum Thron schlenderte . Jakob Ohnesorg stapfte hinter ihm her, und er zog eine sich wehrende und in Ketten gelegte Ruby Reise an einer Leine um den Hals hinter sich her . Wenn Ruby sich sträubte, zog Ohnesorg so lange an der Leine, bis sie keine Luft mehr bekam und ihr keine andere Wahl blieb, als ihm zu folgen. In respektvoller Entfernung vor den Jungfrauen blieb Sturm stehen, bedeutete Ohnesorg das gleiche zu tun und verneigte sich tief und höfisch vor der Löwenstein und den anderen Anwesenden. »Euer Majestät, verehrte Gäste: Darf ich Euch meine beiden Gefangenen präsentieren: die höchst verdammenswerten Rebellen und Verräter Jakob Ohnesorg und Ruby Reise? Verfahrt mit ihnen, wie auch immer Ihr wünscht. Sie gehören Euch.« Lange Zeit herrschte absolute Stille, und dann lachte die Löwenstein hysterisch und klatschte in die Hände wie ein kleines Mädchen. »Seht Ihr, meine Freunde? Es ist erst dann vorbei, wenn ich es sage, und keinen Augenblick früher!« Owen Todtsteltzer, sein Urahn Giles und Hazel d’Ark hatten die Vorhalle erreicht, die den einzigen Zugang zum Hof der Löwenstein bildete. Es war eine riesige, hohe Kaverne aus glänzendem Stahl und Messing, mit hohen, kunstvoll verzier-ten Stützpfeilern aus Gold und Silber, und sie erstreckte sich weitläufig in alle Richtungen. Jedes Geräusch hallte endlos in der Leere wider. Normalerweise war die Vorhalle angefüllt mit Lobbyisten und hohen Staatsdienern, die ungeduldig darauf warteten , daß sich die großen Stahltüren endlich öffneten und sie eine Gelegenheit erhielten , von der Imperatorin gehört zu werden. Doch jetzt lag die Vorhalle leer und verlassen. Owen, Hazel und Giles standen vor den großen geschlossenen Flügeltüren und starrten sie nachdenklich an. »Wahrscheinlich sind sie verschlossen« , sagte Owen . »Wahrscheinlich«, stimmte ihm Hazel zu . »Wahrscheinlich hast du recht. Ich nehme an , du besitzt nicht rein zufällig die Kodes dafür, oder?« »Ich fürchte nein«, gestand Owen. »Ich nehme an, du hast nicht rein zufällig eine Ladung Sprengstoff mitgebracht, oder?« »Ich fürchte nein«, gestand Hazel. »Ich schätze, wir müssen uns mit Hilfe brutaler Gewalt und purer Ignoranz Zutritt verschaffen.« »Dann fangt mal damit an«, brummte Giles. »Ich habe einen weiten Weg zurückgelegt, und ich habe heute noch eine Menge vor.« Owen und Hazel wechselten einen Blick; doch bevor einer von ihnen etwas darauf erwidern konnte, gab es einen hellen Lichtblitz, und Tobias Shreck, sein Kameramann Flynn und Johana Wahn erschienen wie aus dem Nichts. Johana hatte sich mit einem psionischen Schutzschild umgeben, aber als niemand sie angriff, senkte sie ihn wieder. Tobias und Flynn überzeugten sich davon, daß die Kamera noch immer bei ihnen war; dann sahen sie sich offenen Mundes um. Tobias erkannte, wer vor ihm stand und wo sie gelandet waren, und er gestikulierte Flynn drängend, mit dem Filmen zu beginnen. »Was zur Hölle habt ihr hier zu suchen?« fragte Hazel wenig einladend. »Die Mater Mundi wollte, daß wir hier sind«, sagte Johana Wahn. »Falls Euch das nicht gefällt, beschwert Euch bei ihr. Offensichtlich möchte sie, daß der Sturz der Imperatorin live im gesamten Imperium übertragen wird. Aber warum sie mich hier haben will… ich weiß es nicht. Zweifellos werde ich es in Kürze herausfinden. Also, bitte bringt mich auf den neuesten Stand. Was liegt zwischen uns und dem Hof?« »Nun, im Grunde genommen nur diese Türen hier«, sagte Owen. »Ich persönlich hätte gedacht, daß wir auf stärkere Sicherheitsmaßnahmen treffen würden.« Er unterbrach sich, und alle fuhren beim Geräusch sich nähernder Schritte herum – einer ganzen Menge sich nähernder Schritte. Wer Waffen hatte, zog sie. Johana Wahn beschwor ihr ESP herauf, und reine psionische Energie erfüllte die Luft mit ihrem Knistern. Flynn schickte seine Kamera zur Decke empor, überzeugte sich davon, daß sie in die richtige Richtung schaute und beeilte sich anschließend, zusammen mit Tobias hinter den anderen in Deckung zu gehen. Er war kaum dort angekommen, als eine kleine Armee von Löwensteins persönlicher Leibgarde in die Vorhalle des Imperialen Hofs gestürmt kam . Sie waren mit Schwertern und persönlichen Schutzschilden ausgerüstet. Owen packte sein Schwert fester . Es waren wenigstens zwei-hundert Angreifer. Hazel funkelte den Todtsteltzer an. »Was mußtest du auch dein großes Maul aufreißen!« »Ergebt Euch!« rief der kommandierende Offizier. »Ihr seid ganz gewaltig in der Unterzahl, und Ihr habt nicht die geringste Chance.« Owen grinste Giles an. »Er scheint uns nicht zu kennen, was?« »Wir wollen sie so schnell wie möglich ausschalten«, sagte Owens Urahn. »Es könnte ein Ablenkungsmanöver sein, um der Löwenstein Zeit zur Flucht zu verschaffen.« »Dürfte ich darauf hinweisen, daß Flynn und ich absolut unparteiisch sind?« rief Tobias von hinten. »Wir stellen für niemanden eine Bedrohung dar!« »Tötet sie alle!« schnappte der kommandierende Offizier und führte seine Leute in den Kampf. Johana Wahn schwebte in die Höhe, breitete die Arme aus, und Blitze zuckten aus ihren Händen und streckten das erste Dutzend Leibwachen nieder. Hazel d’Ark schimmerte, und plötzlich gab es ein ganzes Dutzend Hazels. Vielleicht kamen sie aus anderen Zeitlinien, wie Giles behauptet hatte; aber wie auch immer: Sie grinsten voller böser Vorfreude auf den Kampf. Giles teleportierte unter den Wachen hierhin und dorthin. Er streckte Gegner nieder und war wieder verschwunden, bevor er selbst angegriffen werden konnte. Owen grinste und schüttelte den Kopf. Alles Angeber. Er hob das Schwert und fiel in den Zorn; dann stellte er sich den Angreifern mit dem Tod in den Augen entgegen. Zwei Männer und zwei Frauen, die gegen eine Armee in den Krieg zogen, und die schiere Überzahl der Angreifer bedeutete nicht das geringste Problem für sie. Jedenfalls anfangs nicht. Die Rebellen bahnten sich mit grimmiger Effizienz ihren Weg durch die feindlichen Wachen, und bald lagen überall Leichen und behinderten die Kämpfenden. Die Rebellen töteten und töteten, und noch immer strömten neue Wachen herbei. Owen schwang das Schwert mit beiden Händen, und niemand vermochte ihm standzuhalten. Er war im Zorn, und Kraft und Schnelligkeit rasten durch seinen Adern. Doch so sehr er sich auch bemühte, für jeden niedergestreckten Gegner schienen zwei neue aufzutauchen, um seinem Platz einzunehmen. Sie schwärmten um ihn herum, und griffen ihn aus allen Richtungen zugleich an. Bald schon hatte er nicht mehr genug Raum, um das Schwert zu schwingen, und er konnte nur noch stechen und stoßen. Seine Streiche waren vom Zorn verstärkt, und sie waren noch immer fürchterlich und tödlich; aber mit Feinden zu allen Seiten konnte er sich nicht für einen Augenblick entspannen. Er kämpfte weiter, wirbelte in diese und in jene Richtung, hielt seine Gegner auf Abstand und wußte, daß er ein toter Mann war, falls er langsamer werden oder auch nur einen Augenblick zaudern würde. Rasche Seitenblicke verrieten ihm, daß es seinen Freunden nicht besser ging. Die Hazels waren voneinander getrennt worden und über die gesamte Ausdehnung der Vorhalle verstreut: aber sie kämpften noch immer wütend. Owen mußte grinsen. Aus welcher Realität auch immer die verschiedenen Hazels kommen mochten, sie waren allesamt höllische Kämpferinnen. Eine von ihnen wurde in seine Richtung zurückgedrängt, und Owen war froh zu sehen, das es die echte war. Rasch stellten sie sich Rücken an Rücken und kämpften so weiter. Owen war froh darüber. Hazel und er hatten schon immer ein gutes Team abgegeben. Owen sah seinen Urahn Giles in einiger Entfernung. Der ursprüngliche Todtsteltzer brüllte seine Schlachtrufe und schwang sein großes breites Schwert wie einen Hammer, und die Wachen, die ihn umringten wie Kampfhunde, hatten alle Mühe, auch nur einen einzigen Schlag gegen ihn zu führen. Giles hatte aufgehört zu teleportieren. Zwischen den Kämpfenden war nicht mehr genug freier Raum, in den er hätte teleportieren können. In Owen wuchs das Gefühl, daß die Wachen inzwischen noch zahlreicher geworden waren als zu Beginn, trotz all der Toten, die den Boden der Vorhalle bedeckten. Anscheinend brachten sie unablässig Verstärkungen heran. Wie unfair. Johana Wahn schwebte noch immer in der Luft und war in Blitze gehüllt, doch sie hatte aufgehört, diese auf die Wachen zu schleudern. Owen erkannte den Grund erst, als er sah, wie Leibwächter Dutzende von ESP-Blockern herbeischafften und übereinander stapelten in dem Versuch, Johanas verstärkte Macht durch schiere Zermürbung auszuschalten. Und zum ersten Mal dämmerte es Owen, daß er vielleicht doch nicht weiter kommen wurde als bis in diesen Vorhof der Hölle. Er hatte so viele Hindernisse überwunden und war einen so weiten Weg gegangen; doch selbst jemand wie er hatte seine Grenzen. Selbst ein Mann im Zorn konnte nicht gegen eine ganze Armee bestehen. Owen erinnerte sich, wie alles angefangen hatte, vor gar nicht allzu langer Zeit: wie er auf Virimonde vor einer übermächtigen Bande seiner eigenen verräterischen Wachen gestanden hatte und im Begriff gewesen war zu sterben. Vielleicht schloß sich hier der Kreis. Nur, daß Hazel diesmal nicht imstande sein würde, ihn zu retten. Sie steckte genauso tief in Schwierigkeiten wie Owen selbst. Es erschien ihm verrückt, daß er nach allem, was er durchgestanden hatte, am Ende doch noch von einem Haufen bewaffneter Leibwächter zur Strecke gebracht werden sollte, und zwar allein deswegen, weil es so viele waren. Er griff tief in sein Innerstes und suchte nach der Kraft, mit deren Hilfe er auf der Nebelwelt einen ganzen Turm zum Einsturz gebracht hatte, doch er fand nichts. Keine Antwort folgte seinem Ruf, ganz gleich, wie verzweifelt er auch suchte. Und er hatte nicht die geringste Ahnung, was der Grund dafür war. Er war jetzt durch und durch naßgeschwitzt, und er mußte ununterbrochen blinzeln, um zu verhindern, daß ihm der Schweiß in die Augen lief. Er atmete schwer, und ihm schien, als wäre er nicht mehr ganz so schnell wie zu Anfang. Nach und nach kamen einige vereinzelte Schläge der Wachen durch. Nur ein kleinerer Schnitt hier und dort, den er in seinem Zorn kaum spürte; doch eine Wunde war eine Wunde und Blut war Blut. Und genügend Blutverlust würde ihn langsamer machen, trotz des Zorns. Außerdem würde der Zorn nicht ewig vorhal-ten. Von einem bestimmten Punkt an würde die Flamme, die doppelt so hell brannte, Owen verzehren. Genau wie auf der Nebelwelt. Er kämpfte und hieb und stach und wehrte aus allen Richtungen Angriffe ab. Er war ein Todtsteltzer, und ringsum fielen und starben die Leibwachen der Eisernen Hexe. Er hörte Hazel knurren und grunzen, und er spürte sie in seinem Rücken, wenn sie zurückweichen mußte, und so wußte er, daß sie noch immer bei ihm war. Auf der gegenüberliegenden Seite der Vorhalle erblickte er eine zweite Hazel mit dunkler Haut und Korkenzieherlocken. Sie fiel ganz plötzlich unter einem Dutzend Schwerthieben gleichzeitig, und so lange und angestrengt Owen auch hinsah, sie kam nicht wieder hoch. Giles war gegen eine Wand zurückgewichen und blutete aus einem Dutzend Wunden. Aus einem langen Schnitt an der Schläfe strömte Blut über sein Gesicht. Von Johana Wahn war nirgends eine Spur zu sehen. Und dann schrie Hazel mit einem Mal voller Schmerz und Entsetzen hinter ihm auf und taumelte ihm schwer in den Rük-ken, bevor sie auf die Knie sank. Owen wirbelte herum und schwang das Schwert mit aller Macht, und die Wachen wichen vor ihm zurück. Hazel saß zusammengesunken zu seinen Füßen. Sie hatte eine tiefe Bauchwunde erlitten. Das Schwert hatte sie fallengelassen, und sie bemühte sich, die große klaffende Wunde mit um den Leib geschlungenen Armen zusammenzuhalten, doch das Blut floß unaufhörlich weiter. Schon bald saß sie in einer großen Lache ihres eigenen Blutes. Owen erkannte, daß Hazel tödlich getroffen war. Er wollte ihren Namen rufen, doch er schien nicht genug Atem zu haben. Er fiel aus dem Zorn, und sein Schwertarm sank. Die Wachen stürzten heran. Und mit einemmal stiegen die ganze Wut und die Angst in Owen hoch und entfachten seine Kräfte aufs neue. Von einem Augenblick zum anderen wurde er von einer blendenden Energie erfüllt, die er kaum beherrschen konnte . Er ergab sich in sie hinein, und sie schoß brüllend aus ihm hervor wie eine unaufhaltsame Flutwelle. Die Wachen in seiner unmittelbaren Umgebung wurden in einem einzigen Augenblick verschlungen, und noch immer schoß weitere Energie aus ihm hervor und starben weitere Wachen. Die Überlebenden wollten sich um-wenden und fliehen, doch die seltsame Macht war binnen Sekunden über ihnen, und sie tötete alle ohne jede Gnade. Innerhalb weniger Augenblicke war jede einzelne Leibwache in der Vorhalle tot, und nur Giles, Johana, Tobias und Flynn und eine Handvoll Hazels standen noch. Owen brachte die Kräfte zum Versiegen und warf einen Blick auf die ungezählten Toten, und es war ihm völlig egal. Er sank neben Hazel in die Knie und nahm sie behutsam in die Arme. Sie lehnte den Kopf gegen seine Brust, und er wiegte sie sanft. Sie fühlte sich unglaublich leicht an in seinen Armen, als triebe sie bereits langsam von ihm weg. Rasch war seine Kleidung durchnäßt von ihren Blut, doch er bemerkte es nicht. Einmal mehr suchte er nach seinen Kräften, und wieder reagierten sie nicht. Was auch immer das Labyrinth des Wahnsinns ihm geschenkt hatte, es waren Kräfte der Zerstörung und nicht der Heilung. Er konnte eine ganze Armee erschlagen, doch er konnte die einzige Person nicht retten, die ihm mehr als alles andere bedeutete. Seine Brust war wie zugeschnürt, und er konnte kaum atmen. Hazel hob langsam den Kopf und versuchte, ihn anzulächeln. Ihre Zähne waren rot von Blut. Owen begann zu weinen. Schwere rasselnde Schluchzer schüttelten seinen gesamten Körper. Hazel bemühte sich, noch etwas zu ihm zu sagen , doch dann verließ sie auch noch ihre letzte Kraft , und sie lag tot in seinen Armen . Owen drückte sie fest an sich und wiegte sie wie ein schlafendes Kind. »Ich hab’ das doch alles nur für dich getan« , sagte er schluchzend. »Ich hab’ doch alles nur für dich getan , Hazel.« Er hörte , wie sich Schritte näherten , aber er blickte nicht auf. Er wollte mit niemandem reden. Doch dann hörte er , wie jemand mit Hazels Stimme leise seinen Namen sagte. Er hörte auf zu weinen, und wilde Hoffnung erfüllte sein Herz; doch erst, als die tote Hazel in seinen Armen einfach verschwand, begriff er, was geschehen war. Er sah nach oben, und dort stand Hazel d’Ark. Diesmal war es die echte Hazel. Er rappelte sich auf, und dann stand er einfach nur da und schaute sie an. Owen hatte Angst, sie zu berühren, weil sie sich vielleicht ebenfalls in Luft auflösen könnte. Schließlich streckte sie die Hände aus und nahm ihn in die Arme, und er umklammerte sie so heftig wie ein Ertrinkender sich an einem Rettungsring festhält. Und so standen sie lange Zeit da und atmeten schwer, und niemand sagte ein Wort. »Ich dachte, ich hätte dich verloren«, brachte Owen schließlich hervor. »Ich habe wirklich geglaubt, ich hätte dich verloren.« »Alles ist gut, Owen«, antwortete Hazel leise. »Ich bin ja da. Ich werde immer für dich dasein.« Nach einer Weile lösten sie sich wieder voneinander und traten zurück, um sich anzusehen. Owen wischte sich mit dem Handrücken die letzten Tränen aus dem Gesicht. Hazel lächelte ihn unsicher an. Dann sah sie sich in der Vorhalle um und nickte beeindruckt, als sie die vielen Toten erblickte. »Nicht schlecht, Aristo«, sagte sie. »Erinnere mich daran, daß ich dich niemals wütend auf mich mache.« »Das wird nie geschehen«, sagte Owen mit einer Stimme, die noch immer ein wenig rauh und unsicher klang. »Hazel, ich…« »Ich weiß, Owen. Laß uns später darüber reden, ja? Zuerst einmal müssen wir ein Imperium stürzen .« Owen schüttelte den Kopf . »Bei dir kommt das Geschäft immer an erster Stelle, was?« Johana Wahn und Giles kamen herbei. Johana hatte die Zeit damit verbracht, ESP-Blocker zu zerstören, und Giles hatte sich ein Taschentuch um den Kopf geschlungen, um die Blutung zu stoppen. Es war nicht das sauberste Taschentuch, doch Owen verzichtete auf einen diesbezüglichen Kommentar. Mit dem angetrockneten Blut im Gesicht sah sein Urahn fast wie ein antiker Seeräuber aus. »Nette Schau, Todtsteltzer«, sagte Johana Wahn steif. »Ich muß sagen, ich bin beeindruckt. Und Ihr seid sicher, daß Ihr nicht in Wirklichkeit die verkleidete Mater Mundi seid?« »Ganz sicher«, antwortete Owen. »Was auch immer ich bin oder werde, ein Esper ist es nicht. Es ist… irgendwie mehr als das.« »Trotzdem hast du dich wacker geschlagen, Verwandter«, sagte Giles. »Als Gelehrter wärst du die reinste Verschwendung gewesen, mein Junge.« Tobias und Flynn kamen aus dem Alkoven zum Vorschein, wo sie sich verkrochen hatten, und eilten zu den anderen. Flynns Kamera schwebte hinter ihnen her. »Wir sind ebenfalls unverletzt, für den Fall, daß es irgend jemanden interessiert«, sagte Tobias ein wenig beleidigt. »Oh, wir haben uns keinerlei Sorgen um Euch gemacht«, erwiderte Hazel. »Jedermann weiß, daß Journalisten schwieriger umzubringen sind als Kakerlaken.« Und dann, als hätten sie sich heimlich abgesprochen, drehten sich alle gleichzeitig um und sahen auf die großen stählernen Doppeltüren, die zu Löwensteins Hof führten. Mit einemmal war es in der Vorhalle ungewöhnlich still, als warteten selbst die Toten gespannt auf das, was als nächstes geschehen würde. »Sollen wir klopfen?« fragte Hazel. »Oder sprengen wir uns einen Weg hinein?« »Ich glaube nicht, daß wir klopfen müssen«, sagte Giles. »Die Löwenstein weiß, daß wir hier sind. Sie weiß sicherlich auch, daß sie uns nicht am Betreten ihres Hofes hindern kann.« Wie auf ein geheimes Zeichen hin schwangen die massiven schweren Türen langsam und lautlos auf. Blutrotes Licht fiel in die Vorhalle, und mit dem Licht kam der Gestank von Blut und Schwefel. Owen und Hazel setzten sich in Bewegung. Beide hielten ihre Schwerter und Pistolen in den Händen, und gemeinsam traten sie in die Hölle ein. Am Hof vor dem Eisernen Thron gab Alexander Sturm seinem Bedürfnis zu prahlen nach. Sein Leben als Imperialer Agent tief im Innern des Apparats der Rebellen hatte natürlich dazu geführt, daß er niemandem sagen konnte, wer und was er in Wirklichkeit war, so daß er nun die ersehnte Gelegenheit beim Schöpf ergriff und eine kleine Schau veranstaltete. Die Imperatorin lächelte anerkennend auf ihn herab, und Dram und Valentin blickten ziemlich eifersüchtig drein. Razor und der Sommer-Eiland starrten ihn von ihren Plätzen unmittelbar hinter dem Eisernen Thron kalt an, doch Sturm scherte sich keinen Deut um die Meinung der beiden. Razor war ein Investigator, und der Sommer-Eiland war ein Psychopath. Auch Schwejksam, Frost und Stelmach zählten nicht. Die drei waren bekannt dafür, daß sie die Imperatorin immer wieder enttäuscht hatten… wohingegen er, Alexander Sturm, brillante Erfolge vorwei-sen konnte. »Ich bin Imperialer Agent, seit die Rebellen auf Eisfels ihre Köpfe in die Hände gedrückt bekamen«, berichtete Sturm seinen Zuhörern voller Stolz. »Ich sah, wie Jakob fiel und gefangengenommen wurde, und ich wußte: Das war das Ende jeglicher Hoffnung für die Rebellion. Ich hatte so lange gekämpft, und das sollte alles völlig umsonst gewesen sein? Also ergab ich mich und schlug dem Imperium einen Handel vor. Es war ganz leicht. Sie waren froh, daß sie mich hatten. Sie erkannten meinen Wert. Seither habe ich mich tiefer und tiefer ins Herz des Untergrunds geschwindelt, und ein verdammter Dummkopf nach dem anderen schenkte mir sein Vertrauen. Ich sabotierte und unterlief ihre Operationen fast nach Belieben. Niemand hat mich jemals verdächtigt. Ich war Alexander Sturm, der große Rebellenheld, der Freund und Kamerad des legendären Jakob Ohnesorg. Ich machte mir ziemliche Sorgen, als Jakob plötzlich wieder auf der Bildfläche erschien, doch die Hirntechs hatten ganze Arbeit geleistet. Sie hatten dafür gesorgt, daß er sich kaum noch an seine Zeit auf Eisfels erinnerte, geschweige denn an meine Fahnenflucht und meinen Verrat. Er erinnerte sich noch nicht einmal daran, daß ich den Hirntechs dabei half, ihn zu foltern und zu konditionieren, um meinen neuen Herren meine Loyalität zu beweisen. Als er dann wieder auftauchte und ich ihm nicht mehr länger ausweichen konnte, weil ich sonst Verdacht erweckt hätte, da waren wir wie alte Freunde, die sich nach langer Zeit wiedersahen. Er hat niemals hinter mein Lächeln geblickt und die Verachtung in meinen Augen gesehen. Später dann war es nur noch eine Frage des geeigneten Zeitpunkts, bis ich die Kontrollworte benutzte, die unsere Hirntechs in Jakobs Unterbewußtsein eingepflanzt hatten. Und hier ist er nun, der große, berüchtigte Rebell Jakob Ohnesorg, und er steht vor Euer Majestät wie ein harmloses neugeborenes Kätzchen.« »Was ist mit der Kopfgeldjägerin?« erkundigte sich Razor. »Ich habe Berichte gesehen, denen zufolge sie Esperfähigkeiten besitzen soll…?« »Macht Euch ihretwegen keine Sorgen«, sagte Sturm leichthin. »Sie ist bis zum Hals voll mit Beruhigungsmitteln und in so viele Ketten und Fesseln gewickelt, daß es ein Wunder ist, wenn sie überhaupt noch stehen kann.« Er ging zu Ruby hinüber und trat ihr von hinten in die Kniekehlen. Sie sackte zu Boden, und ihre Ketten rasselten laut. Sturm lachte fröhlich und trat wieder vor den Thron. »Ich dachte, Ohnesorg sei Euer Freund?« erkundigte sich Kapitän Schwejksam. Sturm zuckte die Schultern. »Das war er auch, früher. Und dann hat er mich im Stich gelassen, weil er nur ein Mensch war, nichts weiter. Legenden sollten nicht alt und müde und langsam werden, und sie sollten nicht häufiger verlieren als gewinnen. Ich war es leid, zu den Verlierern zu gehören. Ich wollte auf der Seite der Sieger stehen. Ich wollte Luxus und Reichtum und ein schönes Leben, das die vielen Jahre der Mühen wettmachte. Niemand hat es mir je gedankt, daß ich so oft mein Leben riskiert habe, keiner von diesen Bastarden . Keiner hat jemals gesagt: Danke, du hast genug getan, jetzt kann jemand anderes weitermachen. Nein, sie wollten immer und immer mehr. Sogar Jakob. Noch einmal in die Schlacht, und noch einmal und noch einmal. Auf irgendeinem gottvergessenen Felsen, von dem ich bis dahin noch nie ein Wort gehört hatte, führten wir verblödete Bauern gegen ausgebildete Imperiale Truppen, und alles für nichts und wieder nichts. All das viele Blut und die Angst und die toten Freunde – ich war es satt bis oben hin. Als Jakob fiel und in Gefangenschaft geriet, hat mir das die Augen geöffnet. Ich erkannte, wie vergeblich die ganze Rebellion war. Selbst wenn wir gewonnen und die Imperatorin gestürzt hätten, wäre sie durch irgend jemanden ersetzt worden, der genauso ist wie sie. Das liegt in der Natur der Sache und der Art und Weise, wie die Dinge sich immer wieder entwik-keln. Also tauschte ich Armut und Hoffnungslosigkeit gegen Reichtum und Sicherheit ein. Und gegen eine Chance, die Rebellen für all die Jahre meines Lebens bezahlen zu lassen, die sie mir achtlos gestohlen haben.« »Er war trotzdem stets Euer Freund«, sagte Schwejksam. Sturm funkelte den Kapitän wütend an. »War er das? Ich weiß nicht einmal mehr, wer er ist! Er müßte so alt sein wie ich, aber seht ihn Euch an! Er ist jung, und ich bin es nicht. Er ist ein Mann, der wieder einmal das Schicksal in den Händen hält, und ich nicht. Mein ganzes Leben war unfair, und er war schon immer das Unfairste daran.« »Ich werde dich töten«, sagte Ruby Reise mit schwerer Zunge. Alle drehten sich nach der Kopfgeldjägerin um, die am Boden kniete und wegen ihrer Ketten nicht mehr auf die Beine kam. Sie hatte Mühe, den Kopf oben zu halten; doch sie warf Sturm haßerfüllte Blicke zu. »Er hat dir vertraut und dich geliebt wie einen Bruder. Er hat an deiner Seite gekämpft. Ich werde dich ganz langsam töten, du verräterischer Bastard. Ich werde dir das Herz herausreißen und es vor deinen Augen zer-quetschen, bevor du tot bist. Ketten können mich nicht halten, und Drogen lassen irgendwann in ihrer Wirkung nach. Ich werde dich sterben sehen, noch bevor ich sterbe.« »Halt den Mund«, sagte Sturm. Er stolzierte zu ihr hinüber und boxte sie auf den Mund. Ruby kippte hintenüber. »Ich konnte dich noch nie ausstehen, du Miststück.« Er versetzte ihr ein paar Tritte. »Ich denke, das reicht jetzt«, sagte Owen Todtsteltzer. Seine Stimme hallte scharf und befehlend durch den gesamten Hof, und Sturm wich unwillkürlich ein paar Schritte zu-rück. Alle drehten sich um und sahen, wie Owen seine Begleiter durch das Inferno hindurch zum Eisernen Thron führte. Zwei Todtsteltzer, beide Legenden und Männer, die das Schicksal der Menschheit in den Händen hielten. Hazel d’Ark, die einstige Piratin und Heldin der Rebellen. Johana Wahn, die heilige Verrückte des Esper-Untergrunds. Und hinter ihnen, wie Aas-geier mit großer Erfahrung auf Schlachtfeldern, die beiden Nachrichtenmänner Tobias und Flynn, die gekommen waren, um das Ende der Geschichte zu erleben, wie auch immer sie ausgehen mochte. Investigator Razor und Kit Sommer-Eiland traten hastig vor den Eisernen Thron und zwischen die Löwenstein und die Neuankömmlinge. Sturm eilte zurück zum Hohen Lord Dram und Valentin Wolf. Schwejksam und Frost zückten ihre Schwerter. Stelmach zog seinen Disruptor. Die Jungfrauen der Eisernen Hexe regten sich unruhig und fauchten die Eindring-linge an, während Owen seine Kameraden ungerührt zum Thron führte. Neben Ruby Reise machten sie halt. Ruby blickte ihre Freunde an und spuckte einen Mund voller Blut aus. »Hat ganz schön lange gedauert, bis ihr hier wart.« »Tut uns leid«, antwortete Owen. »Wir wurden ein wenig aufgehalten. Brauchst du Hilfe?« »Du träumst wohl, Aristo.« Ruby erhob sich, spannte die Arme, und die Ketten zerrissen und fielen von ihr ab. Sie grinste den wie betäubt dastehenden Sturm an. »Du hast doch nicht ernsthaft geglaubt, Ketten und Drogen könnten jemanden wie mich halten, oder?« Owen blickte sich am Hof um und ließ die schwelenden Krater, die brennenden Engel und die großen Löcher im Boden, aus denen die Schreie der Verdammten nach oben drangen, auf sich einwirken. Er betrachtete die Reihen mit den Gepfählten und die gefolterten Sünder, die an ihren Ketten von der Decke baumelten und das blutrote Licht, in das alles getaucht war, und als sein Blick schließlich wieder zurück zur Löwenstein wanderte und er sprach, da war seine Stimme so eiskalt wie seine Augen. »Hübscher Ort, den Ihr Euch da ausgesucht habt, Löwenstein. Er paßt zu Euch. Ihr hattet schon immer einen Hang zum Extremen, aber diesmal habt Ihr Euch selbst über-troffen, schätze ich. Ihr habt den Schritt von der geistig Verwirrten zur Psychopathin hinter Euch. Ihr seid krank im Kopf, Löwenstein. Eine tollwütige Hündin, ein rasendes wildes Tier; es ist unsere Pflicht, Euch aus dem Verkehr zu ziehen .« Die Löwenstein lehnte sich offensichtlich ungerührt auf ihrem Thron zurück. »Willkommen an Unserem Hof, Verbrecher . Wir haben Ihn und Seine Begleiter bereits erwartet, und Wir haben sogar ein paar Gäste eingeladen, besondere Freunde, die Er sicher gerne wiedersieht. Zum Beispiel…« Sie schnippte mit den Fingern, und eine tarnende Holoillusion erlosch. Schräg hinter dem Eisernen Thron kam ein großes hölzernes Kreuz zum Vorschein, und an das Kreuz genagelt war Schwester Oberin Beatrice Cristiana, die Heilige von Technos III. Ihre Nonnenrobe war zerrissen und blutverschmiert, und ihre Haube war verschwunden und durch eine Dornenkrone ersetzt worden. Getrocknetes Blut klebte an ihren durchbohrten Hand-gelenken und Knöcheln, und noch mehr Blut war über ihr Gesicht gelaufen, als man die Dornenkrone mit Gewalt auf ihren Kopf gedrückt hatte. Sie lebte noch und war bei vollem Be-wußtsein, so daß sie die schrecklichen Schmerzen der Wunden spürte, die man ihr zugefügt hatte. Ihr Gesicht war verzerrt und ließ nichts mehr von seiner normalen Ernsthaftigkeit erkennen, nur noch reines animalisches Leiden. »Sie schien so begierig darauf zu sein, als Märtyrerin zu sterben, daß Wir dachten, Wir sollten ihr den Gefallen tun«, höhn-te die Löwenstein. »Wenn sie es mit ihrer Religion wirklich ernst meint, müßte sie es eigentlich als Kompliment auffassen, oder nicht? Der Märtyrertod ist doch angeblich die höchste Ehre, die man ihnen in diesem Leben erweisen kann, stimmt’s?« »Du verdammtes Miststück! Du elende verfluchte Hure!« Überraschenderweise war es Tobias Shreck, der als erster unter dem Druck zerbrach. Er sprang vor, außer sich vor Wut, als wolle er Beatrice mit roher Gewalt befreien. Flynn mußte ihn packen und festhalten. »Laß mich los!« schrie Tobias und wehrte sich aus Leibeskräften. »Ich ertrage das nicht! Nicht Beatrice! Nicht sie! Sie ist der einzige anständige Mensch, dem ich je begegnet bin!« »Du wärst tot, bevor du auch nur in ihre Nähe kommen würdest, Chef«, sagte Flynn. Er mußte beinahe schreien, damit Tobias auf ihn hörte. »Sie will doch nur, daß einer von uns etwas Unüberlegtes versucht, damit sie ihre Jungfrauen auf ihn hetzen kann! Um eines ihrer verdammten Exempel zu statuieren!« »Er hat recht, Shreck«, sagte Giles. »Hört auf Euren Freund. Wir kümmern uns darum. Schließlich sind wir aus diesem Grund gekommen.« »Genau«, stimmte ihm Hazel zu. »Achte du nur darauf, daß deine Kamera läuft. Du wirst live vom Tod der Imperatorin berichten. Wie praktisch, daß du dir schon deine eigene Hölle gebaut hast, Löwenstein. Dann hast du es nicht mehr so weit, wenn wir dich von deinem Thron zerren und dir den verdammten Kopf abschneiden.« »Die Sache ist noch nicht vorbei!« fauchte die Löwenstein. »Beatrice, das ist dein Augenblick. Komm herunter und töte diesen Abschaum für mich!« Die Rebellen beobachteten ungläubig, wie die Schwester Oberin den Kopf hob und ihnen zulächelte. Mit einer konvulsi-ven Kraftanstrengung riß sie ihre Arme und Beine von den Nägeln los und sprang leichtfüßig zu Boden. Noch immer lächelnd setzte sie sich in Richtung der Rebellen in Bewegung, und jeder in der Nähe des Throns beeilte sich, ihr aus dem Weg zu gehen. Die Löwenstein lachte laut auf. Tobias starrte sie einen Augenblick lang dümmlich an, dann gestikulierte er Flynn, ja alles aufzunehmen. »Sie ist nicht echt«, knurrte Hazel. »Sie kann unmöglich echt sein. Kein Mensch hätte sich so leicht von diesem Kreuz befreien können!« »Stimmt«, sagte Owen. »Wahrscheinlich ist sie eine Art Furie. Eine Maschine. Die Löwenstein hat sie an das Kreuz genagelt, um uns aus der Fassung zu bringen.« »Und es hat funktioniert«, sagte Tobias. »Ich kann nicht glauben, daß ich mich schon wieder an der Nase habe herum-führen lassen. Ist denn niemand mehr das, was er zu sein vor-gibt?« »Ihr wärt überrascht«, sagte Owen. »Und jetzt tretet zurück und macht ein wenig Platz für uns, Nachrichtenmann. Es könnte gleich hektisch werden.« »Ich wußte gleich, daß sie Euch gefallen würde«, sagte die Löwenstein. »Sie ist ein Geschenk von Unserem lieben Valentin hier. Ursprünglich ließ er sie als Sexspielzeug konstruieren, weil er die echte nicht kriegen konnte; aber er dachte ganz richtig, daß Wir einen besseren Verwendungszweck finden würden. Wir haben dann noch ein paar besondere Aufrüstungen einbauen lassen, speziell für Euch. Sind Wir nicht gut zu Euch? Beatrice, Liebste, tötet sie allesamt und bringt Uns ihre Köp-fe.« Das Ding, das wie Schwester Beatrice aussah, sprang unglaublich schnell vor. In den Löchern seiner Hände wurden mit einem Mal Disruptormündungen sichtbar, und blendend grelle Energiestrahlen zuckten durch den Raum. Sie verfehlten Hazel und Owen nur knapp, weil die beiden sich rechtzeitig zur Seite geworfen hatten; doch Giles wurde mitten in die Brust getroffen. Der Einschlag warf ihn rückwärts zu Boden. Hazel riß ihre Projektilwaffe hoch und eröffnete das Feuer, aber die Kugeln prallten als harmlose Querschläger von der Stahlkarkasse unter der künstlichen Haut ab. Owen feuerte seinen Disruptor ab. Unglücklicherweise duckte sich die Maschine unter dem Strahl weg und stürmte weiter vor. Sie war über Hazel, bevor sie die Waffe wegwerfen und ihr Schwert herausreißen konnte. Mit einer Hand packte sie Hazel an der Kehle und hob sie hoch. Hazel keuchte und rang nach Atem, während sie hilflos in der Luft zappelte und mit beiden Händen versuchte, den stählernen Würgegriff zu lockern, der sie zu ersticken drohte. Owen warf sich von hinten auf die Maschine, doch sie wirbelte unmenschlich schnell herum und schlug ihn mit der freien Hand zur Seite wie ein störrisches Kind. Hazels Augen traten hervor, und sie lief puterrot an. Owen war augenblicklich wieder auf den Beinen, rief den Zorn herbei und stürzte sich erneut auf die Furie. Diesmal duckte er sich unter ihrem Schlag hindurch und hämmerte das Schwert gegen Beatrices ungeschützte Kehle. Stahl krachte gegen Stahl, und der Schlag prellte Owen das Schwert aus der Hand. Er zögerte keine Sekunde und hämmerte die nackte Faust mit der gesamten Kraft seines Zorns in die metallene Seite der Maschine. Zu seiner eigenen Überraschung gaben die Stahlrippen unter der Wucht seines Schlages nach, und die Maschine taumelte zur Seite, aber ihr Griff um Hazels Kehle lockerte sich keinen Deut. Owen schlug wieder und wieder zu, ohne auf die Schmerzen in der Faust zu achten, und die Maschine zeigte Wirkung, wenn auch nicht genug, um ihre Beute loszulassen. Doch dann trat Johana Wahn vor, und in ihrer Hand formte sich eine Schwertklinge aus schimmernder psionischer Energie . Sie schlug zu, und die Klinge ging glatt durch den Arm der Furie . Hazel krachte zu Boden, die würgende Stahlhand noch immer an der Kehle. Sie zappelte wie besessen und riß mit beiden Händen an den Metallfingern. Rasch war Owen bei ihr, und mit vereinten Kräften bogen sie die Finger einen nach dem anderen zur Seite und zogen die Hand von Hazels Hals. Owen warf die abgetrennte Hand zur Seite, wo sie zuckend liegenblieb wie eine riesige mißgestaltete Spinne. Das Ding, das wie Schwester Beatrice aussah, stand jetzt Johana Wahn gegenüber, die es böse grinsend anstarrte. Das Energieschwert verschwand aus ihrer Hand, und sie vollführte eine einladende Geste. Beatrice starrte die Esperfrau einen Augenblick lang mit einem verwirrten Ausdruck auf dem Gesicht an, dann zuckte sie plötzlich zusammen und bog den Rücken durch. Merkwürdige Geräusche drangen aus dem Mund der falschen Schwester, und ihre Brust und die Seiten wölbten sich vor und zurück. Schließlich riß sie den Mund unmöglich weit auf und erbrach ihre künstlichen Eingeweide. Mehr und mehr elektronischer Schrott spritzte aus ihrem Mund, als Johana sie mit ihrem ESP ausweidete, und ringsum klapperten hochentwickelte Platinen, Schaltkreise und Chips zu Boden. Schließlich war nichts mehr von Beatrice übrig bis auf die schwankende künstliche Hülle, und ihre Innereien lagen zuckend und qualmend in weitem Umkreis verteilt auf dem Boden. Johana grinste erneut, schnippte mit dem Finger in Richtung der Maschine, und die leblose Hülle krachte zu Boden und rührte sich nicht mehr. Owen und Hazel erhoben sich langsam und betrachteten die Überreste. »Nicht schlecht für eine Nonne«, sagte Hazel mit einer Stimme, die kaum rauh klang. Owen zuckte zusammen und eilte zu seinem Urahn Giles, der sich in diesem Augenblick aufrichtete und benommen den Kopf schüttelte. Owen half ihm auf die Beine. »Du hast einen Disruptorschuß aus allernächster Nähe mitten in die Brust abgekriegt!« sagte er fast vorwurfsvoll. »Wieso bist du nicht tot?« »Ein Schutzschild«, erwiderte Giles wohlgelaunt. »Ich habe seit Hakeldamach daran gearbeitet. Es kostet eine Menge Kraft, aber ich denke, allmählich habe ich den Trick raus. Du könntest es auch, wenn du es nur trainiert hättest.« »Du weißt doch selbst, wie das ist«, erwiderte Owen. »Ich finde einfach keine Zeit. Wenn man eine Rebellion anzettelt, kommt eine Sache nach der anderen dazwischen.« Die Rebellen klopften den Staub aus ihren Kleidern und wandten sich wieder zum Thron um. Die Löwenstein begegnete ungerührt ihren Blicken. »Immer macht Ihr Unsere Lieb-lingsspielzeuge kaputt! Also schön, dann probieren Wir eben etwas anderes. Owen Todtsteltzer, Hazel d’Ark, Kode Blau Zwo Zwo!« Sie grinste triumphierend, als sie die Kontrollworte ausstieß, die von der verräterischen KI Ozymandius in Owens und Hazels Unterbewußtsein implantiert worden waren, doch dann erlosch ihr Lächeln. Die beiden standen völlig ungerührt da. Die Löwenstein startete einen zweiten Versuch, mit dem gleichen Ergebnis. Jetzt war die Reihe an Owen zu grinsen. »Das funktioniert nicht mehr. Das haben wir schon lange hinter uns.« Die Löwenstein wirbelte zu Jakob Ohnesorg herum. »Er ist noch immer Unsere Kreatur! Töte Er seine Freunde!« Ohnesorg grinste und schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Löwenstein. Ich stehe nicht unter deiner Kontrolle. Ich habe nie unter deiner Kontrolle gestanden. Kontrollworte funktionieren nicht mehr bei uns. Ich habe nur deswegen mitgemacht, weil ich sichergehen wollte, daß man mich hierher bringt, direkt zu dir, für den Fall, daß Owen und die anderen es nicht schaffen. Ruby hat mitgespielt, nachdem sie erkannte, was ich vorhatte.« Ruby schnaufte. »Hätte ich gewußt, daß man mich in Ketten wickelt wie einen Entfesselungskünstler und dann durch die Gegend tritt wie eine Puppe, dann hätte ich mir die Sache zweimal überlegt.« »Ich mußte überzeugend sein«, erwiderte Ohnesorg. »Außerdem hast du mir immer wieder erzählt, wie hart du seist. Ich wußte, daß du es vertragen konntest.« »Das nächste Mal kommst du in Ketten, und dann werden wir sehen, wie dir das gefällt.« »Hör schon auf, Ruby«, sagte Ohnesorg. »Vergiß nicht, es geht um die Rebellion.« »Steck dir deine Rebellion sonstwo hin. Ich bin wegen der Beute dabei und sonst gar nichts, vergiß das bloß nicht.« Ohnesorg seufzte und schüttelte den Kopf. Dann wandte er sich zu Alexander Sturm um. Die beiden Männer, die einmal Freunde gewesen waren, starrten sich an. »Ich habe dich schon seit einer ganzen Weile in Verdacht, Alexander«, sagte Ohnesorg schließlich. »Zuerst waren es Kleinigkeiten, an die ich mich erinnerte, damals auf Eisfels . Dinge über dich, die nicht zu dem Mann passen wollten, den ich von früher her kannte. Zuerst führte ich es auf das Alter zurück. Wir alle ändern uns, wenn wir älter werden. Aber ich wollte nicht glauben, daß du dich so sehr verändert haben könntest, bis du die Kontrollworte gegen mich eingesetzt hast. Ich spielte mit, um herauszufinden, wer du heute wirklich bist. Verdammt, Alex, habe ich dich wirklich so schlimm im Stich gelassen? Ich wollte dich nie verletzen.« »O ja, du hast es immer nur gut gemeint, Jakob«, erwiderte Sturm. »Du hast mir das Blaue vom Himmel herunter versprochen; aber du hast nie auch nur ein einziges deiner Versprechen gehalten. Also ging ich zu Leuten, die zu ihren Versprechen standen. Zu Leuten, denen ich vertrauen konnte. Sie kümmerten sich um mich und behandelten mich gut. Besser, als du es je getan hast, Jakob.« Sturm zitterte vor Wut, als er endete. Er spuckte die letzten Worte fast hervor in dem Versuch, Jakob selbst jetzt noch zu verletzen. Ohnesorg seufzte und erwiderte Sturms Blick. »Du armer Bastard. Du hättest jederzeit zu mir kommen können. Du hättest mit mir reden können. Wir hätten uns etwas ausgedacht. Ich hätte Verständnis dafür gehabt, das weißt du. Du warst mein Freund, Alex!« »Du hast immer für alles so verdammt viel Verständnis gehabt! Der Heilige Jakob, der Held und Erlöser der Geknechteten, der für jeden Zeit hatte, nur nicht für seine Freunde! Mir wurde schlecht von deinem grenzenlosen Großmut, und ich hatte es satt, immer und immer wieder den selbstlosen Helden spielen zu müssen, ohne an das Leben zu denken, das wir hätten führen können! Und das alles ist deine Schuld, Jakob. Du hast mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Du bist für alles verantwortlich, was ich getan habe. Und jetzt werde ich hier sterben, und auch das wegen dir! Ich weiß es. Aber ich werde es dir zeigen, ein letztes Mal, bevor ich gehe. Du sollst an mich denken!« Er schoß vor, und plötzlich war ein bis dahin verstecktes Messer in seiner Hand. Aber er hatte es nicht auf Jakob abgesehen, sondern auf Ruby Reise. Sein Messer zuckte nach ihrer Kehle, bevor Ohnesorg reagieren konnte. Doch Rubys Hand schoß unglaublich schnell hoch. Sie schlug Sturm das Messer aus der Hand und hämmerte ihm die Faust mit aller Kraft direkt über dem Herzen in die Brust. Sie versank bis zum Hand-gelenk, unmittelbar unter dem Brustbein. Sturm blieb wie vom Blitz getroffen stehen. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht, und er brach zusammen: ein alter Mann, der so schwer getroffen worden war, daß er nicht einmal mehr atmen konnte. Das Messer fiel aus seiner gefühllos gewordenen Hand. Ohnesorg war augenblicklich an seiner Seite; doch bis er den Alten Mann vorsichtig an den Schultern berührt hatte, war Sturm bereits tot. Ruby hatte sein Herz mit einem Schlag zu Brei zerschmettert. Ohnesorg stand auf und blickte sie vorwurfsvoll an. »Er war viele Jahre mein Freund.« »Ich weiß«, erwiderte Ruby. »Deswegen habe ich ihn getötet. Damit du es nicht tun mußtest.« Ohnesorg nickte. Er brachte es nicht über sich, ihr zu danken. Nicht jetzt. Vielleicht später. »Das ist ja alles sehr interessant, um nicht zu sagen sentimental und wirklich zum Kotzen«, meldete sich die Löwenstein wieder zu Wort. »Aber das Spiel ist noch nicht vorbei. Ich habe noch ein paar Asse im Ärmel. Versuchen wir diesmal etwas Offensichtlicheres. Wachen! Eine Lordschaft für den, der mir den Kopf des Todtsteltzers bringt!« Die Wachen, die hinter dem Thron in Reih und Glied standen, stürzten wie ein Mann nach vorn, und die holographischen Verkleidungen als brennende Engel fielen in sich zusammen und enthüllten die bewaffneten Männer darunter. Die Monofaserschwerter in ihren Händen waren allerdings real. Energiebe-triebene Waffen mit einer Klinge, die unendlich dünn war und scharf genug, um wirklich alles zu durchtrennen . So viele Männer mit dieser Waffe ausgerüstet hätten eine ganze Armee aufhalten können. Also gaben ihnen die Rebellen erst gar nicht die Gelegenheit, bis zu ihnen vorzudringen. Johana Wahn vollführte eine Bewegung mit ihrer Hand, und die Energiespeicher, die zur Aufrechterhaltung der Monofaserklingen erforderlich waren, versagten ihren Dienst. Mit einemmal waren die Schwerter nur noch ganz gewöhnliche Waffen. Und während die Wachen sich noch mit diesem Gedanken anzufreunden versuchten, wurden sie von einer heranstürmenden Woge pyroki-netischen Feuers getroffen, das Ohnesorg und Ruby ihnen ent-gegenschleuderten. Die Wachen gingen in Flammen auf. Einige von ihnen starben auf der Stelle; andere wandten sich ab und rannten, als könnten sie so die tödlichen Flammen abschütteln. Und während sie noch rannten, erleuchteten sie den Hof wie hell strahlende Kerzen, bis einer nach dem anderen fiel und erlosch. Die Löwenstein starrte mit leeren Blicken auf die verkohlten und rauchenden Leichen rings um ihren Thron, und dann wandte sie sich an ihre Jungfrauen. »Tötet sie! Tötet sie alle!« Die Jungfrauen stürzten vor wie Kampfhunde, die man von der Leine gelassen hatte . Zähne zeigten sich in fauchenden Mündern, und unter ihren Fingernägeln fuhren stählerne Klauen aus. Die Jungfrauen waren Raubtiere in Menschengestalt . Sie waren darauf trainiert, eher zu sterben als zu versagen – und sie waren mit kybernetischen Aufrüstungen vollgepackt. Johana Wahn trat ihnen allein entgegen. »Das alles ist viel zu weit gegangen. Es ist an der Zeit, der Sache ein Ende zu bereiten.« Ihr ESP peitschte hinaus und sank tief die Gehirne der Jungfrauen, wo es die Konditionierung der erbarmungswürdigen Wesen an der Wurzel packte und bekämpfte. Die Jungfrauen gingen schreiend und stöhnend zu Boden und rollten mit zuk-kenden Gliedern hin und her wie Tiere, während in ihren Gehirnen ein unsichtbarer Kampf tobte. Johana riß mit ihrem ESP die Konditionierung ein. Sie löste neurale Verbindungen, die von Hirntechs geknüpft worden waren, heilte beschädigtes Hirngewebe und machte die Jungfrauen wieder zu dem, was sie einst gewesen waren, bevor die Löwenstein sie zu ihren Skla-vinnen gemacht hatte. Innerhalb weniger Augenblicke war alles vorbei, und Johana zog sich aus den Gehirnen der Mädchen zurück. Die Jungfrauen hörten auf, sich wie Tiere zu gebärden und setzten sich auf. Zum ersten Mal seit Jahren dachten und fühlten sie wieder wie Menschen. Zuerst waren sie wie betäubt; dann kamen sie allmählich wieder zu sich und fanden ihr altes Selbst. Einige schrien auf bei der Erinnerung an das, was sie getan hatten – was zu tun, sie die Löwenstein gezwungen hatte. Sie schüttelten sich und zitterten am ganzen Leib. Ihre künstlichen Augen konnten nicht weinen. Andere blickten sich einfach nur in äußerster Verwirrung um. Tobias Shreck starrte angespannt auf eine der ehemaligen Jungfrauen, dann trat er einen Schritt vor. »Klarissa? Klarissa, bist du es?« Die Jungfrau blickte den Nachrichtenmann verständnislos an, und nach einigen Sekunden zeichnete sich Erkennen auf ihrem Gesicht ab. »Tobias! Cousin Tobias!« Sie rannte in seine Arme. Tobias drückte sie fest an sich; dann zog er seine mitgenommene Jacke aus und wickelte sie darin ein. Klarissa blickte sich um und sah zum ersten Mal die Hölle, in die Löwenstein ihren Hof verwandelt hatte. »Sind wir tot, Tobias?« »Nein, Cousine. Du lebst wieder. Die Rebellion ist zu euch gekommen, und alle Gefangenen erhalten ihre Freiheit zu-rück.« Er drehte sich zu den anderen um. »Sie gehört zu meiner Familie. Sie ist die Nichte des Shreck. Die Löwenstein stahl sie meinem Onkel Gregor und verwandelte sie in ein Monster, und niemand von uns konnte etwas dagegen tun. Ich danke Euch, Johana. Wobei mir der Gedanke kommt, daß eine ganze Menge Leute Euch wahrscheinlich danken wollen.« »Keine große Sache«, erwiderte Johana Wahn. »Ich bin der Meinung, daß es genug Blutvergießen gegeben hat. Das ist Löwensteins Weg. Wir sind anders, oder wir sollten zumindest anders sein. Ihr und Flynn, Ihr kümmert Euch um die Jungfrauen. Wir sind noch immer nicht mit unserer Arbeit am Ende.« Und während Tobias und Flynn die Jungfrauen aufsammel-ten und aus der Schußlinie scheuchten, trat Johana vor den Thron und konfrontierte die Löwenstein aufs neue. Und dann hielt sie inne, denn Kapitän Schwejksam trat unsicher vor und starrte sie mit fragenden Blicken an. Sie erwiderte seine Blicke, ohne ihm die Sache leichter zu machen, aber schließlich erhellte sich Schwejksams Gesicht. »Diana?« »Nein, das bin ich nicht mehr«, erwiderte Johana. »Das war jemand anderes.« »Du bist kaum wiederzuerkennen . Du siehst so… anders aus.« »Das nennt man erwachsen werden, Kapitän. Irgendwann geschieht das mit jedem.« »Er kennt diese Person?« fragte die Löwenstein mit gerunzelter Stirn. »Selbstverständlich«, antwortete Frost für ihn. »Das ist seine Tochter Diana. Diana Vertue. Sie war Schiffsesper auf seinem letzten Schiff.« Schwejksam blickte zu Frost. »Das wußtet Ihr? Seit wann?« »Ich erkannte ihr Bild in einer Postille der Sicherheit. Es war vor ein paar Monaten.« »Und warum habt Ihr mir nichts gesagt?« »Ihr wart noch nicht bereit, es zu verdauen. Ich bin nicht einmal sicher, ob Ihr es jetzt seid. Und ich wollte nicht, daß es Euch von Eurer Verantwortung für das Schiff und Eure Leute ablenkt.« Schwejksam drehte sich wieder zu Johana Wahn um. »Man hat mir erzählt, daß du dich dem Untergrund angeschlossen hättest. Aber was ist aus dir geworden? Was ist mit deiner Stimme? Du siehst aus…« »Als wäre ich durch die Hölle gegangen? Das bin ich. Dieser Ort hier jagt mir keinen Schrecken mehr ein. Ich habe die echte Hölle gesehen . Ich bin nicht mehr Diana Vertue. Sie starb schreiend in den Verhörzellen von Silo Neun, auch bekannt als Hölle des Wurmwächters . Jetzt bin ich Johana Wahn. Für heute und für immer. Aber sind wir nicht beide andere Menschen als früher, Vater? Auch du hast dich verändert. Aus dieser Nähe kann ich spüren, wie die Energien des Labyrinths des Wahnsinns in dir brennen . Wie fühlt es sich an, Vater, zu wissen, daß man zur gleichen Sorte Person geworden ist, die man früher gejagt und getötet hat?« »Diana…« »Johana. Ich heiße Johana.« »Also schön, Johana. Ich hatte keine Ahnung, daß man dich in Silo Neun gesteckt hat. Wenn ich es gewußt hätte, wäre ich…« »Was? Willst du sagen, du wärst mit Gewalt in eins der best-bewachten Gefängnisse des Imperiums eingebrochen, um mich zu retten?« »Ja«, sagte Schwejksam einfach. »Wenn ich es gewußt hätte, wäre ich zu dir gekommen.« Johana nickte langsam. »Ja. Vielleicht hättest du das wirklich getan. Aber das ist nicht geschehen. Auf Unseeli hast du mir etwas versprochen, Vater. Du hast versprochen, nie wieder zuzulassen, daß man mich quält. Du hast mich belegen, Vater.« »Es tut mir leid, mein Kind. Es tut mir so unendlich leid.« »Und jetzt stehen wir hier, auf unterschiedlichen Seiten, und führen Krieg gegeneinander. Und all das nur wegen der Eisernen Hexe. Wie kannst du sie nur immer noch verteidigen, nach allem, was sie getan hat? Nach allem, was sie mir angetan hat?« »Sie ist meine Imperatorin«, antwortete Schwejksam. Die Löwenstein sprang von ihrem Thron herab, stolzierte zu Schwejksam und schlug ihm hart ins Gesicht. Sein Kopf flog nach hinten, doch er blieb stehen. Die Löwenstein brachte ihr Gesicht ganz dicht vor das seine, so dicht, daß ihr Speichel in sein Gesicht spritzte, als sie sprach. »Verräter! Verdammter Verräter! Er hat seine Kräfte vor Uns verborgen; Er hat uns in jeder Mission enttäuscht, die Wir ihm gaben, und jetzt finden Wir heraus, daß Seine eigene Tochter einer der größten Feinde des Imperiums ist! Verräter!« »Das mag alles zutreffen, Euer Majestät«, erwiderte Schwejksam mit fester Stimme. »Trotzdem seid Ihr noch immer meine Imperatorin.« Die Löwenstein lachte ihm ins Gesicht und holte zu einem weiteren Schlag aus. Und dann ächzte sie laut, und ihre Augen weiteten sich. Eine unsichtbare Kraft hatte ihre Hand gepackt und riß sie nach hinten. Sie versuchte, sich zu befreien, doch es ging nicht. Ihr Blick wanderte zu Johana Wahn, die sie finster anstarrte. »Das reicht, Hexe. Das ist mein Vater, und du wirst ihn nicht noch einmal schlagen.« »Ich begrüße deine Geste, Johana«, sagte Schwejksam. »Aber jetzt laß sie los. Bitte.« Johana rümpfte die Nase, lockerte ihren Griff und versetzte der Imperatorin einen mentalen Stoß, der sie zu ihrem Thron zurückstolpern ließ. Rasch fand die Löwenstein ihr Gleichgewicht wieder. Mit trotziger Erhabenheit nahm sie auf dem Thron Platz . Sie war noch immer die Imperatorin, und sie war noch längst nicht geschlagen. Sie starrte um sich, und ihr Blick fiel auf Valentin Wolf. »Seht mich nicht an«, sagte der Wolf. »Ich erkenne eine verlorene Sache, wenn ich eine sehe. Sicher, ich könnte für Euch kämpfen. Ich besitze Drogen, die mir das ermöglichen. Aber ich erkenne wirklich keinen Sinn darin. Die Zeit der Rebellen ist gekommen. Und wie es scheint, habe ich mich ein wenig zu voreilig vom Untergrund losgesagt. So. Ich werde mich aus allem heraushalten und meine Dienste der Seite anbieten, die hinterher als Sieger dasteht. Leute wie ich werden immer gebraucht.« »Du kämpfst nur deshalb nicht, weil du Angst hast, du könntest dein Make-up verschmieren«, sagte Hazel. Valentin grinste. »Das auch.« »Meint Ihr wirklich, wir würden Euch vergeben, was Eure Kriegsmaschinen auf Virimonde angerichtet haben?« fragte Owen. »Glaubt Ihr allen Ernstes, wir würden Euch all das Entsetzen und Blutvergießen und Leiden vergeben, das Ihr über eine harmlose Bevölkerung aus Bauern gebracht habt, Wolf?« Der Wolf zuckte die Schultern. »Ich habe lediglich Befehlen gehorcht. Keine originelle Ausrede, das weiß ich selbst, andererseits sind die alten Witze immer noch die besten. Und ich kann äußerst loyal sein – im Gegenzug für die entsprechenden Belohnungen, versteht sich. Ich bin sicher, die Anführer der Untergrundbewegung wissen meinen Wert zu schätzen. Ich weiß vieles, versteht Ihr? Dinge, die für den Untergrund wichtig sind, falls er ohne unnötiges Blutvergießen und Leid die Kontrolle über das Imperium erlangen will. Was ist für Euch wichtiger, Todtsteltzer? Meine Bestrafung oder möglichst wenig Blutvergießen beim Errichten eines neuen Imperiums? Nein, sie werden mir vergeben, ganz gleich, wie laut der Pöbel nach meinem Kopf schreit. Ich bin viel zu wertvoll, um verschwendet zu werden. Aber keine Angst, Todtsteltzer, Euch bleibt ja immer noch die Imperatorin zum Töten. Viel Spaß dabei. Man hat nicht jeden Tag Gelegenheit, eine Herrscherin zu ermorden, nicht wahr?« »Zu exekutieren«, korrigierte Owen. Valentin grinste. »Ihr liebt wohl solche Wortspielereien, wie, Todtsteltzer?« Die Löwenstein drehte sich auf ihrem Thron verzweifelt zu ihren beiden letzten Leibwächtern um. »Razor! Sommer-Eiland! Verteidigt Uns!« »Nein«, widersprach Kit gelassen. »Ich denke nicht, daß ich das tun werde. Ihr seid schuld daran, daß David auf Virimonde sterben mußte. Ich bin nur aus einem einzigen Grund hierher zurückgekehrt. Ich wollte aus der Nähe sehen, wie Ihr sterbt. Und Euch selbst töten, falls nötig. Mein David ist tot. Ich werde mir Euren Tod mit Freuden ansehen, Löwenstein.« Razor riß das Schwert heraus und wirbelte es mit einem brutalen Schwung seitlich in Richtung von Kits Hals. Doch trotz all seiner Investigator-Schnelligkeit und seines Trainings schaffte er es nicht, den Sommer-Eiland zu überraschen. Kits eigenes Schwert war genau an der richtigen Stelle, um den Hieb abzublocken – als hätte er die ganze Zeit über gewußt, was Razor tun würde. Und vielleicht war das tatsächlich so. Immerhin war er Kid Death, der lächelnde Killer. Die beiden Männer sprangen auseinander, zwei perfekte Kämpfer, die zu-sammengekommen waren, um endlich herauszufinden, wer von beiden der Bessere war. Ihre Schwerter krachten gegeneinander, und sie umkreisten sich in einer verwirrenden Serie von Streichen und Paraden. Razor war ein Investigator. Er war von Kindesbeinen an zu einer perfekten Tötungsmaschine in Diensten der Imperatorin ausgebildet worden. Kit Sommer-Eiland auf der anderen Seite war ein natürlicher Psychopath, ein Genie, was den Schwertkampf und das Töten anbetraf. Er hatte seine eigene Familie umgebracht, weil das Töten ihm Freude bereitete. Zwei Männer, die den Tod zu ihrer Herrin gemacht hatten, und die nichts von Gnade oder Erbarmen wußten. Und am Ende war es der Genius, der sich gegenüber dem Training durchsetzte. Kit lockte Razor in ein Corps à Corps, grinste ihn über die gekreuzten Schwerter hinweg fröhlich an und schob ihm mit der anderen Hand einen Dolch zwischen die Rippen. Einen Augenblick lang wirkte Razor verblüfft, als könne er nicht glauben, was geschehen war, dann schwand die Kraft aus seinen Beinen, und er sank in die Knie. Kit kniete zusammen mit ihm nieder und schob den Dolch noch ein wenig tiefer. Razor ließ das Schwert fallen. Er begegnete Kits Blick und brachte sogar ein verächtliches Schnauben zustande. »Du hast mich nur geschlagen, weil ich alt und langsam geworden bin, Knabe.« »Nein«, widersprach Kit. »Ich habe dich geschlagen, weil du immer noch Angst vor dem Sterben hast. Ich hatte niemals Angst davor. Und jetzt halt den Mund und stirb. Ich habe noch andere Dinge zu erledigen.« Er schob den Dolch noch einen Zoll tiefer, und das Licht in Razors Augen erlosch. Er kippte hintenüber und lag still. Kit wartete einen Augenblick, bis der letzte Atemhauch aus seinem Feind gewichen war, dann grinste er flüchtig, nahm seinen Dolch wieder an sich und erhob sich. Er nickte Owen zu. »Das Imperium hat David getötet. Nicht ich. Er war der einzige Freund, den ich je gehabt habe. Ich schätze, ich bin wieder bei der Rebellion.« »Was läßt Euch denken, wir würden einen Irren wie Euch bei uns dulden?« fragte Johana. Kit hob eine Augenbraue. »Hört euch das an! Nein, man wird mich wieder aufnehmen . Leute wie ich werden immer gebraucht. Irgend jemand muß die Schmutzarbeit erledigen, die niemand anderes machen will. Mir ist es egal. Ich bin ein Killer. Ich bin da, wo das Töten stattfindet.« Löwenstein hob eine Hand und spielte mit den Fingern im Haar. Lange blonde Strähnen lösten sich und fielen herab. »Will denn niemand seine Imperatorin in ihrer Stunde der Not verteidigen?« rief sie. »Ist Uns denn kein einziges loyales Sub-jekt verblieben?« »Zur Hölle«, sagte Dram. »Ich schätze, da rede ich auch noch ein Wörtchen mit.« Er trat vor und postierte sich zwischen dem Thron und den Rebellen. »Ich habe immer zu Euch gehört, Löwenstein. Bis daß der Tod uns scheidet. Ihr habt mich erschaffen. Ihr habt mir alles gegeben. Und wenn mein Leben auch ein wenig kürzer war, als es hätte sein sollen – langweilig war es ganz bestimmt nicht.« Er grinste Owen an. »Ich habe mich auf Virimonde köstlich amüsiert, Todtsteltzer. Es war amüsant, zu sehen, wie deine Bauern vor mir davonrannten. Ich habe sie niedergestreckt und zertreten. Ich habe ihr Blut in der gepflügten Erde versickern und ihre Städte im frühen Morgen-grauen brennen gesehen. Ich habe deine Welt gefressen und wieder ausgespuckt, Todtsteltzer, und ich habe jede einzelne Minute davon genossen. Ich bin Dram, der Witwenmacher, der Unbesiegte. Und nachdem ich erst dich und deine Freunde ge-tötet habe, werde ich eigenhändig die Truppen führen, die eure Rebellion dahin zurücktreiben, wo sie hingehört: in den Gully. Ihr hattet nie eine echte Chance. Ihr seid Abschaum, die Nied-rigsten unter den Niedrigen, nichts als Dreck unter den Absätzen. Tritt vor, Todtsteltzer, und ich schlage dir deinen dummen Schädel von den Schultern und stecke ihn auf einen Pfahl.« »Verdammt!« entfuhr es Hazel. »Dieser Kerl schwingt sogar noch längere Reden als du, Owen.« »Keine Sorge, Hazel«, sagte Owen. »Damit ist es bald vorbei.« »Nein!« bellte Giles Todtsteltzer und hielt Owen mit ausge-strecktem Arm zurück, als dieser sich in Bewegung setzen wollte. »Er gehört mir.« Der ursprüngliche Todtsteltzer trat vor, und Dram nahm eine Verteidigungsposition ein. Die Spitze seines Schwerts war auf Giles gerichtet. Giles schüttelte den Kopf. »Du bist ein Amateur. Wer auch immer du bist, Dram bist du nicht. Dram war mein eigener Sohn, und ich habe ihn ausgebildet. Er war ein besserer Schwertkämpfer, als du es je sein wirst. Ich selbst ha-be ihn auf Haden getötet. Es war notwendig. Als ich hierher kam und dich beim Thron stehen sah, da wußte ich gleich, daß ich es erneut tun müßte. Es hat mich fast umgebracht, meinen eigenen Sohn töten zu müssen; aber ich glaube kaum, daß es mir Schwierigkeiten bereitet, einen Klon zu vernichten.« Dram sah ihn mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen an. »Du bist mein Vater? Das wußte ich nicht. Die Löwenstein hat es mir nie gesagt. Du meinst also, ich bin ebenfalls ein Todtsteltzer?« »Nein«, widersprach Giles. »Du bist ein Klon, weiter nichts.« »Warte«, sagte Dram. »Wir müssen darüber reden.« »Nein, müssen wir nicht«, erwiderte Giles. »Du bist nicht mein Sohn. Du bist nicht einmal ein Mensch. Wie kannst du es wagen, das Gesicht meines Sohnes zu tragen?« Er hob den Disraptor und schoß Dram mitten ins Gesicht. Der Energiestrahl riß den Kopf des Klons vom Rumpf, und der Leichnam sank zuckend zu Boden. Die Löwenstein sah voller Entsetzen auf Giles, und der ursprüngliche Todtsteltzer grinste sie an. »Was hast du erwartet? Noch ein Duell? Eine Angelegenheit der Ehre, die mit dem Schwert ausgetragen wird? Das habe ich hinter mir. Und das hier hatte nichts mit Ehre zu tun. Das hier war die Beseitigung von Abfall, der niemals hätte existieren dürfen.« Er wandte sich ab und hob abwehrend eine Hand, als Owen zu ihm kommen und ihn trösten wollte. Er stellte sich ein wenig abseits, um allein zu sein. Die Löwenstein saß sprachlos auf ihrem Thron und starrte auf den enthaupteten Leichnam zu ihren Füßen. Kapitän Schwejksam und Investigator Frost wechselten einen langen Blick. »Sieht so aus, als läge wieder einmal alles an uns, Investigator.« »Es wäre nicht das erste Mal, Kapitän.« Schwejksam nickte der Löwenstein zu. »Wir haben sehr viele Veränderungen durchgemacht, Euer Majestät, ob es uns nun gefallen hat oder nicht; doch unsere Loyalität hat zu keiner Zeit in Frage gestanden. Und wenn wir nichts von unseren neuen Fähigkeiten erzählt haben, dann nur, um Euch um so besser dienen zu können. Kommt, Frost. Wir wollen einmal mehr die sichere Niederlage abwenden, wie schon so oft.« Er grinste Owen und Hazel an. »Außerdem haben wir vier noch etwas zu erledigen, nicht wahr?« »Verdammt richtig«, erwiderte Hazel und schwenkte ihr Schwert hin und her wie eine Katze, deren Schwanz erwartungsvoll zuckte. »Vater…«, sagte Johana. »Es tut mir leid«, sagte Schwejksam. »Aber hier geht es um Pflichterfüllung. Und ich habe immer gewußt, was meine Pflicht ist.« »Verdammt noch mal, wir haben keine Zeit für all die großen Reden«, schnarrte Ruby Reise. »Wenn ich Schwertkämpfe und tödliche Spiele hätte sehen wollen, wäre ich in die Arena gegangen. Ich hätte einen bequemen Sitz und einen kalten Drink und eine große Tüte Popcorn in den Fingern und die Füße hoch gelegt. Wir tragen hier eine Rebellion aus, und dieser Mist hält uns nur von den wirklich wichtigen Dingen ab. Wie zum Beispiel Beute. Kopf hoch, Löwenstein . Giles hatte die richtige Idee.« Und mit diesen Worten riß sie den Disruptor hoch und feuerte auf die Löwenstein. Doch noch während Ruby zielte, rief Stelmach etwas Unverständliches und warf sich in die Schußlinie. Der Energiestrahl erwischte ihn hoch oben an der Brust, riß ihm den rechten Arm weg und verdampfte einen großen Teil seines Oberkörpers . Er stürzte vor dem Eisernen Thron zu Boden, wo er zitternd und stöhnend liegen blieb . Rasch waren Frost und Schwejksam an seiner Seite; doch der Sicherheitsoffizier lag im Sterben. Er streckte seine verbliebene Hand nach Schwejksam aus, und der Kapitän ergriff sie. »Ich wollte nie etwas anderes… als dienen«, sagte Kühnhold Stelmach. »Loyal sein… mein Leben für die Imperatorin geben.« »Niemand hat je an Eurer Loyalität gezweifelt«, sagte Schwejksam, doch er sagte es zu einem Toten. Sanft legte er Stelmachs Hand auf seine Brust und tätschelte sie zweimal, während er ihm Lebewohl wünschte. »Schade«, sagte Frost. »Er war ein guter Mann. Auf seine Weise.« »Ich bin überrascht, daß es Euch etwas ausmacht«, erwiderte Schwejksam. »Ich mochte ihn«, erklärte Frost. »Er war ein elender Feigling und ein Schwächling, und wahrscheinlich hat er insgeheim mit den Rebellen sympathisiert; aber er gab sein Bestes, um tapfer zu sein und immer das Richtige zu tun. Für unsereins ist es leicht, tapfer zu sein, mit all unserem Training und unseren Fähigkeiten . Stelmach hatte nichts davon, nur Durchhaltever-mögen . Und die Bereitschaft, für seine Imperatorin zu sterben.« »Und jetzt sind wir an der Reihe«, sagte Schwejksam. Er erhob sich, und Frost tat es ihm gleich. Zusammen traten sie vor den Thron. Schwejksam lächelte Johana zu, dann nickte er in Owens Richtung. »Laßt uns anfangen, Todtsteltzer.« Owen trat Schwejksam entgegen, und Hazel ging auf Frost zu. Owen hob lässig das Schwert. »Nach allem, was ich gehört habe, Kapitän, habt Ihr und Euer Investigator im Labyrinth des Wahnsinns Fähigkeiten erlangt, die ähnlich den unseren sind. Was bedeutet, daß wenn wir unsere Kräfte einsetzen, wir wahrscheinlich jeden in unserer Nähe umbringen würden und immer noch in einem Patt enden könnten. Was haltet Ihr also davon, wenn wir die Sache auf ehrenvolle Weise hinter uns bringen? Nur Schwert gegen Schwert. Wie klingt das in Euren Ohren?« »Höchst ehrenhaft«, antwortete Schwejksam. »Nichts anderes hatte ich von einem echten Todtsteltzer erwartet. Außerdem wollten wir beide schon immer wissen, wer von uns der Bessere ist, nicht wahr?« »Verdammt richtig«, brummte Frost. »Dann laßt uns endlich anfangen«, schnaubte Hazel. »Ein letzter Kampf. Als Menschen. Bevor wir vergessen, wie das ist.« Und so traten sie gegeneinander an, die letzten großen Champions des Imperiums und der Rebellion. Vier gute Leute, deren unterschiedliche Anschauungen unvereinbar waren, und die ihren Disput nur durch das Schwert entscheiden konnten. Owen und Schwejksam umkreisten einander langsam, und ihre Schwerter berührten sich nur leicht, während sie den Stil des jeweils anderen studierten und nach Schwächen und wunden Punkten suchten. Hazel und Frost gingen schnurstracks aufeinander los. Ihre Klingen krachten wuchtig aufeinander, und Hieb folgte auf Hieb, Parade auf Parade. Sie waren von einer Rivalität beseelt, die stärker war als Haß oder Wut. Owen und Schwejksam sprangen vor, parierten, wichen zu-rück, und beide kämpften kalt und berechnend. Sie strapazier-ten ihre Fähigkeiten und ihr Geschick bis zum äußersten, und beide waren durch harte, unbarmherzige Schulen gegangen. Ihre Klingen krachten gegeneinander, und Funken stoben durch die Luft. Keiner der beiden gab einen Zoll nach oder wich einen Schritt zurück. Ihre Schwerter flogen so schnell, daß das Auge kaum mithalten konnte . Sie waren getrieben von Refle-xen und einem Geschick, das schneller war als jeder menschliche Gedanke. Owen fiel nicht in den Zorn. Er dachte noch nicht einmal daran. Er wollte diesen Kampf auf faire Art gewinnen. Er kämpfte für eine ganze Reihe von Idealen, seine eigenen wie die der Rebellion, und entweder siegte er auf faire Weise, oder sein ganzes Leben war bedeutungslos geworden. Schwejksam legte seine gesamte Kraft und all seine Ge-schicklichkeit in jeden seiner Schläge, und trotzdem hatte er Mühe, den Angriffen des Todtsteltzers zu widerstehen. Der junge Rebell kämpfte, als sei sein Leben nicht länger von Bedeutung und als zähle nur der Sieg. Schwejksam bemühte sich, ebenso zu fühlen. Das gesamte Imperium hing jetzt von ihm ab. Alles, an das er jemals geglaubt und wofür er je gekämpft hatte. Alles, was seinem Leben jemals Sinn und Inhalt gegeben hatte. Doch am Ende war seine Überzeugung nicht so stark wie Owens, und vielleicht war das der Grund, warum sein Schwert am Ende einen Sekundenbruchteil langsamer war. Owen wischte seine Klinge beiseite, sprang vor und setzte die Schwertspitze an Schwejksams Hals. Lange Zeit standen die beiden Männer einfach nur einander gegenüber und atmeten schwer vor Anstrengung. »Ich kann Euch nicht töten«, sagte Owen schließlich. »Es wäre, als würde ich mich selbst töten. Ergebt Euch, Kapitän. Legt Euer Schwert nieder, und ich garantiere für Eure Sicherheit. Die Rebellion braucht Menschen wie Euch, um das Reich wieder zu errichten.« »Meine Loyalität…« »Gilt den Menschen im Imperium. Helft uns, das Beste daraus zu bewahren , damit wir es nicht zusammen mit all dem Schlechten über Bord werfen.« Kapitän Johan Schwejksam sah auf seine Imperatorin, dann auf die Hölle, in die sie ihren Hof verwandelt hatte. Langsam öffnete er die Hand, und sein Schwert polterte klappernd zu Boden. Owen senkte die Klinge. Sie verneigten sich respektvoll voreinander und drehten sich dann zu Hazel und Investigator Frost um. Die beiden Frauen hatten sich bis zur Erschöpfung duelliert, und jetzt standen sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber und rangen nach Luft, während die Schwerter in den kraftlos gewordenen Händen zitterten. Ihre Augen waren wild entschlossen wie zuvor; doch sie hatten sich gegenseitig über alle Maßen gefordert, und beide waren zu stolz, um ihre übernatürlichen Fähigkeiten einzusetzen. »Hör auf, Hazel«, sagte Owen. »Keine von euch beiden wird diesen Kampf gewinnen. Und keine von euch beiden wird nachgeben. Ihr seid zu gleichwertig. Laßt voneinander ab, und wir machen mit dem weiter, weswegen wir hergekommen sind.« Hazel dachte über Owens Worte nach. Sie legte die Stirn in Falten, und Schweiß rann über ihre Schläfen. »Ach, zur Hölle«, sagte sie schließlich. »Wir können es ja später noch einmal versuchen, wenn wir mehr Zeit haben. Was sagst du dazu, Investigator? Ich höre auf, wenn du auch aufhörst.« »Niemals«, erwiderte Frost. »Ich bin Investigator. Das Imperium hat mich zu dem gemacht, was ich bin . Ich werde niemals aufgeben und niemals weichen . Tötet mich, wenn Ihr könnt, Rebellin!« »Es muß nicht so enden«, sagte Owen. »Doch, es muß!« fauchte Frost. »Das ist mein Leben. Mein Sinn. Meine Bestimmung. Ich werde niemals aufgeben. Ich kann einfach nicht. Tötet mich, wenn Ihr könnt.« Hazel senkte das Schwert. »Ich kann nicht. Nicht so jedenfalls.« »Aber ich«, sagte Kit Sommer-Eiland, und mit einer Bewegung, die so schnell war, daß niemand zu reagieren vermochte, bevor es zu spät war, zog er einen verborgenen Dolch und schleuderte ihn mit aller Kraft. Frost hatte sich bei seinen Worten zu ihm umgedreht, und das Messer traf sie an der Kehle. Ein dicker Blutschwall schoß aus der Wunde und floß in Strömen über ihre Brust. Frost ließ das Schwert fallen und umklammerte mit beiden Händen ihren Hals. Blut quoll zwischen ihren Fingern hervor. Sie wollte das Messer herausziehen und setzte sich dann plötzlich, als sämtliche Kraft aus ihr wich. Mit einem Satz war Schwejksam an ihrer Seite und hielt sie in den Armen. Sie zitterte unkontrolliert, und er drückte sie an sich. Frost wirkte schockiert und verwirrt, als könne sie nicht glauben, was mit ihr geschehen war. »Wie dumm, auf diese Weise zu sterben«, murmelte sie mit schwerer Stimme. Ein feiner roter Nebel von Blut sprühte aus ihrem Mund. »Mir ist kalt. So kalt.« »Ich bin bei dir«, sagte Schwejksam. »Ich bin bei dir.« »Ich hätte nie gedacht… daß es eines Tages so enden wür-de.« »Still«, sagte Schwejksam. »Spar deine Kräfte, bis wir einen Arzt herbeigeschafft haben.« »Nein«, widersprach Frost. »Wir haben uns niemals belogen, Kapitän. Fangt nicht jetzt damit an.« »Dann heile dich selbst! Ich habe es auch getan.« »Zu spät, Kapitän. Dazu ist es viel zu spät.« »Du warst ein guter Soldat«, sagte Schwejksam mit brechender Stimme. »Der beste, den ich je kannte, bis zum Ende.« »Selbstverständlich. Ich bin Investigator. Johan…« »Ja?« fragte Schwejksam, doch dann entwich ihr ein letzter Seufzer, und sie atmete nicht mehr. Schwejksam drückte sie an sich. »Guter Soldat. So ein guter Soldat.« Irgendwann ließ er sie los und erhob sich wieder. Seine Uniform war voll von ihrem Blut. Er sah den Sommer-Eiland an, der seinen Blick grinsend erwiderte . »Warum?« fragte Schwejksam. »Warum ausgerechnet sie und nicht ich?« »Ihr habt meinen David getötet«, antwortete Kit. »Jetzt wißt Ihr, was ich gefühlt habe. Wollt Ihr vielleicht versuchen, mich zu töten, alter Mann?« »Nicht jetzt«, sagte Schwejksam. »Es hat genug Blutvergießen gegeben. Außerdem hätte sie niemals aufgegeben. Bleibt mir einfach eine Weile aus den Augen, Killer.« Er drehte sich zu Owen und Hazel um, als wüßte er nicht, was er als nächstes tun sollte. Stelmach und Frost waren tot, und er hatte sich von seiner Imperatorin losgesagt. Es schien unmöglich, daß sein gesamtes Leben in so kurzer Zeit so gründlich zerstört worden war. »Es tut mir leid wegen Investigator Frost«, sagte Owen. »Manchmal ist es unmöglich, daß alle gewinnen.« »Du hast sie geliebt, nicht wahr, Kapitän?« fragte Hazel. »Hast du es ihr je gesagt?« »Sie hätte nicht gewußt, was sie mir darauf antworten soll«, antwortete Schwejksam. »Sie war ein Investigator.« Es gab nichts mehr zu sagen, und so wandten sich alle wieder einmal zur Löwenstein auf ihrem Eisernen Thron um. Sie funkelte die Rebellen herausfordernd an. All ihre Champions waren tot oder besiegt; aber sie gab sich immer noch nicht geschlagen. Es war ein vollkommener Augenblick der Konfrontation, und er schien sich endlos hinzuziehen. In der Hölle war es sehr still geworden. Die Engelswachen waren tot; die Jungfrauen waren wieder zu Menschen geworden, und selbst die holographischen Illusionen rührten sich nicht mehr, als warteten sie gespannt auf das, was als nächstes geschehen würde. Owen trat langsam vor, bis er allein am Fuß des Eisernen Throns stand. Er hatte einen weiten Weg hinter sich, bis er an diesem Ort angekommen war. Jetzt stand er der Frau gegenüber, die sein Leben zerstört und ihm alles genommen hatte, was er je besessen oder geliebt hatte. Wegen ihr war er durch das Imperium geirrt, ständig auf der Flucht vor den Bluthunden auf seinen Fersen, und hatte sich seines Lebens nicht mehr sicher gefühlt. Und wegen ihr war er zu etwas geworden, von dem er immer noch nicht sicher war, ob er es guthieß – die Art von Mann, die er nach dem Willen seiner Familie schon immer hatte werden sollen, ein Kämpfer und Krieger . Und doch – jedesmal, wenn er schwankte, mußte er nichts weiter tun als sich das Bild des jungen Mädchens ins Gedächtnis zu rufen, das verkrüppelt von Owens Schwert im niedergetrampelten Schnee von Nebelhafen in seinem eigenen Blut gelegen und hilflos vor sich hin geweint hatte, bis Owen ihm den Gnadenstoß versetzt hatte. Es war Zeit, das alles zu beenden. Jetzt. Er nickte der Imperatorin beinahe vertraulich zu. »Es ist vorbei, Löwenstein. Zeit zu gehen. Steht auf von Eurem Thron.« »Nein!« rief Giles. »Noch nicht. Es ist nicht eher vorbei, als bis ich es sage. Geh weg vom Thron, Owen. Das ist nicht dein Augenblick, sondern meiner.« Alle drehten sich nach dem ursprünglichen Todtsteltzer um. Der alte Krieger in seinen Barbarenfellen, der legendäre Held aus weit zurückliegenden Jahrhunderten, stand gelassen ein wenig abseits von den anderen und hielt das Schwert in der Hand. Er lächelte sie an, und irgend etwas in seinem Lächeln ließ sie erschauern. Giles hob die Klinge und führte sie zum Ansatz seines Söldnerzopfes. Er säbelte mit Leichtigkeit durch das dicke Haar und hielt den Zopf einen Augenblick lang nachdenklich in der Hand, bevor er ihn achtlos zur Seite warf. »Das war’s«, sagte er ruhig. »Nie mehr Söldner. Nie mehr für die Ideale anderer kämpfen. Endlich bin ich wieder mein eigener Herr. Ich bin wieder der Todtsteltzer, und ich werde die Krone ergreifen. Genau so, wie es immer geplant war. Ich werde der Imperator sein und die Dinge wieder richten. Ich bin der einzige, der weiß, was getan werden muß, um das Imperium wieder zu dem zu machen, was es einmal war. Ich kann es wieder stark machen, bevor die Fremdwesen oder die Hadenmänner oder Shub sich gegen uns erheben und die Menschheit vernichten können. Die Menschen werden mir folgen. Sie hatten schon immer eine Schwäche für Helden und Legenden. Ich werde das alte Imperium wiedererstehen lassen, genau so, wie es vor tausend Jahren war, bevor die Fäulnis sich ausgebreitet hat. Keine Klone und keine Esper und keine anderen geneti-schen Abarten mehr. Das Imperium war stets als ein Imperium der Menschen gedacht, und nichts anderes.« Er lächelte Owen väterlich zu. »Es war mir immer vorherbe-stimmt, Owen. Ich wußte damals, vor 943 Jahren, als ich in Stasis ging, daß ich langfristig planen mußte. Ich mußte aus der Zeit verschwinden, so daß ich mit meiner Rückkehr warten konnte, bis die Dinge sich wieder zu meinen Gunsten gewandelt hatten. Und die ganze Zeit über beobachteten die Monitore in meiner Festung die Ereignisse und hielten ständigen Kontakt mit meinem Clan. Sie planten und intrigierten und formten die Ereignisse nach meinem Willen und bereiteten alles auf meine Rückkehr vor. Dein Vater war mein letzter Kontakt, Owen. Er war ein äußerst geschickter Agent. Er brachte die abschließenden Vorbereitungen ins Rollen: Er unterstützte die Rebellen auf der Nebelwelt, gründete das Abraxus-Informationszentrum und plante bereits eine Reise nach Shandrakor, um mich zu wekken. Doch da beging er einen Fehler und lenkte im falschen Augenblick die Aufmerksamkeit auf sich, und die Imperatorin schickte ihren Mörder Kid Death, um den Intrigen deines Vaters ein für allemal ein Ende zu bereiten. Es war ein schwerer Rückschlag. Dein Vater hatte immer die bevorstehende Rebellion führen sollen. Er war ein Krieger und ein Politiker zugleich, und er trug den legendären Namen der Todtsteltzer. Die Menschen wären ihm gefolgt, während er sie auf meine Rückkehr vorbereitet hätte. Doch dann war er nicht mehr, und mir blieb keine andere Wahl, als ihn durch dich zu ersetzen, den schwächlichen Historiker, der niemals ein Krieger werden wollte, wie es sein Erbe von ihm verlangte. Wer den Stahl zu einer guten Klinge schmieden will, muß ihn halb zu Tode prügeln und anschließend bis fast zur Zerstörung ziehen. Und so schmiedete ich dich, Owen. Es war nicht weiter schwierig. Einige meiner Agenten überzeugten die Löwenstein, dich zum Geächteten zu erklären und damit auf den Pfad zu setzen, der dich am Ende zu mir führen würde. Das Labyrinth des Wahnsinns… es machte die Dinge komplizierter. Ich hatte niemals vor, Euch mit hineinzunehmen. Ich wollte allein hindurchgehen und die Kräfte gewinnen, die es versprach; doch unter dem Druck der Ereignisse blieb mir keine andere Wahl, als dich und deine Begleiter ebenfalls mitzunehmen. Es war nie geplant, euch mit übermenschlichen Kräften auszustatten wie mich. Aber du hast dich wacker geschlagen, Verwandter. Ich habe dich gegen deinen Willen zu einem Kämpfer gemacht, und du bist eine Zierde für den Namen meiner Familie. Doch jetzt, Verwandter, ist es an der Zeit, daß du zur Seite trittst und mir den Vortritt läßt. Die Krone war nie für dich gedacht, Junge. Dies ist der Augenblick meines Schicksals. Meiner Bestimmung. Ich werde der neue Imperator sein, genau so, wie es von Anfang an geplant war.« Owen starrte seinen Vorfahren entgeistert an, und nach einer ganzen Weile des Schweigens schüttelte er den Kopf. »Zur Hölle damit! Ich bin doch nicht so weit gekommen und habe soviel Blut vergossen, nur damit ein Tyrann durch den nächsten abgelöst wird! Selbst dann nicht, wenn er zu meiner Familie gehört. Leg das Schwert nieder, Giles. Es ist zu spät. Deine Zeit ist vorbei. Wir erledigen die Dinge heutzutage ein wenig anders. Die Rebellion ist aus der Untergrundbewegung der Esper und Klone gewachsen und nicht aus deinen Intrigen und deiner Einmischung. Wir haben genug von den Familien und irgendwelchen Imperatoren. Es ist an der Zeit für… für etwas Neues.« Giles rückte langsam gegen Owen vor, der jetzt warnend das Schwert hob. Giles blieb stehen. »Tu das nicht, Junge. Bring mich nicht dazu, dich zu töten.« »Du würdest mich nicht töten«, entgegnete Owen. »Nicht dein eigenes Blut. Ich bin der letzte deiner Nachfahren. Der letzte Todtsteltzer.« »Ich kann jederzeit eine neue Blutlinie gründen«, erwiderte Giles gelassen. »Ich habe dir niemals Reichtümer, Ruhm oder einen leichten Tod versprochen, Owen. Nur die Chance, eine Legende zu werden. Und ob diese Legende lebt oder tot ist, liegt ganz allein an dir. Ich… ich mag dich, Owen. Auf meine Weise. Du bist der letzte meiner ursprünglichen Blutlinie und mein Kind. In jeder Hinsicht, die zählt. Trotzdem, komm mir nicht in die Quere, Junge. Ich habe… schreckliche Dinge getan. Entsetzliche Dinge. Ich erschuf den Dunkelzonen-Projektor und brachte Tausend Sonnen zum Erlöschen. Dies ist meine Gelegenheit, die Dinge wieder zu richten und alles wiedergutzumachen. Versuch nicht, mich daran zu hindern. Du bist einen weiten Weg gegangen und hast dich wacker geschlagen, hast stets das Richtige zu tun versucht und den Familien-namen in Ehren gehalten. Ich liebe dich, Owen.« »Das ist mir scheißegal!« rief Owen und führte einen beid-händigen Streich gegen Giles’ Hals. Das Schwert des ursprünglichen Todtsteltzers schoß hoch und parierte Owens Schlag. Funken stoben, als die Klingen gegeneinander klirrten. Einen Augenblick später umkreisten sie einander, musterten sich aus eng zusammengekniffenen Augen und suchten nach Schwachstellen im Schwertspiel des Gegenübers. Alle anderen hielten sich zurück. Sie wußten, daß es eine persönliche Angelegenheit war. Trotzdem hielt Hazel ihren Disruptor neben sich, auf den Boden gerichtet. Sie wußte, daß Owen ihr niemals verzeihen würde, falls sie in den Kampf eingreifen sollte; doch sie hatte bereits entschieden, daß sie Giles im gleichen Augenblick in den Kopf schießen würde, da Owen verlor und starb. Zur Hölle mit den verdammten Konsequenzen. Beide Todtsteltzer hätten ihre übernatürlichen Fähigkeiten einsetzen können, doch sie verzichteten darauf. Das hier war eine Familienangelegenheit. Sie sprangen und parierten, Schwerter blitzten hierhin und dorthin, und sie waren sich überraschend ebenbürtig. Giles war der erste Oberste Krieger des Imperiums gewesen, der beste Schwertkämpfer seiner Zeit, aber wie er selbst bereits festgestellt hatte: Owen hatte einen langen Weg hinter sich. Der einstige weltfremde Historiker und Gelehrte war von einer Schlacht in die andere getaumelt und hatte seine Fähigkeiten ununterbrochen verfeinert, bis er Stück für Stück der gleiche legendäre Schwertkämpfer geworden war wie sein Urahn. Aber das war schließlich auch sein Erbe gewesen. Beide Männer kämpften mit äußerster Entschlossenheit, und beide benutzten die übermenschlichen Kräfte des Todtsteltzer-Zorns und noch viel mehr, ohne daß es ihnen bewußt geworden wäre . Und so kämpften sie weiter, hieben und stachen aufeinander ein und fügten sich eine Wunde nach der anderen zu, und keiner war imstande, den anderen so schwer zu treffen, daß der Kampf entschieden worden wäre. Beide wurden müde und sichtlich langsamer, als selbst ihre gewaltigen Kräfte nachzulassen begannen. Und zum ersten Mal dämmerte es Giles, daß er möglicherweise nicht als Sieger aus diesem Kampf hervor-gehen würde. So wie Owen hatte ihn seit seinen Tagen als Oberster Krieger niemand mehr gefordert. Durchaus möglich, daß er gegen seinen Nachfahren verlor. Doch der Gedanke war unerträglich, und er verdrängte ihn mit aller Macht. Giles hatte nicht 943 Jahre lang gewartet, um sich so dicht vor dem Ziel von einem Parvenü von Nachfahren aufhalten zu lassen. Er verzog das Gesicht und griff nach innen, nach seinen Labyrinth-gegebenen Kräften. Er mußte nichts weiter tun, als hinter Owen teleportieren und ihn durchbohren, und der Kampf wäre vorbei. Ehre war unwichtig geworden. Es ging nur noch um den Sieg und den großen Plan. Aber sosehr Giles sich auch bemühte, er fand seine Fähigkeiten nicht. Sie waren blockiert, neutralisiert von Owens eigenen Kräften. Und irgendwie dämmerte es Giles allmählich, daß keiner von beiden seine Fähigkeiten gegen jemanden einsetzen konnte, der ebenfalls durch das Labyrinth des Wahnsinns gegangen war. Es war eine Art Sicherung, die das Labyrinth eingebaut hatte. Ihre Fähigkeiten traten nur dann zutage, wenn es absolut notwendig erschien. Giles’ Selbstvertrauen war erschüttert. Er hatte sich in zunehmendem Maße daran gewöhnt, sich auf seine Fähigkeiten zu verlassen und mit ihnen ein unschlagbares As im Ärmel zu haben. Er riß sich zusammen. Wenn er nicht auf diese Weise gewinnen konnte – nun, er kannte auch noch andere Mittel und Wege. Giles war nicht zu dem legendären Krieger geworden, ohne im Laufe der Zeit ein paar schmutzige Tricks zu lernen. Der Sommer-Eiland hatte genau die richtige Idee gehabt. Und genau wie der Sommer-Eiland, so besaß auch Giles einen versteckten Dolch. Er hatte Owen gegenüber nie davon gesprochen. Er hatte nie die Notwendigkeit gesehen. Und jetzt mußte er nur noch seinen Nachfahren möglichst dicht heran-locken und ihm den Dolch zwischen die Rippen schieben, während der Junge abgelenkt war. Ganz einfach. Owen würde nie erwarten, daß Giles den gleichen schmutzigen Trick anwenden würde wie Kid Death. Giles grinste. Und so manövrierte er Owen vorsichtig in ein Corps à Corps und ließ ihn glauben, daß es seine eigene Idee gewesen war, und mit einemmal standen sich die beiden Männer über ihren gekreuzten Klingen Auge in Auge gegenüber, so nah, daß sie den hechelnden Atem des anderen heiß auf der Haut spüren konnten. Beide schoben mit aller Kraft, mit in den Boden ge-stemmten Beinen, und keiner wollte einen Schritt weichen. Giles versuchte, mit seinem Blick die Aufmerksamkeit seines Nachfahren abzulenken, während er mit der freien Hand verstohlen nach dem Dolch griff. Er lächelte Owen an und stieß den Dolch nach oben, genau zwischen Owens Rippen… … und begegnete Owens goldener Hadenmann-Hand, die nach vorn gezuckt war, um den Dolch abzufangen. Die stählerne Klinge zerbrach an der goldenen Hand, und in diesem Augenblick erkannte Giles, daß Owen die ganze Zeit über nur auf einen solchen schmutzigen Trick seitens seines Vorfahren ge-lauert hatte. Er stolperte vor, verlor für einen Sekundenbruchteil das Gleichgewicht, und Owen stieß den Kopf mit aller Kraft in Giles’ Gesicht. Es gab ein knackendes Geräusch, als die Nase des ursprünglichen Todtsteltzers brach, und er taumelte blind vor Schmerz zurück. Blut strömte über seinen Mund. Und in diesem Augenblick der Konfusion war es für Owen die leichteste Sache der Welt, einen Schritt nach vorn zu tänzeln und seinen Vorfahren zu durchbohren. Sekundenlang starrten sie sich über Owens ausgestrecktes Schwert hinweg in die Augen. Giles’ Finger wurden taub, und sein Schwert polterte zu Boden. Er blickte auf die Klinge hinunter, die in seiner Brust steckte, doch er wollte nicht fallen. Owen fragte sich bereits, ob er dem Mann den Kopf abschlagen mußte, damit er endlich starb; doch dann knickten Giles’ Beine ein, und er fiel auf die Knie. Owen zog das Schwert heraus, und Giles kippt vornüber aufs Gesicht und lag still. Owen stand schwer atmend über seinem toten Vorfahren, und Hazel trat zu ihm und legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter. »Jetzt bin ich der letzte«, sagte Owen. »Es gab immer nur Giles, David und mich, und jetzt bin ich der einzige, der noch übrig ist. Der letzte Todtsteltzer.« »Wie äußerst rührend«, höhnte die Löwenstein auf ihrem Thron. Ihre Stimme klang brüchig, aber sie hatte sich noch unter Kontrolle. »So sehr Wir es auch genießen, Unseren Feinden dabei zuzusehen, wie sie sich vor Unseren Augen gegenseitig umbringen, so sehr denken Wir, daß es an der Zeit ist, diesem ganzen Unsinn ein Ende zu bereiten. Ist Euch eigentlich nie der Gedanke gekommen, daß Wir eine Situation wie diese vorhergesehen und entsprechende Vorkehrungen getroffen haben könnten? Wir haben eine Versicherung gegen Tage wie diesen, versteht Ihr? Eine kleine Kleinigkeit, die Wir beiseite geschafft haben… um genau zu sein, eine Planetenbombe, die tief im Erdmantel vergraben wurde, direkt neben der geother-mischen Spalte, die Unseren Palast mit Energie versorgt. Ja, Wir wissen, daß derartige Dinge seit Jahrhunderten geächtet sind, doch Wir haben Uns noch nie von derartigen Kleinigkeiten abschrecken lassen. Ein einfacher Aktivierungskode von Uns, und Golgatha zerplatzt zu einem Asteroidenhaufen. Und jetzt gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder, Ihr ergebt Euch bedingungslos, oder Wir werden diese kostbare Welt und Eure Rebellion mit Uns in die Hölle nehmen. Ihr habt die Wahl. Was ist wichtiger, Euer Sieg oder die Milliarden von Menschen, die zusammen mit Uns sterben werden?« Schwejksam blickte sie schockiert an. »Ihr würdet doch nicht die Heimatwelt der Menschheit zerstören!« Die Löwenstein grinste. »Bringt Uns in Versuchung!« Ruby sah zu Jakob. »Was glaubst du? Blufft sie oder nicht?« »Ich bezweifle es«, erwiderte Ohnesorg. »Immerhin gab einer ihrer Vorfahren den Befehl zum Einsatz des Dunkelzonen-748 Projektors. Sie ist verzweifelt und verrückt genug, um ihren Tod als Sieg zu betrachten. Wenn sie nicht mit den Spielsachen spielen darf, dann macht sie sie halt kaputt.« »Sie blufft nur«, sagte Kid Death. »Wenn Ihr es nicht macht, töte ich sie.« »Halt!« sagte Owen. »Wir müssen damit rechnen, daß die Bombe bei ihrem Tod hochgeht.« »Wir gut Er Uns doch kennt«, höhnte die Löwenstein. »Wir können nicht aufgeben«, sagte Hazel. »Nicht nach allem, was wir durchgemacht haben. Nicht, nachdem wir so dicht vor dem Ziel sind.« »Und was schlägst du vor?« erkundigte sich Owen. »Wir kommen nicht an die Bombe heran, und wir dürfen auf keinen Fall zulassen, daß Milliarden unschuldiger Menschen sterben.« »Mein Gott, Ihr laßt Euch aber wirklich leicht aus der Reserve locken«, sagte Johana Wahn. Ihr ESP erhob sich, und mit einemmal waren sie alle miteinander verbunden, und ihre Labyrinth-gegebenen Kräfte vermischten sich mit Johanas ESP zu einer weiß lodernden Flamme, die in allen Köpfen brannte. Ihr kollektives Bewußtsein sank durch den Boden der Hölle und schoß in die Tiefe. Johana führte den Weg, als sei sie dazu geboren. Tausende von Meilen rasten in Sekundenbruchteilen vorüber, und sie sanken durch die vielfältigen Schichten des Erdmantels auf die Bombe zu, die im Herzen der Welt verborgen lag. Die Planetenbombe war gut geschützt, doch die Rebellen konnte jetzt nichts mehr aufhalten. Sie deaktivierten die Bombe mit einem Gedankenimpuls, überprüften die Umgebung, um sicherzustellen, daß hier unten keine weiteren häßlichen Überraschungen mehr lauerten, und wendeten dem harmlos gewordenen Apparat den Rücken zu. Im nächsten Augenblick waren sie wieder am Hof der Löwenstein. »Meine Güte!« sagte Ruby. »Das war ein Trip!« »Tut mir leid, Euch enttäuschen zu müssen«, wandte sich Ohnesorg fröhlich an die Eiserne Hexe, »aber wir haben Eure Bombe soeben entschärft. Und bevor Ihr fragt: Es ist alles im Preis enthalten.« »Ihr Verräter!« kreischte die Löwenstein, nachdem sie die Aktivierungskodes ausgestrahlt hatte und nichts geschah. Sie sprang von ihrem Thron auf und riß sich die Kampfrüstung herunter, so daß ihre nackten Arme zum Vorschein kamen. Plötzlich schoben sich bis dahin verborgene Disruptorimplanta-te durch die Haut ihrer Arme, und sie eröffnete das Feuer auf die Rebellen. Sie warfen sich zur Seite, und Energiestrahlen zuckten durch die Luft, wo die Rebellen noch Sekundenbruchteile zuvor gestanden hatten. In Löwensteins Schultern und in ihrem Rippenkäfig wurden weitere tödliche Mündungen sichtbar, und aus ihren Händen glitten lange stählerne Klingen mit gezackten Schneiden. Selbstverständlich verfügt sie über Implantate, dachte Owen, während er auf den Boden prallte und sich abrollte. Eine Paranoide wie die Löwenstein bereitet sich auf jede Eventualität vor. Und sie kann sich das Beste vom Besten leisten. Er griff mit seinem Bewußtsein nach den anderen, und gemeinsam errichteten sie einen Schild zwischen sich und dem Thron. Sie hatten es schon einmal getan, damals auf der Wolflingswelt, und der Schild damals hatte der gesamten Feuerkraft einer Imperialen Pinasse auf allerkürzeste Distanz widerstan-den. Und so standen sie da, ohne Schaden zu nehmen, während die Löwenstein ihre Waffen gegen den Energieschirm leerte, bis sie nichts mehr hatte, was sie den Rebellen entgegenschleu-dern konnte. Sie schrie voller Wut und sprang von ihrem Thron; doch Owen griff mit der Macht der gesamten Gruppe nach ihr, packte psychokinetisch all ihre Implantate und riß sie aus ihrem Körper . Die Löwenstein schrie vor Schmerz, als ihr Fleisch aufbrach und die Implantate eines nach dem anderen zum Vorschein kamen und blutig auf den Boden polterten. Und dann fiel auch die Löwenstein selbst mit weit aufgerissenen, wilden Augen, und sie klammerte sich verzweifelt an die Lehne ihres Eisernen Throns. Sie atmete schwer, und nur der Schock schirmte sie vor dem ab, was ihrem Körper zugefügt worden war. Owen löste sich als erster aus der Vereinigung mit seinen Kameraden, und das Kollektivbewußtsein fiel auseinander. Langsam trat er zur Löwenstein. Sie schnarrte laut, als sie ihn sah. Die Imperatorin war tödlich verwundet und endgültig geschlagen, und noch immer weigerte sie sich beharrlich aufzugeben. »Ihr könnt Uns nicht töten, Todtsteltzer. Wir sind Eure Imperatorin.« »Ich würde Euch gerne töten, Löwenstein, nur allzu gerne«, erwiderte Owen langsam. »Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie gerne ich Euch töten würde. Für all die Dinge, die Ihr mir und Eurem Volk angetan habt. Für die Toten von Virimonde und für alle, die wegen Euch in ständiger Furcht und in Schmerzen lebten. Doch ich werde Euch nicht töten. Das ist Eure Art, mit den Dingen umzugehen, nicht meine. Ihr werdet vor Gericht gestellt, Löwenstein. Das Volk soll über Euch urteilen. Es ist sein Recht als Euer Opfer.« »Gut gemacht, Owen!« sagte Hazel und kam zu ihm. »Endlich hast du es kapiert.« Und dann erschienen ringsherum in der Luft die schwebenden Holoschirme wieder und schalteten sich selbständig ein. Auf jedem einzelnen Schirm erschien das Gesicht von Jung Jakob Ohnesorg, und er grinste fröhlich. Es schien ihm nicht das geringste auszumachen, daß er längst tot war. »Hallo alle zusammen«, sagte er gelassen. »Wir benutzen dieses Gesicht, weil ihr alle mit ihm vertraut seid. Und für diejenigen unter euch, die nicht auf dem laufenden sind: Ich spreche für die KIs von Shub. Es ist an der Zeit, daß ihr einige der Geheimnisse erfahrt, die wir so lange vor euch verborgen gehalten haben. Shub kontrolliert die Lektronenmatrix von Golgatha. Wir haben sie schon vor langer Zeit infiltriert und Kontakt mit den KIs aufgenommen, die sich spontan innerhalb der Matrix generierten. Wir benutzten sie, um uns Zugang zu den großen Wirt-schaftskonglomeraten zu verschaffen. Alles Teil unseres Planes, die Menschheit durch ihre eigene Technologie zu kontrollieren. Auf diese Weise hielten wir nicht nur sämtliche lebenswichtigen Wirtschaftsinformationen in unseren Händen die wir im übrigen zu unserem eigenen Vorteil und Vergnügen nach Belieben manipulierten –, sondern wir konnten auch jedes menschliche Bewußtsein zerstören, das die Matrix betrat. Wir okkupierten die leeren Körper und schickten sie als unsere Spione aus. Sie waren noch besser und schwerer zu entdecken als unser Furien. Was fühlt ihr bei dem Gedanken, daß wir mitten unter euch wandeln, ohne daß ihr Verdacht schöpft? Sogar Leute, die ihr gekannt habt. Wir sind überall. Ihr könnt niemandem mehr vertrauen heutzutage. Aber ich bin nicht gekommen, um mit euch zu plaudern. Liebste Löwenstein, du hast schon besser ausgesehen. Wir können dich noch immer vor deinen Feinden retten. Bei uns auf Shub hättest du ein Zuhause, wenn du es möchtest. Sicher, wir müssen deinen Körper zurücklassen, aber so ein Körper ist sowieso nur ein Hindernis. Öffne uns dein Bewußtsein über dein Komm-Implantat, und wir erledigen den Rest. Komm nach Shub. Bei uns wirst du ewig leben. Du mußt dein Menschsein aufgeben, aber du wirst ewig leben.« »Alles für meine Rache!« rief die Löwenstein und öffnete ihr Komm-Implantat. Von irgendwoher außerhalb drang etwas in ihr Bewußtsein ein und riß es aus ihrem Leib. Ihr Verstand raste hoch und hinaus und ließ Golgatha und menschliche Sorgen und Ängste und all die mit dem Menschsein verbundenen Beschränkungen weit hinter sich. Auf den Holoschirmen wich Jung Jakob Ohnesorgs Gesicht dem der Löwenstein. Sie lachte triumphierend, und dann war sie verschwunden, und die Holoschirme erloschen wieder. Eine Weile herrschte am Hof Totenstille. Die Rebellen traten langsam vor und sahen auf Löwensteins toten Körper hinab, der ausgeblutet und zerrissen vor dem Eisernen Thron lag. Der Körper atmete noch. Die Rebellen sahen sich an, und dann beugte sich Kit Sommer-Eiland vor und schnitt Löwensteins Überresten den Kopf ab. »Für dich, David«, sagte er leise. Dann richtete er sich auf und hielt den Kopf der Imperatorin an den Haaren hoch, damit die anderen ihn sehen konnten. »Nur für den Fall. Außerdem wollen wir dem Volk sicher etwas vorzeigen können. Sie sollen ruhig glauben, die Löwenstein wäre tot und Geschichte. Es ist besser so.« »Äh, Entschuldigung«, sagte Tobias Shreck aus dem Hintergrund. Die anderen hatten ihn und seinen Kameramann Flynn völlig vergessen. »Aber das ist alles live durch Flynns Kamera gegangen, oder habt Ihr das vergessen? Das gesamte Imperium hat uns zugesehen.« »Richtig«, bestätigte Flynn. »Ich habe ein paar großartige Nahaufnahmen gemacht.« »Auch gut«, sagte Jakob Ohnesorg. »Dann weiß das Volk jetzt wenigstens, was für eine Kreatur es als Herrscherin gehabt hat.« Owen schüttelte den Kopf. »Wunderbar! Noch mehr Probleme. Euch ist doch klar, daß wir die Kyberratten zum Reinema-chen in die Matrix schicken müssen, bevor wir sie benutzen können? Vorausgesetzt natürlich, sie sind tatsächlich so gut, wie sie immer behaupten.« »Und was ist mit den KIs in Menschengestalt?« fragte Ruby. »Das ist ein höllisch erschreckender Gedanke. Und sie sagten, wir würden einige von ihnen kennen!« »Wahrscheinlich nur, um uns zu verunsichern«, knurrte Hazel. »Würdest du Geld darauf wetten?« erwiderte Ruby. »Gleichgültig, was nun stimmt – die Schwierigkeiten sind längst noch nicht vorbei, nur weil die Löwenstein nicht mehr auf ihrem Eisernen Thron sitzt«, sagte Jakob Ohnesorg. »Habe ich recht, Owen? Owen!« Alle drehten sich nach Owen um, der am Fuß des Eisernen Throns stand. Löwensteins Diamantenkrone war heruntergefal-len, als Kit Sommer-Eiland den Kopf von ihrem unbeseelten Körper abgeschnitten hatte, und jetzt lag sie direkt vor Owens Füßen. Er starrte auf sie hinunter, und sie schien sein gesamtes Sichtfeld auszufüllen. Die Krone, die über das Imperium herrschte. Owen stand dort, im verlassenen Imperialen Hof, und Blut tropfte von seiner Klinge. Er war am Ende seiner Reise angekommen, und was hatte er vorzuweisen? Er konnte die Krone aufheben, sie auf seinen Kopf setzen und sich zum Imperator erklären. Er konnte es tun. Er war der letzte Todtsteltzer, und er war bereits zu Lebzeiten genauso eine Legende wie sein toter Urahn. Held der Rebellion, Erlöser der Verlorenen Welt Haden, Retter der Nebelwelt. Eine fast beliebige Anzahl von Menschen und Ideologien würden ihm folgen und ihn aus den unterschiedlichsten Gründen unterstützen. Owen konnte sich zum Imperator machen. Vielleicht würde er ein paar seiner alten Gefährten einsperren oder gar töten und ein paar Ideale aufgeben müssen; aber er könnte über das Imperium herrschen. Er könnte die Dinge in Ordnung bringen und nach seinen Vorstellungen formen. Owen bückte sich und griff nach der Krone. »Und?« sagte Hazel leise an seiner Seite . »Willst du sie?« Owen wog die Krone in den Händen; dann ließ er sie wieder fallen . »Nein . Sie ist mir zu schwer.« »Du hast ein legitimes Recht darauf, Owen«, sagte Ohnesorg vorsichtig. »Nein!« wiederholte Owen. »Ich war in Versuchung, aber nur für einen kurzen Augenblick. Ich wollte nie Herrscher sein, genausowenig , wie ich ein Krieger sein wollte. Vielleicht kann ich ja , wenn jetzt alles vorbei ist , endlich wieder ein Historiker und Gelehrter sein, der für nichts und niemanden wichtig ist außer für sich selbst. Das ist alles, was ich mir je gewünscht habe.« Er sah zum Eisernen Thron. »Keine Krone mehr. Kein Thron. Es macht die Menschen korrupt und weckt das Böse in ihnen. Selbst in guten Menschen wie Giles.« Er ballte die Fäuste und starrte den Thron an, und das schwere eiserne Möbel knackte und brach in der Mitte auseinander. Dunkle Trümmer fielen zu beiden Seiten herunter. »Kein Thron mehr. Keine Herrscher mehr. Es ist Zeit, daß wir uns selbst regieren.« »Gut gesagt, Owen!« lobte Jakob Ohnesorg. Der legendäre Rebell trat vor und klopfte Owen auf die Schulter. »Doch es ist noch nicht vorbei, weder für dich noch für mich. Die Fremdwesen lauern noch immer irgendwo dort draußen. Und Shub. Irgend jemand muß das Imperium wieder in Ordnung bringen und die Menschheit stark machen. Man wird uns jetzt mehr brauchen denn je zuvor.« »Wißt ihr eigentlich, daß wir nie darüber gesprochen haben, durch welches System wir das Imperium ersetzen wollen?« fragte Hazel. »Unsere Rebellion hat eine Menge Leute vereint, die keinerlei Gemeinsamkeiten besaßen außer ihrem Wunsch, die Löwenstein zu stürzen. Ich kann mir vorstellen, daß es eine Menge Streits und Auseinandersetzungen geben wird.« »Gut so«, sagte Jakob Ohnesorg. »Gesunder Streit ist ein Eckpfeiler der Demokratie.« »Und wenn uns nicht gefällt, was sie sagen, können wir ihnen immer noch in die Hintern treten«, grinste Ruby Reise. Jakob Ohnesorg funkelte sie an. Ruby hob eine Augenbraue. »Ist was?« »Das ist ein Problem, um das wir uns morgen kümmern«, beschloß Owen. »Heute feiern wir erst einmal unseren Sieg. Wir haben genug dafür bezahlt, in Blut und mit dem Verlust von Freunden und Angehörigen.« »Aber ein paar von uns sind immer noch da, Owen«, sagte Hazel. »Ganz recht«, antwortete Owen. Und dann nahm er Hazel in die Arme und wollte sie küssen; aber Hazel schob ihn von sich weg. »Bilde dir nur keine Schwachheiten ein, Bursche«, sagte sie. Und dann erwiderte sie seinen Kuß. »Geh so nah dran, wie du nur kannst!« flüsterte Tobias seinem Kameramann Flynn zu. »So ein Happy-End hat doch was Bewegendes , oder nicht?«